Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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330 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE +materiellen* und psycho-logischen Hintergrund haben, denn sie können als Fluchtreaktionen vor den zur Verwirklichung drängenden Äußerungen der das verinnerlichte Ich-Ideal be- drohenden Libido gedeutet werden (vgl. ebd.; S. 318). 19 Je nachdem, ob die +reale* oder die +neurotische* Komponente überwiegt, kann Angst laut Neumann verschiedene Funktionen und Konsequenzen haben: Als Realangst vermag sie vor drohenden Gefahren zu warnen und zu schützen. Wurde eine Gefahrensituation erfolgreich 20 überstanden, so kann sogar ein +kathartischer Effekt* eintreten. Dominiert dagegen das neurotische, +irreale* Element, so hat das Phänomen der Angst, das Neumann generell aus Entfremdungserfahrungen ableitet, eine destruktive Wirkung und macht unfähig, zu handeln (vgl. Angst und Politik; S. 264ff.). Doch wie ist letztere Aussage mit der hier vertretenen Ansicht vereinbar, daß Angst der treibende +Ursprung* der Bewegung der Moderne ist? Denn offen- sichtlich wird diese Bewegung in ihrer Rastlosigkeit und ihrer gewaltvollen Vehemenz von mir eher als +zwanghaft* und +neurotisch* und nicht als +kathartisch* oder +befreiend* an- 21 gesehen. Doch es ist paradoxerweise gerade ihr +Bewegungsdrang*, der die Moderne para- lysiert: Sie kann in ihrem stetigen Werden nicht sein und deshalb auch nicht Sein-lassen, Nachsicht (gegen sich selbst und ihre – imaginären – Gegner) üben. Die bewegende Angst der Moderne fixiert also die Moderne, indem sie diese im +stahlharten Gehäuse* (Weber) ihres rigorosen Rationalismus gefangen hält, sie auf ihrem eingeschlagen Fluchtweg der rationa- listischen Ambivalenz-Tilgung immer weiter vorantreibt. Dieses regressive Element in der +Dialektik der Aufklärung* haben, wie schon oben erwähnt wurde, insbesondere Horkheimer und Adorno herausgearbeitet (denen Neumann als zeitweiliger Mitarbeiter des emigrierten +Instituts für Sozialforschung* sehr nahe stand): +Der Fluch des Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression* (S. 42), so bemerken sie unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Aufklärung, die ehemals angetreten war, zur Befreiung des Menschen +die Mythen auf[zu]lösen und Einbildung durch Wissen [zu] stürzen* (ebd.; S. 9), entwickelte sich zu einem gewaltvollen und +totalitären* System, denn +nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut* (ebd.; S. 10). +Ihren eigenen Ideen von Menschenrecht ergeht es dabei nicht anders als den älteren Universalien.* (Ebd.; S. 12) Streng genommen war aber bereits der Mythos selbst der Beginn des Aufklärungsdenkens, denn dieser will darstellen und erklären und damit (erzählend) Macht über Mensch und Natur

KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 331 22 gewinnen (vgl. ebd.; S. 14). Im weiteren Verlauf geht so schließlich +der Mythos […] in die Aufklärung über und die Natur in die bloße Objektivität* (ebd.; S. 15). Allerdings ist die gewonnene Herrschaft über die innere wie die äußere Natur zwiespältig: +Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben* (ebd.). Die Quelle dieses die Entfremdung immer weiter steigernden Herrschaftsstrebens ist die Angst, die sich damit – da sie sich wiederum aus Entfremdung speist – latent potenziert. So kommen Horkheimer und Adorno, wie bereits im Prolog zitiert (siehe S. XXXII), zu dem Schluß: +Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst.* (Ebd.; S. 22) In dieser parallelen Radikalisierung von Angst und Aufklärung geht die ursprüngliche Dialektik schließlich in Eindimensionalität über, und die zu einem alles durchdringenden System aus- geweitete kapitalistische Kulturindustrie bringt ein identisches Individuum hervor, das mit allem identisch sein darf, nur nicht mit sich selbst (vgl. ebd.; S. 128ff. sowie Marcuse: Der eindimensionale Mensch). Derart von seiner +authentischen Basis* abgeschnitten, wird das Selbst der Moderne zu einem regressiven Selbst, und die +entfesselte* (subjektive) Vernunft entäußert sich aller (objektiven) Grundlagen, so daß in ihrem Namen nunmehr selbst die schrecklichste +Barbarei* möglich und rechtfertigbar wird (vgl. Dialektik der Aufklärung; S. 177ff.). Die tabula rasa, die Revolution der Moderne, ist also tatsächlich ein Regreß, und die in ihrer Bewegung radikalisierte und +aufgestaute* Angst, die das verunsicherte Selbst in das schützende wie einengende Gehäuse der rationalistischen Ordnung flüchten läßt (und die so verdrängt wird), entlädt sich potentiell in Gewalt. Das gleichzeitige Versprechen von Freiheit und Sicherheit bleibt auf diesem Weg uneinlösbar. Was sich der mühevoll hergestellten Ordnung widersetzt, muß vernichtet werden, denn sonst stürzt das Individuum zurück in die Bodenlosigkeit der Angst. Diese Sicht ist aber natürlich selbst ein (moderner) Mythos, eine Erzählung, die die verborgenen Potentiale der Dialektik der Angst und der Aufklärung nicht spiegelt und entfaltet, sondern 23 in der ihrerseits eindimensionalen Interpretation dieses Zusammenhangs ausblendet. In ihrer immer weiteren Radikalisierung könnte die Bewegung der Moderne sich nämlich vielleicht auch selbst überschreiten bzw. eine neue Richtung einschlagen. Sie könnte dann – wenn sie sich auf sich selbst zubewegt, indem sie sich zu hinterfragen beginnt und ihre Ängste ernst nimmt – möglicherweise der Ambivalenz, der Differenz und dem Widerspruch ihren Raum lassen. Dies ist eine Auffassung, wie sie ganz ähnlich auch Zygmunt Bauman vertritt. Allerdings

