Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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382 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE beobachten, da das erreichte Ausmaß der Reflexivität, die zunehmende Stärke der Nebenfolgen der Modernisierung, ein erhebliches Potential an systemkritischen Reflexionen impliziert, die immer häufiger nur aktiv begrenzt werden können. Aktive, reaktiv-situative Deflexion beruht auf den selben Instrumenten wie die passive Deflexion, fußt also auf Ideologien und Praxologien (siehe unten), nur daß sie diese bewußt einsetzt. Sie ist allerdings – stärker als passive Deflexion – ambivalent. Jede aktive Deflexionsbemühung birgt nämlich die Gefahr, daß die Deflexions- versuche reflektiert und somit in ihr Gegenteil verkehrt werden: Statt die reflexiven Impulse zu schwächen, verstärken sie diese. Dieser hier verwendete Deflexionsbegriff beinhaltet, wie auch der Reflexionsbegriff, eine klare normative Komponente: Deflexion bedeutet, um es nochmals zu betonen, nicht nur die Überdeckung von Reflexivität und die Ablenkung von Reflexionen. Die Rede von der Deflexion impliziert über diese eher deskriptive Ebene hinausgehend, die Auffassung, daß im Bemühen um +Ablenkung* von reflexiven Herausforderungen ein Moment der Unaufrichtig- keit, des +mauvaise foi* (Sartre) zum Tragen kommt. Die innere und äußere Ambivalenz des Seins wird nicht zugelassen und gespiegelt, sondern mittels Ideologien und Praxologien verspie- gelt. Der Deflexionsbegriff und der kritisch erweiterte Reflexionsbegriff sind dabei die notwendige (und auf der begrifflichen Ebene bisher fehlende) Klammern zwischen der Bewußtseinsebene und der von ihr meines Erachtens nicht zu trennenden Handlungsebene. Denn obwohl z.B. im marxistischen Diskurs die zentrale Rolle der Praxis herausgestellt wird, konzentrierte sich die marxistische Kritik (wie auch ihre Weiterführungen) – neben ihrem Hinweis auf die faktischen Defizite der sozialen Realität – zumeist auf die ideologische Ebene und besitzt keinen adäquaten kritischen Parallelbegriff zum Ideologiebegriff auf der Handlungsebene. Einen solchen kritischen Parallelbegriff zum Ideologiebegriff auf der Handlungsebene stellt der Praxologiebegriff dar (auf den im Vorangegangenen ja bereits ausgiebig rekurriert wurde): Kann man unter Ideologie, in Anlehnung an den marxistischen Diskurs, ein (notwendig) +falsches* Bewußtsein verstehen (siehe auch unten), so bedeutet Praxologie analog ein notwendig +falsches* Sein, das sich der erlebten Wirklichkeit nicht öffnet, sondern sich vor ihr handelnd verschließt. Beide, Ideologie und Praxologie, stellen dabei in einen untrennbaren – dialektischen – Zusam- menhang dar: Ideologien setzen auf Praxologien auf, und Praxologien beruhen ihrerseits auf Ideologien. Verbunden ergibt sich ein deflexiver Komplex von Handeln und Bewußtsein, der reflexives Bewußtsein absperrt, um reflexive Praktiken zu unterbinden und zu unterminieren.
KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 383 Tabelle 13: Ebenen von Reflexion und Deflexion Dialektik Reflexion: Deflexion: Bewußtseinsebene: Theorie Ideologie Handlungsebene: Praxis Praxologie Der Deflexion steht – ebenfalls dialektisch – ein reflexiver Komplex gegenüber, der aus Theorie (als der reflexiven gedanklichen Spiegelung des Seins) und Praxis (als +handelnder Reflexion*) gebildet wird. Während also auf der Seite der Reflexion Theorie und Praxis zusammenwirken, finden sich auf der Seite der Deflexion Ideologie und Praxologie als ihre deflektorischen Ent- sprechungen (siehe Tab. 13). 102 Diese Deflexionsseite des (doppelt) dialektischen Feldes – das (politikbezogen) in Abschnitt 5.4 noch einmal näher ins Blickfeld gerückt werden wird – soll im folgenden sowohl auf der Bewußtseinsebene wie auch auf der Handlungsebene untersucht werden, um darzustellen und theoretisch zu begründen, weshalb reflexive Prozesse in der sozialen +Realität* häufig begrenzt bleiben. Die Differenzierung zwischen der Reflexions- und der Deflexionsseite geschieht dabei in einem kritisch-hermeneutischen Analysebestreben, das sich der +Subjektivität* seiner Zuordnungen bewußt ist (siehe auch nochmals S. 323), und dabei auf die +Reaktivität*, die von Giddens herausgestellte +doppelte Hermeneutik der Sozialwissenschaften* baut (siehe S. 317). In diesem allgemeinen Rahmen wird meine Argumentation auf der Annahme beruhen, daß insbesondere aktive Deflexion primär vom +System* ausgeht, da in institutionalisierten, strukturierten Handlungszusammenhängen, als