Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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316 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE immer nur auf der Basis des Bestehenden, aber im Licht seiner unvermittelten, und doch bestimmten Negation sowie in der Ausrichtung auf einen nihilistischen, im eigentlichen Sinn des Wortes +utopischen* Horizont hinterfragt (vgl. auch Bhaskar: Reclaiming Reality). 2 Für die Frage, welche Gestalt dieses kritische Projekt annehmen soll, ist eine weitere Aussage Horkheimers aufschlußreich und als Ansatzpunkt für eine Überschreitung geeignet. Denn nach Horkheimer sind +die Interessen des kritischen Denkens […] allgemein, aber nicht allgemein anerkannt […] Wenngleich die kritische Theorie nirgends willkürlich und zufällig verfährt, erscheint sie der herrschenden Urteilsweise subjektiv und spekulativ, einseitig und nutzlos.* (Ebd.; S. 235) Doch warum, so frage ich, soll sie der herrschenden Urteilsweise nur nutzlos erscheinen, warum soll sie (für diese) – in der Tat ganz und gar unzufällig – nicht so nutzlos wie möglich sein? Meiner Meinung nach liegt die +kritische Masse* des kritischen Denkens genau in einer willkürlichen (d.h. gewollten), bewußten Einseitigkeit und (nicht-identischen) +Subjektivität*, die sich der Vereinnahmung durch die Verwalter des status quo zu entziehen trachtet. Der hier im folgenden von mir vorgelegte theoretische Entwurf wird sich deshalb bemühen, so +unbrauchbar* wie nur möglich zu sein, um sich vor der +Verbrauchung* seines kritischen Potentials zu schützen. Dies (und anderes mehr) könnte eine +zeitgemäße* kritische Theorie vom durchaus opposi- tionellen, subversiven poststrukturalistischen Diskurs lernen (vgl. auch Ryan: Marxism and 3 Deconstruction). Und vielleicht möchte ich – +grund-los* und +ohne je Gewißheit zu haben*, aber bestimmt und +aus Sorge um die Gerechtigkeit* – eines jener von Derrida ausgemachten +Marx-Gespenster* sein, das der furchteinflößenden, weil un(an)greifbaren +neuen Internationale* 4 angehört (vgl. Marx’ Gespenster; S. 274). Denn: +Man erzittert vor der Hypothese, daß, begünstigt durch eine jener Metamorphosen, von denen Marx so oft gesprochen hat […], ein neuer ›Marxismus‹ nicht mehr die Gestalt haben könnte, unter der man ihn zu identifizieren und in die Flucht zu schlagen man sich gewöhnt hatte. Vielleicht hat man nicht mehr Angst vor den Marxisten, wohl aber hat man noch Angst vor gewissen Nicht-Marxisten, die auf das Marxsche Erbe nicht verzichtet haben, Krypto-Marxisten, Pseudo- oder Para-›Marxisten‹, die bereit wären, die Ablösung zu übernehmen, mit Bindestrichen oder in Anführungszeichen, die zu demaskieren die verängstigten Experten des Antikommunismus nicht geübt genug wären.* (Ebd.) Auf diese (gespenstische) Weise kann vielleicht gerade in seiner aktuell durch den Zusammen- bruch des +real existierenden Sozialismus* noch verschärften Krise eine Erneuerung und Befreiung
KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 317 des von Marx auf den Weg gebrachten kritischen Projekts erfolgen, die mit ihrer Ablehnung der identifizierenden und auf diskursiver Gewalt beruhenden dogmatischen Metaerzählung des Historischen Materialismus keine Schwächung, sondern vielmehr eine Radikalisierung des +ursprünglichen* kritischen Anspruchs bedeutet und den Subjekten ihre Historizität und Veränderlichkeit – für eine Veränderung – vor Augen führt (vgl. auch Docherty: After Theory; 5 S. 205ff.). In einem ganz ähnlichen Sinn, d.h. um einen neuen Marxismus denken und umsetzen zu können, bemerkte schon Louis Althusser (1978): +Endlich ist die Krise des Marxismus zum Ausbruch gekommen! Endlich ist sie sichtbar geworden, und endlich beginnen wir, ihre Elemente zu erkennen!* (Über die Krise des Marxismus; S. 59) Mit ihren kritischen, nicht ausbeutbaren, spekulativen Begriffen – möglicherweise aber auch indem sie umgekehrt +etablierte* Begriffe für ihre Sprache (miß)braucht und diese Begriffe dadurch ebenso demaskiert wie sie sich mit ihnen maskiert, dem identifizierenden Zugriff entzieht – versucht die fiktive, aber schon als Fiktion mächtige +neue Internationale*, der ich mich (ebenso fiktiv) +anschließen* möchte, deshalb keine Eroberung der Diskurshoheit mit fadenscheinigen Wahrheitsansprüchen, fixiert sich auf keine Dogmatik und pocht auch nicht auf die +revolutionäre Praxis* (der Arbeiterklasse), sondern dringt subversiv, vom (intellek- tuellen) +Rand* her kommend in den sozialen Raum – und verändert so untergründig die +Wirklichkeit*, öffnet sie mit ihren alternativen Interpretationsangeboten für die Subjekte. 