Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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XXXII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE das Resultat einer übergreifenden Rationalisierung der Gesellschaft darstelle. Denn auch wenn +die Habgier des chinesischen Mandarin, des altrömischen Aristokraten […] jeden Vergleich [mit einem europäischen Kapitalisten] aus[hält]* (ebd.; S. 47), so fehlte nach Weber in der Antike und im Orient das spezifische rationalistische Element. 40 Diese übergreifende Rationalisierung, die +Entzauberung der Welt*, wie Weber verschiedentlich in Anlehnung an Schiller formuliert, äußert sich neben dem Feld der Ökonomie vor allem in den Bereichen Recht, Verwaltung, politische Herrschaft und Wissenschaft: Der Staat organisiert sich in einer alle Sektoren kontrollierenden Bürokratie, die nur nach zweckrationalen Gesichts- punkten urteilt und an exakte Verfahrensregeln gebunden ist (vgl. Wirtschaft und Gesellschaft; S. 551ff.). Die politische Führung beruht als legale Herrschaft auf rational geschaffenen Regeln (Rechtsnormen) und nicht auf unhinterfragter traditionaler Legitimation (vgl. Politik als Beruf; 41 S. 8). Auch die +Wissenschaft als Beruf* (1919) ist alleine auf rational-logisch begründete Sachaussagen beschränkt und sollte jegliche Werturteile vermeiden (vgl. S. 28ff.). Nur so kann sie der Allgemeinheit dienen. Allerdings sah Weber auch Probleme einer alles umfassenden Rationalisierung. Denn die rationale Lebensführung hat ein +stahlhartes Gehäuse* geschmiedet, das den Menschen zu erdrücken droht (vgl. Protestantische Ethik; S. 188). Diese problematische Seite des Rationalisierungsprozesses stellen Max Horkheimer und Theodor Adorno ins Zentrum ihrer von extremem Pessimismus geprägten Schrift +Dialektik der Aufklärung* (1944), welcher sich aus nur dem Trauma des 2. Weltkriegs und dem allmählichen Bekannt- werden des tatsächlichen Ausmaßes der Verbrechen des Nazismus erklären läßt. Aufklärung ist für Horkheimer und Adorno nämlich in einen neuen Mythos umgeschlagen – den Mythos, daß alles berechenbar ist und nur Nützlichkeitskriterien zählen. In diesem Sinn ist Aufklärung totalitär (vgl. S. 12). Der rationale Erklärungsanspruch ist allumfassend, denn der emanzipatorische Impuls der Aufklärung entspringt letztlich einer +radikal gewordene[n], mythische[n] Angst* (ebd.; S. 22). Diese Angst machte blind und veranlaßte die Menschen, ihr Heil in einer entfesselten Vernunft, die gegen alle althergebrachten Überzeugungen Sturm lief, zu suchen. Doch +die reine Vernunft wurde zur Unvernunft* (ebd.; S. 98), und sie besitzt +auch gegen die Perversion ihrer selbst […] kein Argument* (ebd.; S. 100). Diese Selbstaushöhlung der Vernunft ist zugleich der Kern des Rationalisierungsparadoxes: Das einseitige Vertrauen des modernen Menschen auf die ihrer Basis (dem Emanzipationsgedanken) beraubte Vernunft weist gewisse Züge von Irrationalität auf. 42
ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXXIII • Eng verbunden mit dem ambivalenten Rationalisierungsprozeß ist der Prozeß der Domesti- zierung. Auch zur Erläuterung dieses Zusammenhangs kann auf eine Schrift Horkheimers zurückgegriffen werden. In dem Band +Zur Kritik der instrumentellen Vernunft* (1947), wo er gedanklich an die +Dialektik der Aufklärung* anknüpft, stellt er klar, daß die Vernunft heute zu einem Instrument im Dienst der Macht geworden ist: +Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei der Beherrschung von Menschen und der Natur, ist zum einzigen Kriterium geworden* (S. 30). Eine positivistische Einstellung im Verbund mit der kapitalistischen Produktionsweise führt zu einer Unterwerfung der Natur des und durch den Menschen. Die Domestizierung hat also doppelten Charakter: +Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen. Herrschaft wird um der Herrschaft willen ›verinnerlicht‹.* (Ebd.; S. 94) Die Emanzipation von der Naturgewalt durch Technik hat damit auch einen doppelten Preis: Nicht nur müssen wir, je mehr Apparate zur Naturbeherrschung wir erfinden, auch um so mehr ihnen dienen – die zivilisatorische Kultur fordert darüber hinaus ein hohes Maß an Triebverzichten. Eine begrenzte Entschädigung dafür erfolgt über den Konsum: +Quantitativ gesprochen, hat ein moderner Industriearbeiter eine viel reichere Auswahl von Konsumgütern als ein Adliger des Ancien régime* (ebd.; S. 97) – ein Aspekt, den Herbert Marcuse mit dem Begriff der +repressiven Entsublimierung* gefaßt hat, denn die Befriedigung der Konsumwünsche wird mit dem Zwang zur Anpassung an die industrielle Massenkultur bezahlt (vgl. Der eindimen- sionale Mensch; S. 93ff.). Aufgrund dieses Zusammenhangs resümiert Horkheimer: +Die Formalisierung der Vernunft führt zu einer paradoxen Situation […] Der totalitäre Versuch, die Natur zu unterwerfen, reduziert das Ich, das menschliche Subjekt, auf ein bloßes Instrument der Unterdrückung […] Das philosophische Denken […], das die Versöhnung zu versuchen hätte, geht dazu über, den Antagonismus zu leugnen oder zu vergessen.* (Zur Kritik der instrumentellen Vernunft; S. 153) Der Zusammenhang zwischen Rationalisierung und Domestizierung erscheint also für Horkheimer evident. Es ist dabei wichtig zu wissen, daß er sich bei seiner Argumentation eng an Freuds 43 kulturkritische Schriften anlehnt. Freud hatte unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs sein Augenmerk vermehrt auf die Konstitution der menschlichen Kultur gerichtet. In +Zeitgemäßes
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ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXXIII<br />
• Eng verbunden mit dem ambivalenten Rationalisierungsprozeß ist <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Domesti-<br />
zierung. Auch zur Erläuterung dieses Zusammenhangs kann auf e<strong>in</strong>e Schrift Horkheimers<br />
zurückgegriffen werden. In dem Band +Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft* (1947), wo<br />
er gedanklich an die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* anknüpft, stellt er klar, daß die Vernunft heute<br />
zu e<strong>in</strong>em Instrument im Dienst <strong>der</strong> Macht geworden ist: +Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei<br />
<strong>der</strong> Beherrschung von Menschen und <strong>der</strong> Natur, ist zum e<strong>in</strong>zigen Kriterium geworden* (S.<br />
30). E<strong>in</strong>e positivistische E<strong>in</strong>stellung im Verbund mit <strong>der</strong> kapitalistischen Produktionsweise<br />
führt zu e<strong>in</strong>er Unterwerfung <strong>der</strong> Natur des und durch den Menschen. Die Domestizierung<br />
hat also doppelten Charakter:<br />
+Jedes Subjekt hat nicht nur an <strong>der</strong> Unterjochung <strong>der</strong> äußeren Natur teilzunehmen, son<strong>der</strong>n muß,<br />
um das zu leisten, die Natur <strong>in</strong> sich selbst unterjochen. Herrschaft wird um <strong>der</strong> Herrschaft willen<br />
›ver<strong>in</strong>nerlicht‹.* (Ebd.; S. 94)<br />
Die Emanzipation von <strong>der</strong> Naturgewalt durch Technik hat damit auch e<strong>in</strong>en doppelten Preis:<br />
Nicht nur müssen wir, je mehr Apparate zur Naturbeherrschung wir erf<strong>in</strong>den, auch um so<br />
mehr ihnen dienen – die zivilisatorische Kultur for<strong>der</strong>t darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong> hohes Maß an<br />
Triebverzichten. E<strong>in</strong>e begrenzte Entschädigung dafür erfolgt über den Konsum: +Quantitativ<br />
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als e<strong>in</strong> Adliger des Ancien régime* (ebd.; S. 97) – e<strong>in</strong> Aspekt, den Herbert Marcuse mit dem<br />
Begriff <strong>der</strong> +repressiven Entsublimierung* gefaßt hat, denn die Befriedigung <strong>der</strong> Konsumwünsche<br />
wird mit dem Zwang zur Anpassung an die <strong>in</strong>dustrielle Massenkultur bezahlt (vgl. Der e<strong>in</strong>dimen-<br />
sionale Mensch; S. 93ff.). Aufgrund dieses Zusammenhangs resümiert Horkheimer:<br />
+Die Formalisierung <strong>der</strong> Vernunft führt zu e<strong>in</strong>er paradoxen Situation […] Der totalitäre Versuch, die<br />
Natur zu unterwerfen, reduziert das Ich, das menschliche Subjekt, auf e<strong>in</strong> bloßes Instrument <strong>der</strong><br />
Unterdrückung […] Das philosophische Denken […], das die Versöhnung zu versuchen hätte, geht<br />
dazu über, den Antagonismus zu leugnen o<strong>der</strong> zu vergessen.* (Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft;<br />
S. 153)<br />
Der Zusammenhang zwischen Rationalisierung und Domestizierung ersche<strong>in</strong>t also für Horkheimer<br />
evident. Es ist dabei wichtig zu wissen, daß er sich bei se<strong>in</strong>er Argumentation eng an Freuds<br />
43<br />
kulturkritische Schriften anlehnt. Freud hatte unter dem E<strong>in</strong>druck des Ersten Weltkriegs se<strong>in</strong><br />
Augenmerk vermehrt auf die Konstitution <strong>der</strong> menschlichen Kultur gerichtet. In +Zeitgemäßes