die ich Systeme begreife (siehe auch Anmerkung 5, Kap. 2), eher als in weniger stark +institutionalisierten* Kontexten ein Interesse am Struktur- erhalt (und damit an Deflexion) besteht – weil die bestehenden Strukturen eng mit individuellen Interessen der Systemakteure verknüpft sind. Allerdings können Reflexionen, die die eigenen Grundlagen hinterfragen, in Einzelfällen durchaus von der Systemseite ausgelöst und initiiert werden. Schließlich sind die kognitiven Ressourcen zur Identifizierung von Problemlagen durch Spezialisierung und Vernetzung in Systemzusammenhängen größer als +außerhalb*. Die ästhetisch-hermeneutischen, auf der Fähigkeit zu +einfühlender* Interpretation beruhenden Reflexionsressourcen – als notwendige Basis für praktische Reflexionen – sind jedoch im struktu- rierten Kontext des Systems aufgrund des hohen Abstraktionsgrades und der funktionalistischen
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KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 383<br />
Tabelle 13: Ebenen von Reflexion und Deflexion<br />
Dialektik Reflexion: Deflexion:<br />
Bewußtse<strong>in</strong>sebene: Theorie Ideologie<br />
Handlungsebene: Praxis Praxologie<br />
Der Deflexion steht – ebenfalls dialektisch – e<strong>in</strong> reflexiver Komplex gegenüber, <strong>der</strong> aus Theorie<br />
(als <strong>der</strong> reflexiven gedanklichen Spiegelung des Se<strong>in</strong>s) und Praxis (als +handeln<strong>der</strong> Reflexion*)<br />
gebildet wird. Während also auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Reflexion Theorie und Praxis zusammenwirken,<br />
f<strong>in</strong>den sich auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Deflexion Ideologie und Praxologie als ihre deflektorischen Ent-<br />
sprechungen (siehe Tab. 13). 102<br />
Diese Deflexionsseite des (doppelt) dialektischen Feldes – das (politikbezogen) <strong>in</strong> Abschnitt<br />
5.4 noch e<strong>in</strong>mal näher <strong>in</strong>s Blickfeld gerückt werden wird – soll im folgenden sowohl auf<br />
<strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene wie auch auf <strong>der</strong> Handlungsebene untersucht werden, um darzustellen<br />
und theoretisch zu begründen, weshalb reflexive Prozesse <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen +Realität* häufig<br />
begrenzt bleiben. Die Differenzierung zwischen <strong>der</strong> Reflexions- und <strong>der</strong> Deflexionsseite geschieht<br />
dabei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kritisch-hermeneutischen Analysebestreben, das sich <strong>der</strong> +Subjektivität* se<strong>in</strong>er<br />
Zuordnungen bewußt ist (siehe auch nochmals S. 323), und dabei auf die +Reaktivität*, die<br />
von Giddens herausgestellte +doppelte Hermeneutik <strong>der</strong> Sozialwissenschaften* baut (siehe<br />
S. 317). In diesem allgeme<strong>in</strong>en Rahmen wird me<strong>in</strong>e Argumentation auf <strong>der</strong> Annahme beruhen,<br />
daß <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e aktive Deflexion primär vom +System* ausgeht, da <strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten,<br />
strukturierten Handlungszusammenhängen, als die ich Systeme begreife (siehe auch Anmerkung<br />
5, Kap. 2), eher als <strong>in</strong> weniger stark +<strong>in</strong>stitutionalisierten* Kontexten e<strong>in</strong> Interesse am Struktur-<br />
erhalt (und damit an Deflexion) besteht – weil die bestehenden Strukturen eng mit <strong>in</strong>dividuellen<br />
Interessen <strong>der</strong> Systemakteure verknüpft s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs können Reflexionen, die die eigenen<br />
Grundlagen h<strong>in</strong>terfragen, <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen durchaus von <strong>der</strong> Systemseite ausgelöst und <strong>in</strong>itiiert<br />
werden. Schließlich s<strong>in</strong>d die kognitiven Ressourcen zur Identifizierung von Problemlagen<br />
durch Spezialisierung und Vernetzung <strong>in</strong> Systemzusammenhängen größer als +außerhalb*.<br />
Die ästhetisch-hermeneutischen, auf <strong>der</strong> Fähigkeit zu +e<strong>in</strong>fühlen<strong>der</strong>* Interpretation beruhenden<br />
Reflexionsressourcen – als notwendige Basis für praktische Reflexionen – s<strong>in</strong>d jedoch im struktu-<br />
rierten Kontext des Systems aufgrund des hohen Abstraktionsgrades und <strong>der</strong> funktionalistischen