6 In diesem Sinn ist sie +reflexiv* und eingebunden in die +doppelte Hermeneutik* der Sozial- wissenschaften, die ihren Gegenstand nicht nur erfaßt, sondern gleichzeitig auch verändert und von diesem erfaßt wird. Der Begriff der +doppelten Hermeneutik* geht auf Anthony Giddens zurück, der einer der wesentlichen (Vor-)Denker der hier dialektisch zu erweitern versuchten Theorie reflexiver Modernisierung ist (und unten, zusammen mit ihren anderen wichtigen Exponenten, noch 7 ausführlicher gewürdigt werden wird). Mit diesem Begriff will Giddens ausdrücken, daß es einen beständigen Austausch zwischen den Bedeutungsrahmen der handelnden +Laien* und jenen der Sozialwissenschaftler(innen) gibt, und er leitet daraus nicht nur die Möglichkeit, sondern die zwingende Notwendigkeit einer +kritischen*, d.h. selbst- und sozial reflexiven Sozialwissenschaft ab, die immer auch +in einer praktischen Weise mit dem gesellschaftlichen Leben befaßt* ist (Die Konstitution der Gesellschaft; S. 49). 8
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316 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />
immer nur auf <strong>der</strong> Basis des Bestehenden, aber im Licht se<strong>in</strong>er unvermittelten, und doch<br />
bestimmten Negation sowie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausrichtung auf e<strong>in</strong>en nihilistischen, im eigentlichen S<strong>in</strong>n<br />
des Wortes +utopischen* Horizont h<strong>in</strong>terfragt (vgl. auch Bhaskar: Reclaim<strong>in</strong>g Reality). 2<br />
Für die Frage, welche Gestalt dieses kritische Projekt annehmen soll, ist e<strong>in</strong>e weitere Aussage<br />
Horkheimers aufschlußreich und als Ansatzpunkt für e<strong>in</strong>e Überschreitung geeignet. Denn<br />
nach Horkheimer s<strong>in</strong>d +die Interessen des kritischen Denkens […] allgeme<strong>in</strong>, aber nicht allgeme<strong>in</strong><br />
anerkannt […] Wenngleich die kritische Theorie nirgends willkürlich und zufällig verfährt,<br />
ersche<strong>in</strong>t sie <strong>der</strong> herrschenden Urteilsweise subjektiv und spekulativ, e<strong>in</strong>seitig und nutzlos.*<br />
(Ebd.; S. 235) Doch warum, so frage ich, soll sie <strong>der</strong> herrschenden Urteilsweise nur nutzlos<br />
ersche<strong>in</strong>en, warum soll sie (für diese) – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat ganz und gar unzufällig – nicht so nutzlos<br />
wie möglich se<strong>in</strong>? Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach liegt die +kritische Masse* des kritischen Denkens<br />
genau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er willkürlichen (d.h. gewollten), bewußten E<strong>in</strong>seitigkeit und (nicht-identischen)<br />
+Subjektivität*, die sich <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung durch die Verwalter des status quo zu entziehen<br />
trachtet. Der hier im folgenden von mir vorgelegte theoretische Entwurf wird sich deshalb<br />
bemühen, so +unbrauchbar* wie nur möglich zu se<strong>in</strong>, um sich vor <strong>der</strong> +Verbrauchung* se<strong>in</strong>es<br />
kritischen Potentials zu schützen.<br />
Dies (und an<strong>der</strong>es mehr) könnte e<strong>in</strong>e +zeitgemäße* kritische Theorie vom durchaus opposi-<br />
tionellen, subversiven poststrukturalistischen Diskurs lernen (vgl. auch Ryan: Marxism and<br />
3<br />
Deconstruction). Und vielleicht möchte ich – +grund-los* und +ohne je Gewißheit zu haben*,<br />
aber bestimmt und +aus Sorge um die Gerechtigkeit* – e<strong>in</strong>es jener von Derrida ausgemachten<br />
+Marx-Gespenster* se<strong>in</strong>, das <strong>der</strong> furchte<strong>in</strong>flößenden, weil un(an)greifbaren +neuen Internationale*<br />
4<br />
angehört (vgl. Marx’ Gespenster; S. 274). Denn:<br />
+Man erzittert vor <strong>der</strong> Hypothese, daß, begünstigt durch e<strong>in</strong>e jener Metamorphosen, von denen Marx<br />
so oft gesprochen hat […], e<strong>in</strong> neuer ›Marxismus‹ nicht mehr die Gestalt haben könnte, unter <strong>der</strong> man<br />
ihn zu identifizieren und <strong>in</strong> die Flucht zu schlagen man sich gewöhnt hatte. Vielleicht hat man nicht<br />
mehr Angst vor den Marxisten, wohl aber hat man noch Angst vor gewissen Nicht-Marxisten, die auf<br />
das Marxsche Erbe nicht verzichtet haben, Krypto-Marxisten, Pseudo- o<strong>der</strong> Para-›Marxisten‹, die bereit<br />
wären, die Ablösung zu übernehmen, mit B<strong>in</strong>destrichen o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Anführungszeichen, die zu demaskieren<br />
die verängstigten Experten des Antikommunismus nicht geübt genug wären.* (Ebd.)<br />
Auf diese (gespenstische) Weise kann vielleicht gerade <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er aktuell durch den Zusammen-<br />
bruch des +real existierenden Sozialismus* noch verschärften Krise e<strong>in</strong>e Erneuerung und Befreiung