Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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204 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE liegt genau in ihrer Kapazität, die alte Ordnung umzukippen und die Widersprüche des beste- henden Systems offenzulegen (vgl. Production de la société; S. 430). Auch Herbert Blumer, als weiterer +Klassiker*, betont das für soziale Bewegungen typische 285 Bestreben, Innovationen durchzusetzen (vgl. Social Movements; S. 60). Er unterscheidet allerdings weniger zwischen alten und neuen, als vielmehr zwischen allgemeinen (d.h. soziale Grundfragen aufgreifenden) und spezifischen sozialen Bewegungen, die sich ganz konkreten 286 Problemen widmen (vgl. ebd.; S. 61–64). Von diesen beiden Typen grenzt er rein expressive 287 Bewegungen ab, die keine sozialen Veränderungen anstreben (vgl. ebd.; S. 76ff.). Eine parallele Differenzierung nimmt in der Gegenwart Dieter Rucht vor, der bezüglich ihrer Hand- 288 lungslogik instrumentelle von expressiven Bewegungen abgrenzt. Als zweite Unterscheidungs- Dimension dient Rucht die Stellung der Bewegung zum Modernisierungsprozeß, die in seinem Raster entweder promodern, antimodern oder ambivalent ist (vgl. Modernisierung und neue 289 soziale Bewegungen; S. 82ff.). Neue soziale Bewegungen, die zwar an bestimmten Prinzipien der Moderne (wie Egalität oder Emanzipation) festhalten, andererseits aber scharfe Kritik am ökonomisch-technischen Modernisierungsmodell üben, müßten offensichtlich, wenn man dieses Schema anwendet, durch eine ambivalente Position gegenüber Modernisierung gekenn- zeichnet sein (vgl. auch ebd.; S. 153ff.). Bei ihrer +Bewegung* handelt es sich also offensichtlich nicht um einen antimodernen, neo- romantischen Protest – auch wenn es gewisse Ähnlichkeiten zur romantischen Strömung gibt, die in der Epoche der Moderne die erste Welle der Zivilisationskritik repräsentierte (vgl. Brand: Neue soziale Bewegungen – Ein neoromantischer Protest?; S. 131ff.). Die neuen sozialen Bewegungen formulieren zwar auch Zivilisationskritik, sie sind jedoch nicht einseitig rückwärts- gewandt, sondern haben auch eine modernisierende Funktion, sind sogar +Hauptakteure des gesellschaftlichen Transformationsprozesses* (ebd.; S. 138). Was nun ihre Organisations- und Protestformen betrifft, so gibt es eine gewisse Kontinuität vor allem mit der 68er-Bewegung. Auch von dieser unterscheiden sie sich jedoch: durch einen weitgehenden Vertrauensverlust in das befreiende Potential der (einfachen) Moderne. Und zur Arbeiterbewegung, als der vielleicht wichtigsten sozialen Bewegung der Vergangenheit, besteht nicht nur eine inhaltliche Differenz (d.h. Fragen der Lebensweise treten gegenüber Verteilungsfragen in den Vordergrund), sondern sie sind auch anders als diese dezentral und autonom organisiert. (Vgl. ders.: Kontinuität und Diskontinuität in den neuen sozialen Bewegungen)
KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 205 Zusammenfassend läßt sich also mit Klaus Eder sagen: Die neuen sozialen Bewegungen sind ein ambivalentes Phänomen. Zum einen stehen sie in Kontinuität zum (produktivistischen) Projekt der Moderne (als der Selbstassoziation der Bürger); zum anderen verkörpern sie einen (anti-produktivistischen) Kontinuitätsbruch mit dem progressivistischen Ideal (vgl. Soziale Bewe- gung und kulturelle Evolution; S. 339f.). In dieser Ambivalenz halten sie die Moderne +offen* (vgl.; ebd.; S. 355) – und sind gleichzeitig das Zeichen für einen Bruch in der politischen Kultur, einer Verschiebung hin zu postmateriellen Werten und der subpolitischen Infragestellung der institutionalisierten Politik, die ihre Wurzel in der (reversiblen und ökonomisch dependenten) Dynamik von Individualisierungsprozessen hat. Der sich formierende Protest beruht dabei auch auf dem Bewußtsein für die globale (Risiko-)Dimension der reflexiven Moderne, wie vor allem Giddens und Beck (und an diesen anschließend Gottwies) dargelegt haben. Doch obwohl eine Transnationalisierung von NGOs wie +Greenpeace* oder +amnesty international* ausgemacht werden kann (siehe S. 95f.), ist der Nationalstaat und sein politisches System noch immer der primäre Protestadressat, weshalb Charles Tilly selbst für unsere Gegenwart im Zeichen der Globalisierung von +nationalen sozialen Bewegungen* spricht (vgl. Social Move- ments and National Politics; S. 304ff.). 