Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

edition.fatal.de
von edition.fatal.de Mehr von diesem Publisher
09.12.2012 Aufrufe

286 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE 54 hundert Fälle bekannt waren und täglich neue hinzu kamen (siehe nochmals Abb. 4). Doch auch dann noch verschloß man demonstrativ die Augen vor der Dimension der Gefahr. Insbesondere ein Risiko für den Menschen wurde +prophylaktisch* negiert, und die Politiker betonten ritualhaft, daß durch BSE keine Gefährdung für die Verbraucher gegeben sei. Doch diese nichts sehen-, nichts hören-, nichts-offen-aussprechen-Strategie stieß mit dem dramatischen Anstieg der Fallzahlen ab 1988/89 an ihre Grenzen und wurde durch die Veröffentlichung von Experimenten, die eine grundsätzliche Übertragbarkeit von BSE auf andere Spezies (und somit vielleicht auch auf den Menschen) zeigten (siehe S. 277), gänzlich unmöglich. Stufe 2 – (Symbiotische) Deflexion: +British beef is safe – says science, too, and report the media*. Die (späte) Nachricht von der neuen Rinderseuche BSE und ihre mögliche Infektiosität löste bei den Verbrauchern kritische Reflexe aus. Die Politik mußte deshalb handeln. Also verbot man im Juli 1988 die Verfütterung von Tiermehl an Rinder (das man als Infek- tionsquelle betrachtete, trotzdem aber weiterhin in die ganze übrige Welt exportierte) und untersagte 1989 die Verwendung von als +besonders infektiös* geltenden Rinderteilen für die menschliche Ernährung (siehe S. 274f.). Insbesondere zeigte man sich aber im Ausland besorgt. Der britische Rindfleischexport war bedroht. Deutschland, Italien und Frankreich verhängten 1989 einseitige Importsperren, die erst nach britischem Druck auf die EU-Organe wieder aufgehoben wurden (siehe Anmerkung 9). Die britische Politik nutzte zur Erreichung dieses Ziels gezielt wissenschaftliche Deflexionsressourcen (siehe auch Abschnitt 4.3). Insbe- sondere die Mitarbeiter des MAFF bemühten sich (neben einer Verharmlosung des Übertra- gungsrisikos), die britische Regierung mit epidemiologischem Material zu munitionieren, das ein baldiges Ende der Seuche versprach. Dazu schreckte man auch nicht vor +statistischem Betrug* zurück: d.h. man wies z.B. Anfang der 90er Jahre gegenüber der EU (ganz richtig) darauf hin, daß unter den nach dem Tiermehl-Fütterungsverbot von 1988 geborenen Tieren so gut wie keine BSE-Fälle aufgetreten waren – ohne aber gleichzeitig zu sagen, daß die meisten 55 Kühe erst im Alter von 5 Jahren BSE entwickeln (siehe auch Anmerkung 14). Kritische Stimmen wurden, soweit möglich, unterdrückt (siehe nochmals Anmerkung 25 sowie S. 296). Auch die britischen Medien dienten der Deflexion (siehe auch Abschnitt 4.4, insb. S. 297ff.). Zum einen, indem Politiker demonstrativ vor laufender Kamera britisches Rindfleisch verzehren +durften*. Zum anderen, indem vor allem die Presse die BSE-Problematik (auf Anregung der

KAP. 4: DER FALL +BSE* 287 Politik) zu einer nationalen und handelspolitischen Frage umdefinierte. So deutete man die Exportbeschränkungen für britisches Rindfleisch in erster Linie als protektionistische Maßnahme des Auslands, wobei die BSE-Problematik angeblich nur als Vorwand diente. Diese Deflexions- Strategie gelang allerdings nicht mehr, als im März 1996 selbst die britische Regierung aufgrund medizinischer Studien eine Übertragbarkeit von BSE auf den Menschen nicht mehr ausschließen wollte (siehe nochmals S. 275). Ergebnis dieses Eingeständnisses war ein (kurzfristiger) Rückgang des innerbritischen Rindfleischkonsums um ca. 30% und alleine bis Mitte 1996 ein Verlust von etwa 10.000 Arbeitsplätzen. In Deutschland, wohin – zumindest auf direktem Weg – 56 kaum britisches Rindfleisch exportiert worden war, sank der Rindfleisch-Absatz zeitweise gar um bis zu 50% (vgl. Hacker: Stichwort BSE; S. 89). Stufe 3 – Schadensbegrenzung durch tabula rasa: +Fury in the slaughterhouse*. Die Negationsstrategie und die Strategie einer primär symbolischen Deflexion in +Kooperation* mit Wissenschaft und Medien war somit für die Politik zu einem relativen Desaster geraten. Man hatte auf sie zurückgegriffen, weil man die Interessen der britischen Rinder- und Fleisch- industrie zu schützen versuchte (die im nachhinein betrachtet natürlich im Gegenteil immens geschädigt wurden). Überhaupt ist die gesamte BSE-Problematik in erster Linie das Ergebnis einer extrem kurzsichtigen politischen Stützung rein ökonomischer Interessen – gerade wenn man sich die +offizielle* These der Übertragung von Scrapie auf die Rinder durch unzureichend 57 aufbearbeitetes Tiermehl zu eigen macht. Denn warum, wenn nicht auf Drängen der Tiermehl- Hersteller, hätte sich die britische Regierung veranlaßt fühlen sollen, die Bestimmungen für die Tierkörperverarbeitung Anfang der 80er Jahre zu lockern? So aber konnten die Profit- und Exportchancen (zunächst) gesteigert werden. Sicherheitserwägungen und +öffentliche Interessen* spielten offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle. Das rächt sich nun. Um das verlorene Vertrauen in die Rindfleischindustrie und vor allem in die Politik wieder- herzustellen, versucht man deshalb mit drastischen Maßnahmen zu demonstrieren, daß man das Problem zu lösen gewillt ist und die Situation im Griff hat. Freilich bekämpft man tatsächlich weniger BSE als die in Großbritannien lebenden Rinder. Der 1996 in Verhandlungen mit der EU beschlossene Anti-BSE-Plan sieht die Tötung von sämtlichen Tieren über dem Alter von 30 Monaten sowie die Tötung von Tieren aus besonders betroffenen Herden vor: Das sind ca. 4,5 Mio. Rinder, von denen wahrscheinlich nur ein geringer Bruchteil BSE-infiziert

