Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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276 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE 40000 35000 30000 25000 20000 15000 10000 5000 0 1 0 0 4 11 14 61 127 384 1968 73/74 74/75 75/76 76/77 77/78 78/79 79/80 80/81 81/82 82/83 83/84 84/85 85/86 86/87 87/88 88/89 89/90 90/91 91/92 Abbildung 9: BSE-Fälle in Großbritannien bis Ende 1994, aufgeschlüsselt nach Geburtskohorten (Quelle: Wilesmith: Recent Observations on the Epidemiology of Bovine Spongiform Encephalopathy; Tab. 4.1, S. 46) 1996 die britische Regierung – namentlich Gesundheitsminister Dorrell und Landwirtsschaftsmini- ster Hogg – entgegen den bisherigen Beteuerungen zu verlautbaren, daß man nicht ausschließen könne, daß BSE auf den Menschen übertragbar sei. Daraufhin wurde von der EU endlich ein totales Importverbot für britische Rinder und britisches Rindfleisch sowie rindergewebshaltige Produkte (wie z.B. bestimmte Arzneimittel und Kosmetika) erlassen. Und natürlich löste das 5218 8199 12280 22391 36471 britische +Eingeständnis* auch eine neue Welle der +Medienhysterie* aus. Soweit vorerst zur Abfolge der Ereignisse. Es scheint aber schon jetzt offensichtlich, daß die entfaltete öffentliche Dynamik von einer theoretischen Annahme wesentlich angefacht wurde: daß es sich bei BSE um eine (auf den Menschen) übertragbare infektiöse Krankheit handelt. Diese Annahme ist nicht unbegründet. Im Fall von Scrapie ist die Möglichkeit einer einfachen 18 +horizontalen* Übertragung sogar schon seit den 30er und 40er Jahren gut dokumentiert. So hatte beispielsweise 1935 die Impfung von Schafen mit einem Scrapie-verseuchten Vakzin gegen eine Viruserkrankung zur Infektion einer Vielzahl von Tieren geführt, und auch experimen- tell gelang die Übertragung von Scrapie durch subkutane Injektion (vgl. Gordon: Advances in Veterinary Research). In den 60er Jahren zeigten schließlich Versuche, daß Schimpansen 12712 5593 695 21
KAP. 4: DER FALL +BSE* 277 Kuru-ähnliche Symptome entwickeln, wenn man ihnen Hirn-Material von erkrankten Personen direkt intrazerebral verabreicht (vgl. Gajdusek et al.: Experimental Transmission of a Kuru-Like Syndrome to Chimpanzees). Seitdem haben eine ganze Reihe von Studien erbracht, daß praktisch alle bisher bekannten spongiformen Enzephalopathien – selbst jene, die angeblich genetischen Ursprungs sind, wie z.B. das GSS-Syndrom (siehe nochmals Tab. 12) – sich nicht nur innerhalb einer Spezies, sondern (allerdings nur begrenzt und manchmal unter Schwierigkeiten) auch 19 von einer Spezies auf die andere übertragen lassen. Von den Medien aufgeregt zitierte Unter- suchungen, die eine Übertragbarkeit von BSE auf Mäuse zeigten (vgl. Fraser et al.: Transmission 20 of Bovine Spongiform Encephalopathy to Mice), mußten deshalb kaum verwundern. Es gibt bis jetzt allerdings keinen +Beweis* dafür, daß BSE auch für den Menschen gefährlich ist – wenngleich ein gewisses Risiko selbst nach (strengen) +wissenschaftlichen Maßstäben* durchaus plausibel erscheint (vgl. z.B. Johnson: Real and Theoretical Threats to Human Health Posed by the Epidemic of Bovine Spongiform Encephalopathy). Daß spongiforme Enzephalopathien grundsätzlich infektiös sind und damit eine zumindest potentielle Gefährdung des Menschen durch BSE gegeben ist, scheint also nach allen bisher 21 vorliegenden Erkenntnissen durchaus wahrscheinlich zu sein. Doch was könnte der Erreger dieser Infektion bzw. der eigentliche Auslöser der Erkrankung sein? Dies ist eine zentrale Frage vor allem, wenn es um die Einschätzung des +tatsächlichen* Gefährdungspotentials und um die Beurteilung der Wirksamkeit der getroffenen Gegenmaßnahmen geht (von einer Therapie einmal ganz abgesehen). Da wir uns aber gegenwärtig noch in einer Phase +inter- pretativer Flexibilität* befinden (siehe zu diesem Begriff S. 129), gibt es derzeit, auch wenn sich eine Schließung der Debatte abzuzeichnen scheint, eine Reihe konkurrierender Theorien: die (konservative) Virus-Theorie, die (+herausfordernde*, aber im wissenschaftlichen Diskurs immer mächtiger gewordene) Prionentheorie und die (Außenseiter-)Theorie einer Organo- phosphat-Vergiftung als Auslöser für die in der Prionentheorie postulierte pathogene Konformation des Prion-Proteins. • Die konservative Theorie: Ein Virus als Erreger. Lange Zeit ging man davon aus, daß es sich bei den (übertragbaren) spongiformen Enzephalopathien um Viruserkrankungen handeln müsse. Schon in den 30er Jahren konnten nämlich Versuche mit Mikrofiltern zeigen, daß es sich bei Scrapie, das am besten untersucht ist, nicht um eine bakterielle Infektion handeln
