Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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XXXIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE über Krieg und Tod* (1915) entlarvt er die +Kulturheuchelei* der angeblich so zivilisierten Gesellschaft, die die Tatsache ignoriert, daß es jederzeit zu einem +Rückfall in die Barbarei* kommen kann (vgl. S. 336). Denn +die primitiven, wilden und bösen Impulse der Menschheit [sind] bei keinem Einzelnen verschwunden*, sondern bestehen fort, +wenngleich verdrängt, im Unbewußten* (Brief Freuds an Dr. van Eeden, zitiert nach Lohmann: Freud zur Einführung; S. 44). Diese destruktiven Impulse, die in einem dialektischen Verhältnis zum Eros stehen, setzen der Kulturentwicklung Grenzen: 44 +Während die Menschheit in der Beherrschung der Natur ständige Fortschritte gemacht hat und noch größere erwarten darf, ist ein ähnlicher Fortschritt in der Regelung der menschlichen Angelegenheiten nicht sicher festzustellen.* (Die Zukunft einer Illusion; S. 87) Die Gesellschaft ist nämlich darauf angewiesen, die destruktiven, antisozialen Tendenzen im Menschen unter Kontrolle zu halten. Deshalb muß +jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen* (ebd.). So entsteht aber eine latente +Kulturfeindschaft*, ein +Unbehagen in der Kultur* (1930). Und je höher die Kultur entwickelt ist, je besser sie es schafft, die antisozialen Triebe zu kontrollieren, desto mehr steigt folglich dieses Unbehagen. Das bedeutet nicht unbedingt, daß die Menschen sich von der Zivilisation abwenden. Vielmehr suchen sich die destruktiven Regungen Umwege zur Befriedigung: Dies kann, wie in +Zeitgemäßes über Krieg und Tod* erläutert, die Gestalt eines Krieges annehmen, bei dem die kulturelle Tötungshemmung zeitweilig und auf die als Feind definierte Gruppe begrenzt außer Kraft gesetzt wird. Viel häufiger, sozusagen der kulturelle Normalfall, ist allerdings folgender Mechanismus, der auch zu krankhaften Erscheinungen wie Neurosen führen kann: +Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ›Gewissen‹ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. […] Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Innern, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen läßt.* (Das Unbehagen in der Kultur; S. 111) Dieser Ansatz Freuds wurde so ausführlich dargestellt, weil auch die vielleicht bedeutendste soziologische bzw. sozialpsychologische Schrift, die die Domestizierung des Menschen durch

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXXV die von ihm selbst geschaffene Kultur thematisiert, in wesentlichen Elementen auf Freud aufbaut: Es handelt sich um Norbert Elias’ groß angelegte soziogenetische und psychogenetische Unter- suchung +Über den Prozeß der Zivilisation* (1939). 45 An vielen eindrücklichen Beispielen (vor allem in Band 1) schildert Elias, wie es im Verlauf der (europäischen) Geschichte zu einer immer weitreichenderen Zivilisierung der menschlichen Affekte kam (vgl. Band 2; 369ff.), wie die Scham- und Peinlichkeitsgrenzen angehoben wurden (vgl. ebd.; S. 397ff.) und sich der +Fremdzwang* zum zivilisierten Umgang miteinander immer mehr in einen +Selbstzwang* verwandelte (vgl. ebd.; S. 312ff.), also ganz im Sinne Freuds eine Internalisierung kultureller Ansprüche stattfand. Ausgelöst wurde diese Dynamik durch einen ab dem späten Mittelalter einsetzenden Wandlungsprozeß: Bevölkerungswachstum, Aufschwung des Fernhandels und Geldwirtschaft (vgl. ebd.; Erster Teil) führten zu einer Diffe- renzierung und Komplexitätssteigerung des gesellschaftlichen Lebens: Die +Interdependenzketten* wurden länger, und damit war auch ein höheres Maß an vorausschauender Planung notwendig, was Elias als Zwang zur +Langsicht* bezeichnet (vgl. ebd.; S. 336ff.). Noch bedeutender waren jedoch die damit einhergehende Monopolisierung der staatlichen Gewalt und die Zentralisierung der Herrschaft: Die ritterlich-höfische Ordnung ging in eine höfisch-absolutistische Ordnung über, und die rauhen Sitten der Burgherren, die früher alleine an ihre ritterliche Ehre (courtoisie) gebunden waren, mußten sich am zentralen Königshof den verfeinerten Standards der +civilité* anpassen. Diese immer elaborierter werdenden höfischen Verhaltensregeln, die als Mittel zur Distinktion gegenüber dem +gemeinen* Volk dienten, wurden mit der Emanzipation des Bürgertums von diesem zum großen Teil übernommen – der Prozeß der Zivilisation verlief also von oben nach unten. 46 Aber die Zivilisierung des Menschen hat (wie bei Freud) auch bei Elias ihren Preis: Sie besteht im problematischen Zwang zur Unterdrückung der Affekte, der eine Spannung erzeugt, die sich nicht nur in individuellen Neurosen, sondern auch in gesellschaftlichen Kämpfen entladen kann (vgl. ebd.; S. 447ff.). Doch Elias ist weit weniger pessimistisch als Freud und stellt eine Utopie ans Ende seiner Ausführungen: nämlich, daß es eines Tages möglich sein wird, +daß der einzelne Mensch jenes optimale Gleichgewicht seiner Seele findet, das wir so oft mit großen Worten, wie ›Glück‹ und ›Freiheit‹ beschwören: […] den Einklang zwischen […] den gesamten Anforderungen seiner sozialen Existenz auf der einen Seite und seinen persönlichen Neigungen und Bedürfnissen auf der anderen* (ebd.; S. 454).

XXXIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

über Krieg und Tod* (1915) entlarvt er die +Kulturheuchelei* <strong>der</strong> angeblich so zivilisierten<br />

Gesellschaft, die die Tatsache ignoriert, daß es je<strong>der</strong>zeit zu e<strong>in</strong>em +Rückfall <strong>in</strong> die Barbarei*<br />

kommen kann (vgl. S. 336). Denn +die primitiven, wilden und bösen Impulse <strong>der</strong> Menschheit<br />

[s<strong>in</strong>d] bei ke<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>zelnen verschwunden*, son<strong>der</strong>n bestehen fort, +wenngleich verdrängt,<br />

im Unbewußten* (Brief Freuds an Dr. van Eeden, zitiert nach Lohmann: Freud zur E<strong>in</strong>führung;<br />

S. 44). Diese destruktiven Impulse, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dialektischen Verhältnis zum Eros stehen,<br />

setzen <strong>der</strong> Kulturentwicklung Grenzen: 44<br />

+Während die Menschheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beherrschung <strong>der</strong> Natur ständige Fortschritte gemacht hat und noch<br />

größere erwarten darf, ist e<strong>in</strong> ähnlicher Fortschritt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regelung <strong>der</strong> menschlichen Angelegenheiten<br />

nicht sicher festzustellen.* (Die Zukunft e<strong>in</strong>er Illusion; S. 87)<br />

Die Gesellschaft ist nämlich darauf angewiesen, die destruktiven, antisozialen Tendenzen<br />

im Menschen unter Kontrolle zu halten. Deshalb muß +jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht<br />

aufbauen* (ebd.). So entsteht aber e<strong>in</strong>e latente +Kulturfe<strong>in</strong>dschaft*, e<strong>in</strong> +Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Kultur* (1930). Und je höher die Kultur entwickelt ist, je besser sie es schafft, die antisozialen<br />

Triebe zu kontrollieren, desto mehr steigt folglich dieses Unbehagen. Das bedeutet nicht<br />

unbed<strong>in</strong>gt, daß die Menschen sich von <strong>der</strong> Zivilisation abwenden. Vielmehr suchen sich die<br />

destruktiven Regungen Umwege zur Befriedigung: Dies kann, wie <strong>in</strong> +Zeitgemäßes über Krieg<br />

und Tod* erläutert, die Gestalt e<strong>in</strong>es Krieges annehmen, bei dem die kulturelle Tötungshemmung<br />

zeitweilig und auf die als Fe<strong>in</strong>d def<strong>in</strong>ierte Gruppe begrenzt außer Kraft gesetzt wird. Viel<br />

häufiger, sozusagen <strong>der</strong> kulturelle Normalfall, ist allerd<strong>in</strong>gs folgen<strong>der</strong> Mechanismus, <strong>der</strong> auch<br />

zu krankhaften Ersche<strong>in</strong>ungen wie Neurosen führen kann:<br />

+Die Aggression wird <strong>in</strong>trojiziert, ver<strong>in</strong>nerlicht, eigentlich aber dorth<strong>in</strong> zurückgeschickt, woher sie<br />

gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von e<strong>in</strong>em Anteil des Ichs übernommen,<br />

das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ›Gewissen‹ gegen das Ich dieselbe strenge<br />

Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an an<strong>der</strong>en, fremden Individuen befriedigt hätte.<br />

[…] Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, <strong>in</strong>dem sie es schwächt,<br />

entwaffnet und durch e<strong>in</strong>e Instanz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Innern, wie durch e<strong>in</strong>e Besatzung <strong>in</strong> <strong>der</strong> eroberten Stadt,<br />

überwachen läßt.* (Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur; S. 111)<br />

Dieser Ansatz Freuds wurde so ausführlich dargestellt, weil auch die vielleicht bedeutendste<br />

soziologische bzw. sozialpsychologische Schrift, die die Domestizierung des Menschen durch

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