Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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294 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE hat. Darum haben in der derzeitigen Situation selbst Außenseitertheorien wie die des Bio-Farmers Mark Purdey, der BSE auf den Einsatz von Organophosphat-Pestiziden zurückführt (siehe S. 281f.), noch immer eine, wenn auch geringe, Chance zur Durchsetzung. Die Unbestimmtheit des wissenschaftlichen Diskurses und die interpretative Flexibilität, die derzeit herrscht, stehen im merkwürdigen Kontrast zur Bestimmtheit des politischen Krisen- managements. Nach der anfänglichen Negierung und der darauffolgenden primär symbolischen Deflexion der Krise hat man sich nämlich, wie dargestellt, mittlerweile für eine +Strategie der tabula rasa* entschieden und, aufgrund der Reflexivität des BSE-Risikos (d.h. vor allem auch seiner Wahrnehmung durch die Verbraucher), ein umfassendes Tötungsprogramm be- schlossen. Dieses Tötungsprogramm ist ein Versuch der (seinerseits risikobehafteten) techno- logischen Deflexion des BSE-Risikos – wenn auch auf einer technologisch eher +primitiven* Ebene, da Medikamente oder Impfstoffe augenblicklich (und wohl auch auf absehbare Zeit) nicht zur Verfügung stehen. So bleibt, weil Heilung unmöglich ist, scheinbar als einziger Ausweg die Tötung der Tiere, um die Seuche zu kontrollieren (bzw. um zumindest den Eindruck einer Kontrollierbarkeit zu erzeugen). Die Tötung der Tiere ist technologisch, insoweit sie Tötungstechnik erfordert. Jene ist zwar rein konventioneller Natur, denn sie schreibt nur die alltägliche Praxis in den Schlachthäusern fort, aber sie stellt, was die Größenordnung anbelangt, doch eine logistische Herausforderung dar. Insbesondere die Tierkörpervernichtungskapazitäten sind knapp. Deflexiv ist die Tötung der Rinder, insoweit sie im Rahmen gängiger (technokratischer) Lösungsstrategien verbleibt und die Grundlagen des eigenen Handelns von den institutionellen Akteuren nicht hinterfragt werden. Allerdings kann man durchaus anzweifeln, daß das beschlossene Tötungsprogramm zur Abwehr des BSE-Risikos tatsächlich wirksam ist. Vielmehr kann man, wie schon mehrfach angemerkt, durchaus den Eindruck gewinnen, daß es sich hier um eine eher symbolische Deflexion handelt, die primär auf eine Beruhigung der Öffentlichkeit abzielt. Denn erstens ist es noch immer nicht gewiß, daß BSE sich tatsächlich durch Fleischverzehr übertragen läßt. Zweitens hat eine Vielzahl von Verbrauchern wahrscheinlich bereits in der Vergangenheit genügend +infiziertes* Rindfleisch gegessen, um sich infiziert zu haben, wenn eine Infektion auf diesem Weg stattfinden kann. Kritische Wissenschaftler wie Stephen Dealler gehen deshalb im ungünstigsten Fall davon aus, daß nahezu alle erwachsenen britischen Verbraucher von BSE betroffen sein
KAP. 4: DER FALL +BSE* 295 65 könnten. Drittens ist keineswegs gesagt, daß BSE (vor allem durch den noch lange Zeit nach Ausbruch der Seuche praktizierten Export von britischem Tiermehl) nicht auch schon auf Rinderpopulationen außerhalb Großbritanniens übergegriffen hat und es dort nur noch nicht zum Ausbruch gekommen ist – weshalb die Vernichtung des britischen Bestands, wo die Fallzahlen schließlich bereits drastisch zurückgegangen sind, in eine falsche Sicherheit wiegen könnte. Viertens wäre es denkbar, daß sich gerade durch die Schlachtung zusätzliche Personen anstecken: nämlich jene Arbeiter, die mit infektiösem Material beim Töten der Tiere in Berührung kommen. Fünftens schließlich besteht eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit, daß – trotz angeordneter Vernichtung – Fleisch von britischen Rindern in relevanten Mengen illegal auf den Markt gelangt. Hierfür gibt es bereits eine Reihe von Beispielfällen (vgl. z.B. Blüthmann/- Reicherzer: Betrug leichtgemacht). Die beschlossene Tötungsaktion vermittelt also nicht viel mehr als die Illusion, daß die Seuche BSE +beherrschbar* ist. Indem man die Rinder auslöscht, suggeriert man, das Problem sei damit gelöst. Doch der Kern dieses Problems besteht wahrscheinlich eher im instrumentellen Umgang mit Lebenwesen und unserer Umwelt als in der Existenz der Rinder – denn diese sind schließlich gerade gemäß der +offiziellen* Theorie nur deshalb erkrankt, weil man Scapie- verseuchtes Tiermehl an sie verfütterte, um den Milchertrag zu steigern. Ein solcher nicht nur ethisch problematischer, sondern immer Risiken beinhaltender instrumenteller Umgang mit +Umwelt* fußt auf der abstrakten (d.h. objektivierenden, +entbetteten*) Vernunft des wissen- schaftlichen Denkens in Kombination mit ökonomischer Zweckrationalität. Natürlich: Wissenschaft