290 Dieser Protestadressat ist jedoch, um abschließend auf die institutionelle Politik zu sprechen zu kommen, durch die neuen sozialen Bewegungen in zweifacher Hinsicht überfordert: Erstens verweisen diese das +System* schon als solche auf seine Unzulänglichkeiten und Begrenztheit. Aber auch auf ihre Botschaften hat man sich (zweitens) im institutionellen Kontext meiner Meinung nach nicht genügend eingelassen. Der subpolitische Protest wird deflektiert und 291 nicht reflektiert. Am +geschicktesten* reagiert die etablierte Politik dabei noch, wenn versucht wird, die Bewegungen zu umarmen (um sie zu erdrücken). Diese Taktik (die allerdings, wenn sie durchschaut wird, auch +nach hinten losgehen* kann) konnte man z.B. bei den jüngsten Studentenprotesten beobachten, wo sich Politiker aller Parteien mit den Studenten und ihren Zielen solidarisch erklärten – ohne freilich konkret auf ihre Forderungen einzugehen (vgl. auch Weck: An die Arbeit!). In ähnlicher Weise absorptiv ist der Versuch, Themen (neuer) sozialer Bewegungen, wie z.B. Frieden oder Umweltschutz, (parteiprogrammatisch) zu besetzen, um das Protestpotential – allerdings rein symbolisch – zu reintegrieren. Sehr häufig ist jedoch auch eine andere, weniger +geschickte* Reaktionsweise der Politik zu beobachten: nämlich der Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols (wenn z.B. Sitzblockaden
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204 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />
liegt genau <strong>in</strong> ihrer Kapazität, die alte Ordnung umzukippen und die Wi<strong>der</strong>sprüche des beste-<br />
henden Systems offenzulegen (vgl. Production de la société; S. 430).<br />
Auch Herbert Blumer, als weiterer +Klassiker*, betont das für soziale Bewegungen typische<br />
285<br />
Bestreben, Innovationen durchzusetzen (vgl. Social Movements; S. 60). Er unterscheidet<br />
allerd<strong>in</strong>gs weniger zwischen alten und neuen, als vielmehr zwischen allgeme<strong>in</strong>en (d.h. soziale<br />
Grundfragen aufgreifenden) und spezifischen sozialen Bewegungen, die sich ganz konkreten<br />
286<br />
Problemen widmen (vgl. ebd.; S. 61–64). Von diesen beiden Typen grenzt er re<strong>in</strong> expressive<br />
287<br />
Bewegungen ab, die ke<strong>in</strong>e sozialen Verän<strong>der</strong>ungen anstreben (vgl. ebd.; S. 76ff.). E<strong>in</strong>e<br />
parallele Differenzierung nimmt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart Dieter Rucht vor, <strong>der</strong> bezüglich ihrer Hand-<br />
288<br />
lungslogik <strong>in</strong>strumentelle von expressiven Bewegungen abgrenzt. Als zweite Unterscheidungs-<br />
Dimension dient Rucht die Stellung <strong>der</strong> Bewegung zum Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß, die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Raster entwe<strong>der</strong> promo<strong>der</strong>n, antimo<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> ambivalent ist (vgl. Mo<strong>der</strong>nisierung und neue<br />
289<br />
soziale Bewegungen; S. 82ff.). Neue soziale Bewegungen, die zwar an bestimmten Pr<strong>in</strong>zipien<br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (wie Egalität o<strong>der</strong> Emanzipation) festhalten, an<strong>der</strong>erseits aber scharfe Kritik am<br />
ökonomisch-technischen Mo<strong>der</strong>nisierungsmodell üben, müßten offensichtlich, wenn man<br />
dieses Schema anwendet, durch e<strong>in</strong>e ambivalente Position gegenüber Mo<strong>der</strong>nisierung gekenn-<br />
zeichnet se<strong>in</strong> (vgl. auch ebd.; S. 153ff.).<br />
Bei ihrer +Bewegung* handelt es sich also offensichtlich nicht um e<strong>in</strong>en antimo<strong>der</strong>nen, neo-<br />
romantischen Protest – auch wenn es gewisse Ähnlichkeiten zur romantischen Strömung gibt,<br />
die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne die erste Welle <strong>der</strong> Zivilisationskritik repräsentierte (vgl. Brand:<br />
Neue soziale Bewegungen – E<strong>in</strong> neoromantischer Protest?; S. 131ff.). Die neuen sozialen<br />
Bewegungen formulieren zwar auch Zivilisationskritik, sie s<strong>in</strong>d jedoch nicht e<strong>in</strong>seitig rückwärts-<br />
gewandt, son<strong>der</strong>n haben auch e<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>nisierende Funktion, s<strong>in</strong>d sogar +Hauptakteure<br />
des gesellschaftlichen Transformationsprozesses* (ebd.; S. 138). Was nun ihre Organisations-<br />
und Protestformen betrifft, so gibt es e<strong>in</strong>e gewisse Kont<strong>in</strong>uität vor allem mit <strong>der</strong> 68er-Bewegung.<br />
Auch von dieser unterscheiden sie sich jedoch: durch e<strong>in</strong>en weitgehenden Vertrauensverlust<br />
<strong>in</strong> das befreiende Potential <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne. Und zur Arbeiterbewegung, als <strong>der</strong><br />
vielleicht wichtigsten sozialen Bewegung <strong>der</strong> Vergangenheit, besteht nicht nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche<br />
Differenz (d.h. Fragen <strong>der</strong> Lebensweise treten gegenüber Verteilungsfragen <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund),<br />
son<strong>der</strong>n sie s<strong>in</strong>d auch an<strong>der</strong>s als diese dezentral und autonom organisiert. (Vgl. <strong>der</strong>s.: Kont<strong>in</strong>uität<br />
und Diskont<strong>in</strong>uität <strong>in</strong> den neuen sozialen Bewegungen)