Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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336 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE 6), strebt der Mensch nämlich nach immer mehr Macht. Die Maßlosigkeit dieses Verlangens speist sich aus der Angst, das Erworbene zu verlieren: +Zuvörderst wird also angenommen, daß alle Menschen ihr ganzes Leben hindurch beständig und un- ausgesetzt eine Macht nach der anderen sich zu verschaffen bemüht sind, nicht darum weil sie […] sich mit einer mäßigeren nicht begnügen können, sondern weil sie ihre gegenwärtige Macht und die Mittel, glücklich zu leben, zu verlieren fürchten, wenn sie sie nicht vermehren.* (Ebd.; S. 90f. [Kap. 11]) Und diese Furcht ist es auch, die sie mißtrauisch gegen andere macht: +Die Furcht, von einem andern Schaden zu erleiden, spornt uns an, dem zuvorzukommen oder sich Anhang zu ver- schaffen, denn ein anderes Mittel, sich Leben und Freiheit zu sichern, gibt es nicht* (ebd.; S. 93) – zumindest nicht im Naturzustand. Hier ist jeder des anderen Feind, denn die gegen- seitige Furcht, läßt die Menschen im Interesse ihrer Selbsterhaltung zu List und Gewalt greifen, so daß es zum Krieg aller gegen alle kommt (vgl. ebd.; S. 114f. [Kap. 13]). Die Furcht ist andererseits aber auch die Quelle für die vernunftgemäße Überwindung dieses beklagenswerten Zustands: +Die Leidenschaften, die die Menschen zum Frieden unter sich geneigt machen können, sind die Furcht überhaupt und insbesondere die Furcht vor einem gewaltsamen Tod*, bemerkt Hobbes (ebd.; S. 118 [Kap. 13]). Aus dieser Todesfurcht heraus und dem ersten Gesetz der Natur folgend, das besagt: +Suche den Frieden und jage ihm nach* (ebd.; S. 119 [Kap. 14]), übertragen die Menschen ihr natürliches Recht auf alles (insbesondere das Recht zur Selbstverteidigung) in einem wechselseitig geschlossenen Vertrag einem Dritten – unter der Maßgabe, daß dieser für Ruhe und Ordnung sorgt, damit die von den Menschen erarbeiteten und erworbenen Güter in Zukunft ohne Angst genossen werden 28 können (ebd.; S. 155 [Kap. 17]). Damit ist der staatliche Leviathan, der +sterbliche Gott* und +künstliche Mensch* geboren. Wie aus diesen Zitaten ersichtlich ist, spielt die Furcht bzw. die Angst in Hobbes’ Theoriegebäude eine sehr zentrale Rolle. Es ist also nicht verwunderlich, daß bereits Carl Schmitt auf diesen 29 Aspekt ausführlich eingeht. In dem Band +Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes* (1938) bemerkt er: +Der Schrecken des Naturzustands treibt die angsterfüllten Individuen zusammen* (S. 48). Sie flüchten, geleitet vom +Licht des Verstandes*, in die schützenden Arme des Leviathan, den Schmitt allerdings weniger als organischen +Körper*, sondern vielmehr als eine gewaltige Maschine, als einen Mechanismus der Angstbeseitigung und zur Sicherung 30 des diesseitigen physischen Daseins interpretiert (vgl. ebd.; S. 54). Hobbes spezifische Leistung
KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 337 erkennt Schmitt in der mythischen Kraft, die in seinem Bild vom Leviathan steckt, und in der Existentialität der Angst, die von Hobbes, wie er meint, so +furchtlos* zu Ende gedacht wird (vgl. ebd.; 131f.). 31 Aus dieser von Schmitt bei Hobbes konstatierten Existentialität der Angst wird in Berhard Willms’ Leviathan-Interpretation gar eine Dialektik der Angst. In Anlehnung an Herbert (vgl. 32 Thomas Hobbes’ Dialectic of Desire) bemerkt er: +Die Angst ist der individuell-praktische Ausdruck der unausweichlichen formalen Widersprüchlichkeit der ›conditio humana‹ als Freiheit. 33 Diese Widersprüchlichkeit der Freiheit ist ebenso unausweichlich wie der Ausgang von dieser Freiheit selbst unvermeidlich ist.* (Die Angst, die Freiheit und der Leviathan; S. 86) Allerdings wird nach Willms im Ausgang der Freiheit diese durch den staatlichen Leviathan (dialektisch- synthetisch) verwirklicht, und so +erscheint der Leviathan als Aufhebung der Freiheit gerade nicht, indem er sie beseitigt, sondern indem er sie […] in einen lebbaren Zustand überführt* (ebd.; S. 88). Diese, das Moment der Freiheit im Rahmen des staatlichen Leviathan betonende, hegelianische Deutung erscheint mir allerdings aus doppeltem Grund fragwürdig: Erstens besteht die Freiheit der Staatsbürger nach Hobbes +nur in den Handlungen, welche der Gesetzgeber in seinen Gesetzen übergangen hat* (Leviathan; S. 190 [Kap. 21]). Die bürgerliche Freiheit ist also bei ihm stark beschränkt, und sie entspringt auch nicht aus der (Dialektik der) Furcht, sondern 34 ist bestenfalls mit ihr kompatibel. Zweitens dient die Vernunft bei Hobbes nicht der Reflexion der Angst (womit eine Dialektik entfaltet werden könnte), sondern der Rekurs auf die Ratio ist, wie bereits oben anklang, vielmehr ein Fluchtpunkt: Die (an sich dialektische) Angst wird nicht gespiegelt, gelebt und zugelassen, es kommt zu keiner Auseinandersetzung mit ihr, sondern sie wird verdrängt und beseitig, rational unterworfen. Dieses deflexive Element des neuzeitlichen Rationalismus und der +ursprünglichen* Bewegung der Moderne überhaupt läßt sich auch bei René Descartes deutlich aufzeigen. Hobbes und Descartes sind sich in Paris persönlich begegnet, und Hobbes hat zu Descartes’ +Meditationes* (1641), also dessen Versuch einer systematischen Grundlegung der Philosophie, eine Reihe von Einwänden vorgetragen, die von Descartes auch erwidert wurden. Der wichtigste Unterschied zwischen beiden Denkern, der nicht nur in diesem +Dialog* deutlich wird, ist der Umstand, daß Hobbes streng materialistisch denkt, während Descartes mit seiner Unter- scheidung von res extensa und res cogitans (die im Zentrum seiner sechsten Meditation steht)