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KAP. 4: DER FALL +BSE* 277<br />
Kuru-ähnliche Symptome entwickeln, wenn man ihnen Hirn-Material von erkrankten Personen<br />
direkt <strong>in</strong>trazerebral verabreicht (vgl. Gajdusek et al.: Experimental Transmission of a Kuru-Like<br />
Syndrome to Chimpanzees). Seitdem haben e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Studien erbracht, daß praktisch<br />
alle bisher bekannten spongiformen Enzephalopathien – selbst jene, die angeblich genetischen<br />
Ursprungs s<strong>in</strong>d, wie z.B. das GSS-Syndrom (siehe nochmals Tab. 12) – sich nicht nur <strong>in</strong>nerhalb<br />
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of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy to Mice), mußten deshalb kaum verwun<strong>der</strong>n. Es gibt<br />
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wenngleich e<strong>in</strong> gewisses Risiko selbst nach (strengen) +wissenschaftlichen Maßstäben* durchaus<br />
plausibel ersche<strong>in</strong>t (vgl. z.B. Johnson: Real and Theoretical Threats to Human Health Posed<br />
by the Epidemic of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy).<br />
Daß spongiforme Enzephalopathien grundsätzlich <strong>in</strong>fektiös s<strong>in</strong>d und damit e<strong>in</strong>e zum<strong>in</strong>dest<br />
potentielle Gefährdung des Menschen durch BSE gegeben ist, sche<strong>in</strong>t also nach allen bisher<br />
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vorliegenden Erkenntnissen durchaus wahrsche<strong>in</strong>lich zu se<strong>in</strong>. Doch was könnte <strong>der</strong> Erreger<br />
dieser Infektion bzw. <strong>der</strong> eigentliche Auslöser <strong>der</strong> Erkrankung se<strong>in</strong>? Dies ist e<strong>in</strong>e zentrale<br />
Frage vor allem, wenn es um die E<strong>in</strong>schätzung des +tatsächlichen* Gefährdungspotentials<br />
und um die Beurteilung <strong>der</strong> Wirksamkeit <strong>der</strong> getroffenen Gegenmaßnahmen geht (von e<strong>in</strong>er<br />
Therapie e<strong>in</strong>mal ganz abgesehen). Da wir uns aber gegenwärtig noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Phase +<strong>in</strong>ter-<br />
pretativer Flexibilität* bef<strong>in</strong>den (siehe zu diesem Begriff S. 129), gibt es <strong>der</strong>zeit, auch wenn<br />
sich e<strong>in</strong>e Schließung <strong>der</strong> Debatte abzuzeichnen sche<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong>e Reihe konkurrieren<strong>der</strong> Theorien:<br />
die (konservative) Virus-Theorie, die (+herausfor<strong>der</strong>nde*, aber im wissenschaftlichen Diskurs<br />
immer mächtiger gewordene) Prionentheorie und die (Außenseiter-)Theorie e<strong>in</strong>er Organo-<br />
phosphat-Vergiftung als Auslöser für die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Prionentheorie postulierte pathogene Konformation<br />
des Prion-Prote<strong>in</strong>s.<br />
• Die konservative Theorie: E<strong>in</strong> Virus als Erreger. Lange Zeit g<strong>in</strong>g man davon aus, daß<br />
es sich bei den (übertragbaren) spongiformen Enzephalopathien um Viruserkrankungen handeln<br />
müsse. Schon <strong>in</strong> den 30er Jahren konnten nämlich Versuche mit Mikrofiltern zeigen, daß<br />
es sich bei Scrapie, das am besten untersucht ist, nicht um e<strong>in</strong>e bakterielle Infektion handeln