KAP. 4: DER FALL +BSE* 287<br />

<strong>Politik</strong>) zu e<strong>in</strong>er nationalen und handelspolitischen Frage umdef<strong>in</strong>ierte. So deutete man die<br />

Exportbeschränkungen für britisches R<strong>in</strong>dfleisch <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie als protektionistische Maßnahme<br />

des Auslands, wobei die BSE-Problematik angeblich nur als Vorwand diente. Diese Deflexions-<br />

Strategie gelang allerd<strong>in</strong>gs nicht mehr, als im März 1996 selbst die britische Regierung aufgrund<br />

mediz<strong>in</strong>ischer Studien e<strong>in</strong>e Übertragbarkeit von BSE auf den Menschen nicht mehr ausschließen<br />

wollte (siehe nochmals S. 275). Ergebnis dieses E<strong>in</strong>geständnisses war e<strong>in</strong> (kurzfristiger) Rückgang<br />

des <strong>in</strong>nerbritischen R<strong>in</strong>dfleischkonsums um ca. 30% und alle<strong>in</strong>e bis Mitte 1996 e<strong>in</strong> Verlust<br />

von etwa 10.000 Arbeitsplätzen. In Deutschland, woh<strong>in</strong> – zum<strong>in</strong>dest auf direktem Weg – 56<br />

kaum britisches R<strong>in</strong>dfleisch exportiert worden war, sank <strong>der</strong> R<strong>in</strong>dfleisch-Absatz zeitweise<br />

gar um bis zu 50% (vgl. Hacker: Stichwort BSE; S. 89).<br />

Stufe 3 – Schadensbegrenzung durch tabula rasa: +Fury <strong>in</strong> the slaughterhouse*. Die<br />

Negationsstrategie und die Strategie e<strong>in</strong>er primär symbolischen Deflexion <strong>in</strong> +Kooperation*<br />

mit Wissenschaft und Medien war somit für die <strong>Politik</strong> zu e<strong>in</strong>em relativen Desaster geraten.<br />

Man hatte auf sie zurückgegriffen, weil man die Interessen <strong>der</strong> britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Fleisch-<br />

<strong>in</strong>dustrie zu schützen versuchte (die im nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> betrachtet natürlich im Gegenteil immens<br />

geschädigt wurden). Überhaupt ist die gesamte BSE-Problematik <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das Ergebnis<br />

e<strong>in</strong>er extrem kurzsichtigen politischen Stützung re<strong>in</strong> ökonomischer Interessen – gerade wenn<br />

man sich die +offizielle* These <strong>der</strong> Übertragung von Scrapie auf die R<strong>in</strong><strong>der</strong> durch unzureichend<br />

57<br />

aufbearbeitetes Tiermehl zu eigen macht. Denn warum, wenn nicht auf Drängen <strong>der</strong> Tiermehl-<br />

Hersteller, hätte sich die britische Regierung veranlaßt fühlen sollen, die Bestimmungen für<br />

die Tierkörperverarbeitung Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre zu lockern? So aber konnten die Profit-<br />

und Exportchancen (zunächst) gesteigert werden. Sicherheitserwägungen und +öffentliche<br />

Interessen* spielten offensichtlich nur e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle. Das rächt sich nun.<br />

Um das verlorene Vertrauen <strong>in</strong> die R<strong>in</strong>dfleisch<strong>in</strong>dustrie und vor allem <strong>in</strong> die <strong>Politik</strong> wie<strong>der</strong>-<br />

herzustellen, versucht man deshalb mit drastischen Maßnahmen zu demonstrieren, daß man<br />

das Problem zu lösen gewillt ist und die Situation im Griff hat. Freilich bekämpft man tatsächlich<br />

weniger BSE als die <strong>in</strong> Großbritannien lebenden R<strong>in</strong><strong>der</strong>. Der 1996 <strong>in</strong> Verhandlungen mit<br />

<strong>der</strong> EU beschlossene Anti-BSE-Plan sieht die Tötung von sämtlichen Tieren über dem Alter<br />

von 30 Monaten sowie die Tötung von Tieren aus beson<strong>der</strong>s betroffenen Herden vor: Das<br />

s<strong>in</strong>d ca. 4,5 Mio. R<strong>in</strong><strong>der</strong>, von denen wahrsche<strong>in</strong>lich nur e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Bruchteil BSE-<strong>in</strong>fiziert

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!