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KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 337<br />
erkennt Schmitt <strong>in</strong> <strong>der</strong> mythischen Kraft, die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bild vom Leviathan steckt, und <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Existentialität <strong>der</strong> Angst, die von Hobbes, wie er me<strong>in</strong>t, so +furchtlos* zu Ende gedacht<br />
wird (vgl. ebd.; 131f.). 31<br />
Aus dieser von Schmitt bei Hobbes konstatierten Existentialität <strong>der</strong> Angst wird <strong>in</strong> Berhard<br />
Willms’ Leviathan-Interpretation gar e<strong>in</strong>e Dialektik <strong>der</strong> Angst. In Anlehnung an Herbert (vgl.<br />
32<br />
Thomas Hobbes’ Dialectic of Desire) bemerkt er: +Die Angst ist <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuell-praktische<br />
Ausdruck <strong>der</strong> unausweichlichen formalen Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> ›conditio humana‹ als Freiheit. 33<br />
Diese Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> Freiheit ist ebenso unausweichlich wie <strong>der</strong> Ausgang von dieser<br />
Freiheit selbst unvermeidlich ist.* (Die Angst, die Freiheit und <strong>der</strong> Leviathan; S. 86) Allerd<strong>in</strong>gs<br />
wird nach Willms im Ausgang <strong>der</strong> Freiheit diese durch den staatlichen Leviathan (dialektisch-<br />
synthetisch) verwirklicht, und so +ersche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Leviathan als Aufhebung <strong>der</strong> Freiheit gerade<br />
nicht, <strong>in</strong>dem er sie beseitigt, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>dem er sie […] <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en lebbaren Zustand überführt*<br />
(ebd.; S. 88).<br />
Diese, das Moment <strong>der</strong> Freiheit im Rahmen des staatlichen Leviathan betonende, hegelianische<br />
Deutung ersche<strong>in</strong>t mir allerd<strong>in</strong>gs aus doppeltem Grund fragwürdig: Erstens besteht die Freiheit<br />
<strong>der</strong> Staatsbürger nach Hobbes +nur <strong>in</strong> den Handlungen, welche <strong>der</strong> Gesetzgeber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />
Gesetzen übergangen hat* (Leviathan; S. 190 [Kap. 21]). Die bürgerliche Freiheit ist also bei<br />
ihm stark beschränkt, und sie entspr<strong>in</strong>gt auch nicht aus <strong>der</strong> (Dialektik <strong>der</strong>) Furcht, son<strong>der</strong>n<br />
34<br />
ist bestenfalls mit ihr kompatibel. Zweitens dient die Vernunft bei Hobbes nicht <strong>der</strong> Reflexion<br />
<strong>der</strong> Angst (womit e<strong>in</strong>e Dialektik entfaltet werden könnte), son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Rekurs auf die Ratio<br />
ist, wie bereits oben anklang, vielmehr e<strong>in</strong> Fluchtpunkt: Die (an sich dialektische) Angst wird<br />
nicht gespiegelt, gelebt und zugelassen, es kommt zu ke<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit ihr,<br />
son<strong>der</strong>n sie wird verdrängt und beseitig, rational unterworfen. Dieses deflexive Element des<br />
neuzeitlichen Rationalismus und <strong>der</strong> +ursprünglichen* Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne überhaupt<br />
läßt sich auch bei René Descartes deutlich aufzeigen.<br />
Hobbes und Descartes s<strong>in</strong>d sich <strong>in</strong> Paris persönlich begegnet, und Hobbes hat zu Descartes’<br />
+Meditationes* (1641), also dessen Versuch e<strong>in</strong>er systematischen Grundlegung <strong>der</strong> Philosophie,<br />
e<strong>in</strong>e Reihe von E<strong>in</strong>wänden vorgetragen, die von Descartes auch erwi<strong>der</strong>t wurden. Der wichtigste<br />
Unterschied zwischen beiden Denkern, <strong>der</strong> nicht nur <strong>in</strong> diesem +Dialog* deutlich wird, ist<br />
<strong>der</strong> Umstand, daß Hobbes streng materialistisch denkt, während Descartes mit se<strong>in</strong>er Unter-<br />
scheidung von res extensa und res cogitans (die im Zentrum se<strong>in</strong>er sechsten Meditation steht)