hat im Fall von BSE wesentlich zur Aufdeckung der Risiken beigetragen, die drohende Gefahr erst bewußt gemacht. Durch ihre +Enthüllungen* trägt sie also wesentlich zur sozialen Gefahrenkonstruktion bei, und erst mit der Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse der Veterinäre des MAFF erhielt BSE seinen Namen und war damit im öffentlichen Diskurs präsent. Zudem muß berücksichtigt werden, daß es schließlich Wissenschaftler waren, die mit Übertragungsexperimenten sowie Vergleichsstudien einen Zusammenhang zwischen BSE und CJK nahe legten und so die Politik zu einer Aufgabe ihrer Negationsstrategie zwangen. Aber Wissenschaft war im Kontext von BSE immer ein ambivalenter Faktor. Sie hat nicht nur das BSE-Risiko +reflektiert*, sondern sich auch in den Dienst der politischen Deflexion gestellt. So haben sogar namhafte Forscher – als keinerlei nähere Erkenntnisse vorlagen und selbst dann noch, als das Gegenteil bereits wahrscheinlich war oder doch zumindest hätte
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R<strong>in</strong><strong>der</strong>populationen außerhalb Großbritanniens übergegriffen hat und es dort nur noch nicht<br />
zum Ausbruch gekommen ist – weshalb die Vernichtung des britischen Bestands, wo die<br />
Fallzahlen schließlich bereits drastisch zurückgegangen s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e falsche Sicherheit wiegen<br />
könnte. Viertens wäre es denkbar, daß sich gerade durch die Schlachtung zusätzliche Personen<br />
anstecken: nämlich jene Arbeiter, die mit <strong>in</strong>fektiösem Material beim Töten <strong>der</strong> Tiere <strong>in</strong> Berührung<br />
kommen. Fünftens schließlich besteht e<strong>in</strong>e nicht ger<strong>in</strong>ge Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, daß – trotz<br />
angeordneter Vernichtung – Fleisch von britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> relevanten Mengen illegal auf<br />
den Markt gelangt. Hierfür gibt es bereits e<strong>in</strong>e Reihe von Beispielfällen (vgl. z.B. Blüthmann/-<br />
Reicherzer: Betrug leichtgemacht).<br />
Die beschlossene Tötungsaktion vermittelt also nicht viel mehr als die Illusion, daß die Seuche<br />
BSE +beherrschbar* ist. Indem man die R<strong>in</strong><strong>der</strong> auslöscht, suggeriert man, das Problem sei<br />
damit gelöst. Doch <strong>der</strong> Kern dieses Problems besteht wahrsche<strong>in</strong>lich eher im <strong>in</strong>strumentellen<br />
Umgang mit Lebenwesen und unserer Umwelt als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Existenz <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong> – denn diese<br />
s<strong>in</strong>d schließlich gerade gemäß <strong>der</strong> +offiziellen* Theorie nur deshalb erkrankt, weil man Scapie-<br />
verseuchtes Tiermehl an sie verfütterte, um den Milchertrag zu steigern. E<strong>in</strong> solcher nicht<br />
nur ethisch problematischer, son<strong>der</strong>n immer Risiken be<strong>in</strong>halten<strong>der</strong> <strong>in</strong>strumenteller Umgang<br />
mit +Umwelt* fußt auf <strong>der</strong> abstrakten (d.h. objektivierenden, +entbetteten*) Vernunft des wissen-<br />
schaftlichen Denkens <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit ökonomischer Zweckrationalität. Natürlich: Wissenschaft<br />
hat im Fall von BSE wesentlich zur Aufdeckung <strong>der</strong> Risiken beigetragen, die drohende Gefahr<br />
erst bewußt gemacht. Durch ihre +Enthüllungen* trägt sie also wesentlich zur sozialen<br />
Gefahrenkonstruktion bei, und erst mit <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> Untersuchungsergebnisse<br />
<strong>der</strong> Veter<strong>in</strong>äre des MAFF erhielt BSE se<strong>in</strong>en Namen und war damit im öffentlichen Diskurs<br />
präsent. Zudem muß berücksichtigt werden, daß es schließlich Wissenschaftler waren, die<br />
mit Übertragungsexperimenten sowie Vergleichsstudien e<strong>in</strong>en Zusammenhang zwischen BSE<br />
und CJK nahe legten und so die <strong>Politik</strong> zu e<strong>in</strong>er Aufgabe ihrer Negationsstrategie zwangen.<br />
Aber Wissenschaft war im Kontext von BSE immer e<strong>in</strong> ambivalenter Faktor. Sie hat nicht<br />
nur das BSE-Risiko +reflektiert*, son<strong>der</strong>n sich auch <strong>in</strong> den Dienst <strong>der</strong> politischen Deflexion<br />
gestellt. So haben sogar namhafte Forscher – als ke<strong>in</strong>erlei nähere Erkenntnisse vorlagen und<br />
selbst dann noch, als das Gegenteil bereits wahrsche<strong>in</strong>lich war o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest hätte