Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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342 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE Toulmin zeigt dieser Sicht entsprechend in seinem oben zitierten Buch auf, daß mit der von Descartes und anderen frühen Aufklärern in ihrem Wissenschaftsprojekt betriebenen +Politik der Gewißheit*, versucht wurde, eine neue +Kosmopolis* zu konstruieren, d.h. ein umfassendes System zu erschaffen, das die menschliche und die +kosmische* Ordnung* (wieder) zu einer logischen, aufzeig- und sagbaren Einheit integrierte (vgl. Kosmopolis; S. 116ff. u. S. 120ff.). 42 Dieses Streben erforderte jedoch eine Abwendung vom Besonderen, Lokalen und Zeitgebun- denen, das in der mittelalterlichen Tradition wie in der Renaissance noch seinen Platz hatte, und eine totalisierende Hinwendung zum Allgemeinen, Globalen und Zeitlosen (vgl. ebd.; 43 S. 60–70). Trotz dieser Umorientierung, ist die angebliche völlige tabula rasa, die Revolution der Moderne, eine Fiktion: Die Grundlegung der modernen Ordnung geschah schließlich in einem spezifischen historischen Kontext, und die Bewegung der Moderne verfolgt(e) das Projekt, in einer Zeit der Verunsicherung verlorene Sicherheiten wieder herzustellen. Das läßt sich sogar anhand der Französischen Revolution aufzeigen, die nicht nur die +verrottete* Ordnung des Ancien Régime umstürzte, sondern eine viel umfassendere neue Ordnung errichtete (vgl. ebd.; S. 281ff.). Letztendlich ist der Impuls der Moderne damit +konservativ* und – in der (rationalen) Verdrängung der sie vorwärtstreibenden Angst – regressiv. Der revolutionäre Ursprung der Moderne ist ein Mythos, und ihr latenter, die Ambivalenz bekämpfender +Fundamentalismus* ist das Produkt ihrer Widersprüche, ihres gleichzeitigen rigorosen Freiheits- und Sicherheitsbestrebens (vgl. auch Eisenstadt: Antinomien der Moderne). Aber ist die Deutung der Moderne als eine Bewegung der Angst, auch wenn diese ambivalent ist (siehe unten), nicht zu vereinfachend? Wurde nicht schon in der Einleitung explizit darauf hingewiesen, daß Modernisierung ein vielschichtiger Prozeß ist? Bevor die reflexiven Potentiale der Angst und die Reflexivität der Modernisierung im Allgemeinen erörtert werden können, muß deshalb zu diesen fragenden Einwänden Stellung bezogen werden. In der Tat: Modernisie- rung wurde von mir in Anlehnung an van der Loo und van Reijen als ein (in sich widersprüch- licher) Prozeß dargestellt, der die Dimensionen Differenzierung, Individualisierung, Rationali- sierung und Domestizierung umfaßt. Man kann diesen Teilprozessen meiner Meinung nach ergänzend bestimmte Prinzipien +zuordnen*: Der Differenzierung liegt das Effizienzprinzip zugrunde, Rationalisierung beruht auf Objektivität (d.h. der vernunftgemäßen, intersubjektiven Erfassung der Welt), und Domestizierung fußt auf Kontrolle. Schon im +Entrée* wurde allerdings auf die enge Verbindung zwischen Rationalisierung und Domestizierung hingewiesen: Die

KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 343 Vernunft fordert die Zähmung und Beherrschung der +Natürlichkeit* des Subjekts und der Objekte der Umwelt, verlangt die Unterordnung unter ihre vorgebliche +Objektivität*. Setzt man die Angst als Motor dieser +verdinglichenden Objektivierung* an, so liegt es nahe an- zunehmen, daß auch das Kontrollstreben, das der Domestizierung zugrunde liegt, der Angst entspringt. Aus kognitionspsychologischer Sicht sind nämlich Kontrollverluste die Hauptquelle von Angstgefühlen (vgl. Bandura: Self-Efficacy sowie Lazarus/Averill: Emotion and Cognition), 44 und um die sie treibende Angst in den Griff zu bekommen, strebt die Bewegung der Moderne folglich nach umfassender Kontrolle. Der Differenzierungsprozeß mit seiner Grundlage im Effizienzprinzip steht nicht in einem so offensichtlichen Zusammenhang mit der Angst wie Rationalisierung und Domestizierung. Und doch bildet das Effizienzprinzip einen +Komplex* mit den Prinzipien der Objektivität und der Kontrolle. Denn auch die Effizienz dient – zumindest teilweise – der Absorbierung der Angst: Die arbeitsteilige Differenzierung ist nämlich vor dem Hintergrund der Angst betrachtet der Ausdruck einer drängenden Vor-Sorge, die – wie Hobbes im Kontext seiner Naturzustands- beschreibung herausarbeitete – nur in der unaufhörlichen Steigerung der (materiellen) Mittel befriedet werden kann, was wiederum Effizienzsteigerungen erfordert. Andererseits bringt die der Vor-Sorge geschuldete Differenzierung auch eine (positive wie negativ auffaßbare) Selbst-Sorge hervor: Die effiziente Teilung der gesellschaftlichen Arbeit trennt und vereinzelt die Individuen, die dadurch ebenso freigesetzt wie auf sich selbst gestellt und verwiesen sind. Der Differenzierungsprozeß erzeugt so, wie schon oben dargelegt, indirekt Individualisierungs- phänomene. Individualisierung beinhaltet jedoch auch ein eigenständiges Moment, das im ihr zugrunde liegenden Prinzip – der Subjektivität – zum Ausdruck kommt. Dieses Prinzip der Subjektivität bildet den potentiellen Gegenpol zum instrumentellen Komplex von Objektivität, Kontrolle und Effizienz. Insbesondere dann, wenn sich das Subjekt nicht +vernünftig* verein- nahmen läßt (wie in der rationalistischen Subjekt-Philosophie in der Nachfolge Descartes’), sondern die Angst, die es subjektiv erfährt, spiegelt und befreit und sie damit zu einem Objekt seiner Selbst-Wahrnehmung macht, wird die Aufsprengung der kognitiven Ketten der Vernunft und des mit ihr verbundenen instrumentellen Komplexes möglich. Alle angesprochenen Teilprozesse der Modernisierung lassen sich also zumindest in einen Zusammenhang mit der Angst bringen. Aber die Sicht der Moderne als eine Bewegung der Angst ist natürlich nur eine (subjektive) Interpretation, ein hermeneutischer Zirkel, der keine

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Vernunft for<strong>der</strong>t die Zähmung und Beherrschung <strong>der</strong> +Natürlichkeit* des Subjekts und <strong>der</strong><br />

Objekte <strong>der</strong> Umwelt, verlangt die Unterordnung unter ihre vorgebliche +Objektivität*. Setzt<br />

man die Angst als Motor dieser +verd<strong>in</strong>glichenden Objektivierung* an, so liegt es nahe an-<br />

zunehmen, daß auch das Kontrollstreben, das <strong>der</strong> Domestizierung zugrunde liegt, <strong>der</strong> Angst<br />

entspr<strong>in</strong>gt. Aus kognitionspsychologischer Sicht s<strong>in</strong>d nämlich Kontrollverluste die Hauptquelle<br />

von Angstgefühlen (vgl. Bandura: Self-Efficacy sowie Lazarus/Averill: Emotion and Cognition), 44<br />

und um die sie treibende Angst <strong>in</strong> den Griff zu bekommen, strebt die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

folglich nach umfassen<strong>der</strong> Kontrolle.<br />

Der Differenzierungsprozeß mit se<strong>in</strong>er Grundlage im Effizienzpr<strong>in</strong>zip steht nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

so offensichtlichen Zusammenhang mit <strong>der</strong> Angst wie Rationalisierung und Domestizierung.<br />

Und doch bildet das Effizienzpr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>en +Komplex* mit den Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Objektivität<br />

und <strong>der</strong> Kontrolle. Denn auch die Effizienz dient – zum<strong>in</strong>dest teilweise – <strong>der</strong> Absorbierung<br />

<strong>der</strong> Angst: Die arbeitsteilige Differenzierung ist nämlich vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Angst betrachtet<br />

<strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>er drängenden Vor-Sorge, die – wie Hobbes im Kontext se<strong>in</strong>er Naturzustands-<br />

beschreibung herausarbeitete – nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> unaufhörlichen Steigerung <strong>der</strong> (materiellen) Mittel<br />

befriedet werden kann, was wie<strong>der</strong>um Effizienzsteigerungen erfor<strong>der</strong>t. An<strong>der</strong>erseits br<strong>in</strong>gt<br />

die <strong>der</strong> Vor-Sorge geschuldete Differenzierung auch e<strong>in</strong>e (positive wie negativ auffaßbare)<br />

Selbst-Sorge hervor: Die effiziente Teilung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Arbeit trennt und vere<strong>in</strong>zelt<br />

die Individuen, die dadurch ebenso freigesetzt wie auf sich selbst gestellt und verwiesen s<strong>in</strong>d.<br />

Der Differenzierungsprozeß erzeugt so, wie schon oben dargelegt, <strong>in</strong>direkt Individualisierungs-<br />

phänomene. Individualisierung be<strong>in</strong>haltet jedoch auch e<strong>in</strong> eigenständiges Moment, das im<br />

ihr zugrunde liegenden Pr<strong>in</strong>zip – <strong>der</strong> Subjektivität – zum Ausdruck kommt. Dieses Pr<strong>in</strong>zip<br />

<strong>der</strong> Subjektivität bildet den potentiellen Gegenpol zum <strong>in</strong>strumentellen Komplex von Objektivität,<br />

Kontrolle und Effizienz. Insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn sich das Subjekt nicht +vernünftig* vere<strong>in</strong>-<br />

nahmen läßt (wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> rationalistischen Subjekt-Philosophie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachfolge Descartes’),<br />

son<strong>der</strong>n die Angst, die es subjektiv erfährt, spiegelt und befreit und sie damit zu e<strong>in</strong>em Objekt<br />

se<strong>in</strong>er Selbst-Wahrnehmung macht, wird die Aufsprengung <strong>der</strong> kognitiven Ketten <strong>der</strong> Vernunft<br />

und des mit ihr verbundenen <strong>in</strong>strumentellen Komplexes möglich.<br />

Alle angesprochenen Teilprozesse <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung lassen sich also zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Zusammenhang mit <strong>der</strong> Angst br<strong>in</strong>gen. Aber die Sicht <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>der</strong><br />

Angst ist natürlich nur e<strong>in</strong>e (subjektive) Interpretation, e<strong>in</strong> hermeneutischer Zirkel, <strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e

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