330 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

+materiellen* und psycho-logischen H<strong>in</strong>tergrund haben, denn sie können als Fluchtreaktionen<br />

vor den zur Verwirklichung drängenden Äußerungen <strong>der</strong> das ver<strong>in</strong>nerlichte Ich-Ideal be-<br />

drohenden Libido gedeutet werden (vgl. ebd.; S. 318). 19<br />

Je nachdem, ob die +reale* o<strong>der</strong> die +neurotische* Komponente überwiegt, kann Angst laut<br />

Neumann verschiedene Funktionen und Konsequenzen haben: Als Realangst vermag sie vor<br />

drohenden Gefahren zu warnen und zu schützen. Wurde e<strong>in</strong>e Gefahrensituation erfolgreich<br />

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überstanden, so kann sogar e<strong>in</strong> +kathartischer Effekt* e<strong>in</strong>treten. Dom<strong>in</strong>iert dagegen das<br />

neurotische, +irreale* Element, so hat das Phänomen <strong>der</strong> Angst, das Neumann generell aus<br />

Entfremdungserfahrungen ableitet, e<strong>in</strong>e destruktive Wirkung und macht unfähig, zu handeln<br />

(vgl. Angst und <strong>Politik</strong>; S. 264ff.). Doch wie ist letztere Aussage mit <strong>der</strong> hier vertretenen Ansicht<br />

vere<strong>in</strong>bar, daß Angst <strong>der</strong> treibende +Ursprung* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ist? Denn offen-<br />

sichtlich wird diese Bewegung <strong>in</strong> ihrer Rastlosigkeit und ihrer gewaltvollen Vehemenz von<br />

mir eher als +zwanghaft* und +neurotisch* und nicht als +kathartisch* o<strong>der</strong> +befreiend* an-<br />

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gesehen. Doch es ist paradoxerweise gerade ihr +Bewegungsdrang*, <strong>der</strong> die Mo<strong>der</strong>ne para-<br />

lysiert: Sie kann <strong>in</strong> ihrem stetigen Werden nicht se<strong>in</strong> und deshalb auch nicht Se<strong>in</strong>-lassen,<br />

Nachsicht (gegen sich selbst und ihre – imag<strong>in</strong>ären – Gegner) üben. Die bewegende Angst<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne fixiert also die Mo<strong>der</strong>ne, <strong>in</strong>dem sie diese im +stahlharten Gehäuse* (Weber)<br />

ihres rigorosen Rationalismus gefangen hält, sie auf ihrem e<strong>in</strong>geschlagen Fluchtweg <strong>der</strong> rationa-<br />

listischen Ambivalenz-Tilgung immer weiter vorantreibt.<br />

Dieses regressive Element <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* haben, wie schon oben erwähnt<br />

wurde, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Horkheimer und Adorno herausgearbeitet (denen Neumann als zeitweiliger<br />

Mitarbeiter des emigrierten +Instituts für Sozialforschung* sehr nahe stand): +Der Fluch des<br />

Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression* (S. 42), so bemerken sie unter dem E<strong>in</strong>druck<br />

<strong>der</strong> Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Aufklärung, die ehemals angetreten<br />

war, zur Befreiung des Menschen +die Mythen auf[zu]lösen und E<strong>in</strong>bildung durch Wissen<br />

[zu] stürzen* (ebd.; S. 9), entwickelte sich zu e<strong>in</strong>em gewaltvollen und +totalitären* System,<br />

denn +nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt<br />

antut* (ebd.; S. 10). +Ihren eigenen Ideen von Menschenrecht ergeht es dabei nicht an<strong>der</strong>s<br />

als den älteren Universalien.* (Ebd.; S. 12)<br />

Streng genommen war aber bereits <strong>der</strong> Mythos selbst <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n des Aufklärungsdenkens,<br />

denn dieser will darstellen und erklären und damit (erzählend) Macht über Mensch und Natur

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