Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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258 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE 3.5 DAS POLITISCHE DILEMMA DER INDIVIDUALISIERUNG One man, one vote! Dieses heute weitgehend durchgesetzte, lange Zeit jedoch keinesfalls selbstverständliche Prinzip ist der Ausdruck des egalitaristischen Moments wie der egalitären 71 Ideologie der (westlichen) Demokratie. Die individuelle Verschiedenheit und das faktische Ungleichgewicht der sozialen Kräfte soll in der formalen Gleichheit der politischen Stimmen (symbolisch) zum Verschwinden gebracht werden (und wird in interventionistischen Wohl- fahrtsstaaten – insbesondere des +sozialdemokratischen* Typus – durch eine begrenzte Umver- 72 teilung sowie eine aktive Gleichstellungspolitik auf materieller Ebene ergänzt). Die Glieder des +politischen Körpers* erhalten auf diese Weise, trotz ihrer sozialen und +funktionalen* Differenzierung, eine imaginäre, aber zugleich erfahrbare +Identität*. Im Ritual der Wahl wird also der politische Mythos der sozialen Einheit des Staatswesens (der die Grundlage so gut wie jeder traditionalen wie insbesondere auch der +modernen* politischen Ordnung im Nationalstaat bildet) praxologisch rekonstruiert und aktualisiert. Das Verfahren der politischen Wahl ist damit die +praktische* Lösung für das politische Paradox des Liberalismus: Die geforderte Einheit der Vielheit wird in ihr hergestellt – und das gerade durch ein auf der Konkurrenz um Stimmen beruhendes Wettbewerbsmodell. Der Theorie der liberalen Demokratie (siehe auch S. 44ff. sowie Abschnitt 1.4) gelten die tendenziell gegensätzlichen Partikularinteressen sozialer Teilgruppen, die sich auf der politischen Ebene in Verbänden und Parteien organisieren, nämlich nicht nur als unvermeidlich und legitim, sondern die Konkurrenz der politischen Gruppierungen/Eliten untereinander wird vielmehr als sozial produktiv angesehen (d.h. sofern sich die Interessenorganisationen in das institutionelle System eingliedern und sich an dessen +Spielregeln* halten). Das Parlament, das durch die Wahlen hervorgeht, spiegelt (und bündelt) die pluralen Interessen des von ihm repräsentierten Volkes und bildet gemäß der liberalen Theorie genau in dieser weitgehenden Kongruenz eine voll legitimierte (doch fiktive) Handlungseinheit – die durch die ungleichen Kräfteverhältnisse zwischen den Regierungsparteien und der Opposition allerdings +real* wird. Mit diesem Zusatz ist implizit dargelegt, was eingangs nur behauptet wurde – nämlich daß es sich bei der liberalen Demokratietheorie um eine Ideologie zur Verdeckung von Macht- ungleichgewichten handelt. Denn alle Interessen, die nicht zur Herrschaft gelangen, werden zwar repräsentiert, doch können sie sich (praktisch), aufgrund der bestehenden Mehrheitsregel, nicht durchsetzen. Es kann dabei durchaus angezweifelt werden, daß alle Interessen die gleiche

KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 259 Chance haben, zu +herrschenden Interessen* werden – und das nicht nur, weil sie eine unter- schiedliche Verankerung in der Bevölkerung haben, sondern weil sich aufgrund bestehender struktureller Ungleichgewichte manche Gruppen im +Spiel* der Interessenpolitik besser durch- setzen können als andere (vgl. dazu auch Offe: Politische Herrschaft und Klassenstrukturen). 73 Hinzu kommt noch, daß im repräsentativen System (ohne imperatives Mandat und plebiszitäre Elemente) alleine die Minderheit der Vertreter Beschlußbefugnisse besitzt, während +die große Masse* notwendig und erwünschter Weise (d.h. aus pragmatischen Motiven wie aus Gründen einer angenommenen politischen +Unzurechenbarkeit* der einfachen Wahlbürger) vom konkreten politischen Entscheidungsprozeß ausgeschlossen ist. Deshalb verweist auch Edelman auf den primär rituellen Charakter der politischen Wahl, bei der es nur vordergründig darauf ankommt, wer gewinnt oder verliert. Denn Wahlen haben die latente (doch für das Funktionieren der repräsentativen Demokratie entscheidende) Aufgabe, +den Glauben an die politische Mitbe- stimmung des Volkes zu vermitteln* (Politik als Ritual; S. 98) – erzeugen also das, was Luhmann als +Legitimation durch Verfahren* (1969) bezeichnet. Die bloße Aufdeckung dieser Ideologie genügt für eine politische Analyse jedoch genausowenig wie die letztendlich in einer Affirmation des Bestehenden endende Beschränkung auf die Funktionsbeschreibung der Wahl als (legitimitätsstiftendes) Verfahren zur Hervorbringung der Regierung. Versteht man die politische Wahl in Anlehnung an Claude Lefort und Marcel Gauchet dagegen als (praxologischen Deflexions-)Mechanismus zur symbolischen Reduktion von sozialen Konflikten, so verweist dies über eine simple Ideologiekritik hinausgreifend auf die Notwendigkeit zur ständigen symbolischen Erneuerung der politischen Machtgrundlage, weil sonst Legitimitätsentzug und ein Aufbrechen der auf diese Weise latent gehaltenen sozialen Konflikte droht. Die durch Wahlen etablierte und legitimierte politische Macht ist deshalb keinesfalls stabil, sondern permanent gefährdet. Dazu heißt bei Lefort und Gauchet: +Für denjenigen, der die politische Macht ausübt, geht es darum, sich in jedem Augenblick seiner Stellung zu vergewissern, sie unaufhörlich wieder herstellen zu müssen […] Als Individuum […] das die Allgemeinheit verkörpern soll, wird er unablässig genötigt sein, die Spuren auszulöschen, durch die seine Partikularität von neuem sichtbar wird.* (Über die Demokratie; S. 98) Die +Macht* ist also dazu verdammt, sich immer wieder neu selbst zu schaffen und zu legi- timieren. Sie nutzt dabei das praxologisch verinnerlichte Verfahren der politischen Wahl,

