Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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202 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE und Offe (und nun wird die Intention ihrer Ausgangsfrage verständlich) zwei Probleme: Erstens das Problem der Sicherstellung, daß tatsächlich nichts anderes als die Entscheidung der Mehrheit ausschlaggebend ist (und nicht etwa latente Machtstrukturen wirken) sowie zweitens das Problem, wie die Individuen auf den getroffenen Mehrheitsentscheid verpflichtet werden können (vgl. ebd.; S. 8ff.). Selbst wenn man das erste Problem vernachlässigt, tritt das zweite Problem umso schärfer hervor, sobald Grundfragen des Überlebens berührt werden (vgl. ebd.; S. 16ff.). Hier meldet sich der Minderheitenprotest, der schon nach Serge Moscovici eine wichtige 280 Rolle im Prozeß des sozialen Wandels spielt (vgl. Sozialer Wandel durch Minoritäten), berech- tigterweise auch gegen bestehende Mehrheiten zu Wort, und wir stehen somit +An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie*. 281 In dieser Argumentationsfigur ist das Grundproblem von +Politik in der Risikogesellschaft* (Gottwies 1988) angedeutet. Die reflexive Dynamik der Zivilisationsrisiken wirkt sich nämlich auch auf die politische Kultur und das politische Bewußtsein aus (vgl. S. 360–367). Die institu- tionalisierte Politik mit ihrem (zu) kurzen Zeithorizont, der durch die Wahlperiode bestimmt ist, geht aufgrund der vielen schleichenden, erst über vergleichsweise lange Zeiträume zutage tretenden Gefährdungen ein +risk-taking* ein und reagiert auf die Bedrohungen durch die latenten Nebenfolgen der industriellen Produktionsweise nur mit einem +peripheren Eingriff* (Mayer-Tasch), der die Risiken nicht beseitigt, sondern nur verspätet, dadurch aber umso heftiger hervortreten läßt (vgl. ebd.; S. 359). Dieses Defizit ist auf der Seite der Bürger über die Grenzen der klassischen politischen Lager hinweg wahrgenommen worden, und so engagieren sich in den neuen sozialen Bewegungen +Linke* wie +Rechte*. Damit entstehen Konturen einer +zivilen* Gesellschaft +Jenseits von Rechts und Links* (Giddens 1994), während die organisierte Linke aufgrund der gegenwärtigen ökonomischen Tendenzen weitgehend zu einer +konservativen* Kraft geworden ist, der es alleine darum geht, die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zu verteidigen, und die klassischen konservativen Parteien (zumindest auf wirtschaftspolitischer Ebene) schon vor geraumer Zeit ins neoliberale Lager übergewechselt sind (vgl. Beyond Left and Right; S. 2f. 282 und siehe auch Anmerkung 147, Kap. 1). Die neuen sozialen Bewegungen dagegen pflegen 283 eine neue +zivile Kultur* (Almond/Verba) – und darin (weniger in ihren konkreten Zielen) liegt zumindest nach Cohen und Arato ihr zentraler Beitrag für die +Bürgergesellschaft* der Zukunft (vgl. