Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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338 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE einen Leib-Seele-Dualismus, eine Unterscheidung zwischen Subjekt (Geist) und Objekt (Materie) zugrunde legt. Insgesamt betrachtet überwiegen jedoch – speziell was die gemeinsame Orien- tierung an der naturwissenschaftlich-mathematischen Methodik anbelangt – die Überschnei- dungen (vgl. hierzu auch Tönnies: Hobbes; S. 106ff.). 35 Überschneidungen gibt es aber nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern auch was den +Antrieb* ihres Denkens anbelangt. Und hier komme ich wieder auf das Moment der Angst zurück: Bei beiden geschieht die Flucht ins Rationale, um eine tief sitzende, existentielle Angst zu überwinden. Genauso wie Hobbes zu diesem Zweck den (absoluten) Staat auf eine streng rationale Basis stellen wollte (und deshalb die klassische Moralphilosophie und ihre theologischen Begründungen hinwegfegen mußte), so wollte Descartes eine nicht mehr anzweifelbare, (absolut) sichere Grundlage der Philosophie im Denken hervorkehren (weshalb er gleichfalls das schola- stische System umstürzen mußte). Und auch bei ihm finden sich historisch-biographische Gründe als Erklärung für diesen Versuch, mit einer (+vernünftigen*) tabula rasa die Angst und die Unsicherheit zu besiegen: 36 René Descartes (bzw. Des-Cartes) wurde 1596 in La Haye (West-Frankreich) geboren. Seine Familie, in der sich eine Reihe von Ärzten und Universitätsgelehrten findet, gehörte dem niederen Adel an. Sein Vater war Jurist und seine Mutter, die nur ein Jahr nach seiner Geburt starb, stammte aus einer Beamtendynastie. Um eine gute Erziehung des Jungen sicherzustellen, wurde er mit acht Jahren von seinem Vater auf das Collège Royal in La Flèche geschickt – eine durch Heinrich IV. (auf deren Gesuch hin) neu gegründete Internatsschule der Jesuiten. Die Ermordung von Heinrich im Jahr 1610 und die anschließende Beisetzung seines Herzens in der Kapelle von La Flèche (die gemäß einer früheren Abmachung zwischen Heinrich und der Gesellschaft Jesu erfolgte) hat den jungen Descartes, zumindest wenn man sich der Schilderung von Stephen Toulmin anschließt, tief beeindruckt und geprägt. Denn Heinrich IV. war allgemein ein Hoffnungssymbol seiner Zeit. Er stammte aus einem protestantischen Adelsgeschlecht, konvertierte dann jedoch, um sich den Rückhalt der +katholischen Liga* zu sichern, zum Katholizismus. Allerdings blieb er, solange er regierte, um einen Ausgleich zwischen den verfeindeten Religionsgruppen bemüht. Und so bemerkt Toulmin: +Die Ermordung Heinrich IV. versetzte den Hoffnungen derer einen tödlichen Schlag, die in Frankreich und anderswo in der Toleranz eine Möglichkeit zur Beilegung der Bekenntnisstreitigkeiten sahen.* (Kosmopolis; S. 93)
KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 339 Da man die Jesuiten hinter dem Mord an Heinrich vermutete, bemühte man sich in La Flèche alles erdenkliche zu tun, um diesen Verdacht zu entkräften. Man inszenierte eine aufwendige Feier und am Jahrestag der Beisetzung wurde eine Sammlung von Aufsätzen der besten Schüler des Collège zum Ruhme Heinrichs druckgelegt. Die meisten dieser anonymen Texte, die erst kürzlich wiederentdeckt wurden, sind in Latein oder Griechisch abgefaßt, nur wenige in Französisch. Toulmin will in einem jener Aufsätze Descartes’ +Handschrift* erkennen – denn in dem betreffenden Text wird die Entdeckung der Jupitermonde durch Galilei mit Heinrich und seinem Tod verbunden (was zu Descartes’ naturwissenschaftlicher Orientierung passen würde). Der unbekannte Autor empfiehlt dem trauernden Frankreich nämlich in einem angefügten Sonnett, von den Klagen über den Verlust des geliebten Königs abzulassen, +Denn Gott hat ihn von der Erde versetzt/In den Himmel Jupiters, allwo er nun leuchtet/Den Sterblichen als ein himmlisches Licht* (zitiert nach ebd.; S. 105). Ob es sich beim Verfasser dieser Zeilen tatsächlich um den jungen Descartes handelt oder nicht – Toulmin meint, daß die Ermordung Heinrichs in jedem Fall ein verunsicherndes Schlüsselereignis für diesen gewesen sein muß, das ihn bewog, künftig nach Ordnung und Gewißheit zu suchen. Descartes’ weiterer Lebensweg führte ihn jedoch zunächst in Krieg und Chaos, und vielleicht waren es doch eher seine Erfahrungen als Soldat, die ihn zu seiner Suche nach unumstößlichen Wahrheiten und fundamentaler Sicherheit veranlaßt haben: 1612 verließ er das Collège von La Flèche, um (mit gutem Erfolg) Rechtswissenschaften in Poitiers zu studieren. Nach Abschluß des Studiums im Jahr 1616 lehrte er allerdings nur kurze Zeit an der juristischen Fakultät, denn sein Vater schickte ihn 1618 zur Militärausbildung in die Niederlande. Im Vorfeld des 30jährigen Kriegs machte er dort die prägende Bekanntschaft des Physikers Isaak Beekmann, der sein schon lange bestehendes mathematisch-naturwissenschaftliches Interesse noch verstärkte und ihn zum Nachdenken über seine Zukunft veranlaßte. 37 Descartes gab aber sein Soldatendasein nicht sogleich auf, sondern schloß sich nach einer mehrmonatigen Reise durch das östliche Europa 1619 den Truppen des Herzogs Maximilian von Bayern an, die in Ulm überwinterten. Dort hatte er, genau ein Jahr nach seiner ersten Begegnung mit Beekmann, in der Nacht vom 10. auf den 11. November eine Serie von insgesamt drei Träumen, von denen uns, gestützt auf verlorengegangene Aufzeichnungen Descartes’, sein erster Biograph, Adrian Baillet, in dem Band +La vie de Monsieur Des-Cartes* (1691) berichtet.
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Da man die Jesuiten h<strong>in</strong>ter dem Mord an He<strong>in</strong>rich vermutete, bemühte man sich <strong>in</strong> La Flèche<br />
alles erdenkliche zu tun, um diesen Verdacht zu entkräften. Man <strong>in</strong>szenierte e<strong>in</strong>e aufwendige<br />
Feier und am Jahrestag <strong>der</strong> Beisetzung wurde e<strong>in</strong>e Sammlung von Aufsätzen <strong>der</strong> besten Schüler<br />
des Collège zum Ruhme He<strong>in</strong>richs druckgelegt. Die meisten dieser anonymen Texte, die<br />
erst kürzlich wie<strong>der</strong>entdeckt wurden, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Late<strong>in</strong> o<strong>der</strong> Griechisch abgefaßt, nur wenige<br />
<strong>in</strong> Französisch. Toulm<strong>in</strong> will <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em jener Aufsätze Descartes’ +Handschrift* erkennen –<br />
denn <strong>in</strong> dem betreffenden Text wird die Entdeckung <strong>der</strong> Jupitermonde durch Galilei mit<br />
He<strong>in</strong>rich und se<strong>in</strong>em Tod verbunden (was zu Descartes’ naturwissenschaftlicher Orientierung<br />
passen würde). Der unbekannte Autor empfiehlt dem trauernden Frankreich nämlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
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Gott hat ihn von <strong>der</strong> Erde versetzt/In den Himmel Jupiters, allwo er nun leuchtet/Den Sterblichen<br />
als e<strong>in</strong> himmlisches Licht* (zitiert nach ebd.; S. 105). Ob es sich beim Verfasser dieser Zeilen<br />
tatsächlich um den jungen Descartes handelt o<strong>der</strong> nicht – Toulm<strong>in</strong> me<strong>in</strong>t, daß die Ermordung<br />
He<strong>in</strong>richs <strong>in</strong> jedem Fall e<strong>in</strong> verunsicherndes Schlüsselereignis für diesen gewesen se<strong>in</strong> muß,<br />
das ihn bewog, künftig nach Ordnung und Gewißheit zu suchen.<br />
Descartes’ weiterer Lebensweg führte ihn jedoch zunächst <strong>in</strong> Krieg und Chaos, und vielleicht<br />
waren es doch eher se<strong>in</strong>e Erfahrungen als Soldat, die ihn zu se<strong>in</strong>er Suche nach unumstößlichen<br />
Wahrheiten und fundamentaler Sicherheit veranlaßt haben: 1612 verließ er das Collège von<br />
La Flèche, um (mit gutem Erfolg) Rechtswissenschaften <strong>in</strong> Poitiers zu studieren. Nach Abschluß<br />
des Studiums im Jahr 1616 lehrte er allerd<strong>in</strong>gs nur kurze Zeit an <strong>der</strong> juristischen Fakultät,<br />
denn se<strong>in</strong> Vater schickte ihn 1618 zur Militärausbildung <strong>in</strong> die Nie<strong>der</strong>lande. Im Vorfeld des<br />
30jährigen Kriegs machte er dort die prägende Bekanntschaft des Physikers Isaak Beekmann,<br />
<strong>der</strong> se<strong>in</strong> schon lange bestehendes mathematisch-naturwissenschaftliches Interesse noch verstärkte<br />
und ihn zum Nachdenken über se<strong>in</strong>e Zukunft veranlaßte. 37<br />
Descartes gab aber se<strong>in</strong> Soldatendase<strong>in</strong> nicht sogleich auf, son<strong>der</strong>n schloß sich nach e<strong>in</strong>er<br />
mehrmonatigen Reise durch das östliche Europa 1619 den Truppen des Herzogs Maximilian<br />
von Bayern an, die <strong>in</strong> Ulm überw<strong>in</strong>terten. Dort hatte er, genau e<strong>in</strong> Jahr nach se<strong>in</strong>er ersten<br />
Begegnung mit Beekmann, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht vom 10. auf den 11. November e<strong>in</strong>e Serie von<br />
<strong>in</strong>sgesamt drei Träumen, von denen uns, gestützt auf verlorengegangene Aufzeichnungen<br />
Descartes’, se<strong>in</strong> erster Biograph, Adrian Baillet, <strong>in</strong> dem Band +La vie de Monsieur Des-Cartes*<br />
(1691) berichtet.