258 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

3.5 DAS POLITISCHE DILEMMA DER INDIVIDUALISIERUNG<br />

One man, one vote! Dieses heute weitgehend durchgesetzte, lange Zeit jedoch ke<strong>in</strong>esfalls<br />

selbstverständliche Pr<strong>in</strong>zip ist <strong>der</strong> Ausdruck des egalitaristischen Moments wie <strong>der</strong> egalitären<br />

71<br />

Ideologie <strong>der</strong> (westlichen) Demokratie. Die <strong>in</strong>dividuelle Verschiedenheit und das faktische<br />

Ungleichgewicht <strong>der</strong> sozialen Kräfte soll <strong>in</strong> <strong>der</strong> formalen Gleichheit <strong>der</strong> politischen Stimmen<br />

(symbolisch) zum Verschw<strong>in</strong>den gebracht werden (und wird <strong>in</strong> <strong>in</strong>terventionistischen Wohl-<br />

fahrtsstaaten – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e des +sozialdemokratischen* Typus – durch e<strong>in</strong>e begrenzte Umver-<br />

72<br />

teilung sowie e<strong>in</strong>e aktive Gleichstellungspolitik auf materieller Ebene ergänzt). Die Glie<strong>der</strong><br />

des +politischen Körpers* erhalten auf diese Weise, trotz ihrer sozialen und +funktionalen*<br />

Differenzierung, e<strong>in</strong>e imag<strong>in</strong>äre, aber zugleich erfahrbare +Identität*. Im Ritual <strong>der</strong> Wahl wird<br />

also <strong>der</strong> politische Mythos <strong>der</strong> sozialen E<strong>in</strong>heit des Staatswesens (<strong>der</strong> die Grundlage so gut<br />

wie je<strong>der</strong> traditionalen wie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>nen* politischen Ordnung im<br />

Nationalstaat bildet) praxologisch rekonstruiert und aktualisiert.<br />

Das Verfahren <strong>der</strong> politischen Wahl ist damit die +praktische* Lösung für das politische Paradox<br />

des Liberalismus: Die gefor<strong>der</strong>te E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Vielheit wird <strong>in</strong> ihr hergestellt – und das gerade<br />

durch e<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Konkurrenz um Stimmen beruhendes Wettbewerbsmodell. Der Theorie<br />

<strong>der</strong> liberalen Demokratie (siehe auch S. 44ff. sowie Abschnitt 1.4) gelten die tendenziell<br />

gegensätzlichen Partikular<strong>in</strong>teressen sozialer Teilgruppen, die sich auf <strong>der</strong> politischen Ebene<br />

<strong>in</strong> Verbänden und Parteien organisieren, nämlich nicht nur als unvermeidlich und legitim,<br />

son<strong>der</strong>n die Konkurrenz <strong>der</strong> politischen Gruppierungen/Eliten untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> wird vielmehr<br />

als sozial produktiv angesehen (d.h. sofern sich die Interessenorganisationen <strong>in</strong> das <strong>in</strong>stitutionelle<br />

System e<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>n und sich an dessen +Spielregeln* halten). Das Parlament, das durch die<br />

Wahlen hervorgeht, spiegelt (und bündelt) die pluralen Interessen des von ihm repräsentierten<br />

Volkes und bildet gemäß <strong>der</strong> liberalen Theorie genau <strong>in</strong> dieser weitgehenden Kongruenz<br />

e<strong>in</strong>e voll legitimierte (doch fiktive) Handlungse<strong>in</strong>heit – die durch die ungleichen Kräfteverhältnisse<br />

zwischen den Regierungsparteien und <strong>der</strong> Opposition allerd<strong>in</strong>gs +real* wird.<br />

Mit diesem Zusatz ist implizit dargelegt, was e<strong>in</strong>gangs nur behauptet wurde – nämlich daß<br />

es sich bei <strong>der</strong> liberalen Demokratietheorie um e<strong>in</strong>e Ideologie zur Verdeckung von Macht-<br />

ungleichgewichten handelt. Denn alle Interessen, die nicht zur Herrschaft gelangen, werden<br />

zwar repräsentiert, doch können sie sich (praktisch), aufgrund <strong>der</strong> bestehenden Mehrheitsregel,<br />

nicht durchsetzen. Es kann dabei durchaus angezweifelt werden, daß alle Interessen die gleiche

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