Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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352 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE gesetzt wurde, und gipfelte in der neuen Kosmopolis nach der Struktur der mathematischen Physik.* (Kosmopolis; S.267f.) Das Gerüst dieser Kosmopolis wurde durch die Bewegung der Moderne selbst im folgenden zwar Stück für Stück +demontiert*, doch erst nach der Erschütterung des Zweiten Weltkriegs und durch die sozialen Transformationen der Nachkriegszeit war die Menschheit gemäß Toulmin reif für die +Wiedererfindung des Humanismus*. Dies zeigt sich u.a. an der +relativistischen Wende* in der Wissenschaftsphilosophie (siehe auch Abschnitt 2.3), insbesondere jedoch an der immer größer werdenden allgemeinen Toleranz gegenüber Ungewißheit, Mehrdeutigkeit und Meinungsvielfalt. (Vgl. ebd.; 233–267) An diesem Konzept Toulmins einer (postmodernen) +Humanisierung* der Moderne durch eine Re-Renaissance, d.h. eine +Rückbesinnung* auf die Renaissance-Kultur (wie sie z.B. Denker wie Erasmus von Rotterdam oder Michel de Montaigne verkörpern) läßt sich einerseits ein- wenden, daß die historische Renaissance möglicherweise gar nicht von jener ausgeprägten Toleranz geprägt war, die Toulmin ihr zuschreibt. Zum zweiten ist es fraglich, ob sich die 62 Gegenwart tatsächlich an eine Kultur der Toleranz annähert. Die Richtung der aktuellen Entwicklung ist meines Erachtens (und wie auch die Analyse der sozio-ökonomischen Wandlungs- prozesse in Kapitel 2 zeigte) keineswegs eindeutig, sondern selbst zutiefst ambivalent. Darüber hinaus muß eine transformative Transzendierung der (einfachen) Moderne auch nicht notwendig (alleine) an die europäische Tradition anschließen. Denn wie man sich in der Renaissance des 16./17. Jahrhunderts +gewinnbringend* auf das antike Griechenland bezog, so könnte – wenn man Francisco Varela und Evan Thompson folgt – auch der Rekurs auf die indische Antike (insbesondere die durch N)ag)arjuna begründete buddhistische M)adhyamika-Schule mit ihrem +Mittleren Weg*) zu einer Erneuerung der in den Fortschrittsgleisen +festgefahrenen* Moderne beitragen (vgl. Der Mittlere Weg der Erkenntnis; 63 S. 41ff.): Durch die +empirische Praxis* der Meditation, d.h. die Reflexion der eigenen Wahr- nehmungen (und Wahrnehmen bedeutet für den Radikalen Konstruktivisten Varela wie für die Buddhisten der M)adhyamika-Schule nichts anderes als konstruieren), führt der Mittlere Weg nämlich zu der zirkulären Erkenntnis der Zirkularität der Erkenntnis, in der das reflexiv- befreiende Bewußtsein für die Leerheit (der Leerheit) – s’ )unyat)a(s’ )unyat)a) – und für die irre- führende Illusion eines kontinuierlichen Ichs entsteht. Denn wird diese zunächst eine carte- sianische Angst auslösende +Wahr(genommen)heit* der Leerheit und des Nicht-Ich anerkannt

KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 353 und zugelassen, so ermöglicht dies in ihrem (konstruierenden) Erkennen eine Überwindung der Identitäts- und Eindeutigkeitszwänge, die aber nicht in einem absoluten Relativismus endet (deshalb die Selbstbezeichnung als +Mittlerer Weg*), sondern aus der Erfahrung der Leerheit die Praxis eines +anhaftungslosen* Mitgefühls (karun)a) ableitet (vgl. auch ebd.; insb. S. 332ff. . sowie N)ag)arjuna: Mu) lamadhyamakaka) rika); Kap. 24, Vers 40). Ich werde speziell im Schlußexkurs – im Rahmen meiner dort angestellten Überlegungen zum Zusammenhang zwischen einem +authentischen* (nicht-identischen) Selbst, reflexivem (Kontingenz-)Bewußtsein und der +Utopie* sozialer Konvergenz – noch etwas genauer auf die Lehre des M)adhyamika und den an Derrida erinnernden De-Konstruktivismus N)ag)arjunas zu sprechen kommen. Hier ging es mir nur darum zu zeigen, daß sich +reflexive* Ansätze auch in nicht-europäischen Kontexten finden lassen. Und es ging mir darum klarzumachen, daß die so zerstörerische wie lähmende Seite der Angst erst, indem man sie wahrnimmt und zuläßt, +überwunden* werden kann. Mit ihrer Reflexion soll die Angst also nicht (rational) +beherrscht* werden. Dadurch würde die Angst, wie im Vorangegangenen dargestellt wurde, nur an destruktiver Macht gewinnen, wirkte sie untergründig als unbewußte Zwangsstruktur umso +effektiver*. Die Flucht ins Rationale, die rationalistische Deflexion der Angst, wie sie die (einfache) Moderne und ihre Bewegung kennzeichnete, ist also beschränkend. Sie limitiert die in ihrer Bewegung enthaltenen Möglich- keitsräume, sperrt – von der Angst getrieben – das latente Moment der +Freiheit* im Streben nach fundamentaler Sicherheit ab. Es gilt somit, um die vorhandenen Potentiale zu nutzen, die Angst bewußt zu machen und zu entfalten. Die +objektive* Reflexivität der Modernisierung unterstützt diesen subjektiven Reflexionsprozeß, denn sie bringt die Angst und das Bewußtsein der Angst durch die im Modernisierungsprozeß erzeugten Gefährdungen reflexiv hervor. Nicht zufällig spielt deshalb der Risikobegriff (und auch die Angst) eine zentrale Rolle in der Theorie reflexiver Modernisierung, so wie sie von Anthony Giddens und Ulrich Beck, allerdings mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, entworfen wurde: Für Giddens äußert sich die Dynamik der Moderne in einer zunehmenden Trennung von Zeit und Raum, einem an dieser Trennung ansetzenden Prozeß der sozialen Entbettung (disem- bedding) sowie einer gleichzeitigen reflexiven sozialen (Re-)Organisation und Wiedereinbettung (vgl. Consequences of Modernity; S. 16f.). Was meint Giddens mit diesem +Dreisatz*? – In der Neuzeit kam es zu einer Standardisierung der Zeit. Die Zeit wurde damit immer unab-

KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 353<br />

und zugelassen, so ermöglicht dies <strong>in</strong> ihrem (konstruierenden) Erkennen e<strong>in</strong>e Überw<strong>in</strong>dung<br />

<strong>der</strong> Identitäts- und E<strong>in</strong>deutigkeitszwänge, die aber nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em absoluten Relativismus endet<br />

(deshalb die Selbstbezeichnung als +Mittlerer Weg*), son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Leerheit<br />

die Praxis e<strong>in</strong>es +anhaftungslosen* Mitgefühls (karun)a) ableitet (vgl. auch ebd.; <strong>in</strong>sb. S. 332ff.<br />

.<br />

sowie N)ag)arjuna: Mu) lamadhyamakaka) rika); Kap. 24, Vers 40).<br />

Ich werde speziell im Schlußexkurs – im Rahmen me<strong>in</strong>er dort angestellten Überlegungen<br />

zum Zusammenhang zwischen e<strong>in</strong>em +authentischen* (nicht-identischen) Selbst, reflexivem<br />

(Kont<strong>in</strong>genz-)Bewußtse<strong>in</strong> und <strong>der</strong> +Utopie* sozialer Konvergenz – noch etwas genauer auf<br />

die Lehre des M)adhyamika und den an Derrida er<strong>in</strong>nernden De-Konstruktivismus N)ag)arjunas<br />

zu sprechen kommen. Hier g<strong>in</strong>g es mir nur darum zu zeigen, daß sich +reflexive* Ansätze<br />

auch <strong>in</strong> nicht-europäischen Kontexten f<strong>in</strong>den lassen. Und es g<strong>in</strong>g mir darum klarzumachen,<br />

daß die so zerstörerische wie lähmende Seite <strong>der</strong> Angst erst, <strong>in</strong>dem man sie wahrnimmt und<br />

zuläßt, +überwunden* werden kann.<br />

Mit ihrer Reflexion soll die Angst also nicht (rational) +beherrscht* werden. Dadurch würde<br />

die Angst, wie im Vorangegangenen dargestellt wurde, nur an destruktiver Macht gew<strong>in</strong>nen,<br />

wirkte sie untergründig als unbewußte Zwangsstruktur umso +effektiver*. Die Flucht <strong>in</strong>s Rationale,<br />

die rationalistische Deflexion <strong>der</strong> Angst, wie sie die (e<strong>in</strong>fache) Mo<strong>der</strong>ne und ihre Bewegung<br />

kennzeichnete, ist also beschränkend. Sie limitiert die <strong>in</strong> ihrer Bewegung enthaltenen Möglich-<br />

keitsräume, sperrt – von <strong>der</strong> Angst getrieben – das latente Moment <strong>der</strong> +Freiheit* im Streben<br />

nach fundamentaler Sicherheit ab. Es gilt somit, um die vorhandenen Potentiale zu nutzen,<br />

die Angst bewußt zu machen und zu entfalten. Die +objektive* Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

unterstützt diesen subjektiven Reflexionsprozeß, denn sie br<strong>in</strong>gt die Angst und das Bewußtse<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Angst durch die im Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß erzeugten Gefährdungen reflexiv hervor. Nicht<br />

zufällig spielt deshalb <strong>der</strong> Risikobegriff (und auch die Angst) e<strong>in</strong>e zentrale Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie<br />

reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, so wie sie von Anthony Giddens und Ulrich Beck, allerd<strong>in</strong>gs mit<br />

unterschiedlichen Akzentsetzungen, entworfen wurde:<br />

Für Giddens äußert sich die Dynamik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zunehmenden Trennung von<br />

Zeit und Raum, e<strong>in</strong>em an dieser Trennung ansetzenden Prozeß <strong>der</strong> sozialen Entbettung (disem-<br />

bedd<strong>in</strong>g) sowie e<strong>in</strong>er gleichzeitigen reflexiven sozialen (Re-)Organisation und Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>bettung<br />

(vgl. Consequences of Mo<strong>der</strong>nity; S. 16f.). Was me<strong>in</strong>t Giddens mit diesem +Dreisatz*? – In<br />

<strong>der</strong> Neuzeit kam es zu e<strong>in</strong>er Standardisierung <strong>der</strong> Zeit. Die Zeit wurde damit immer unab-

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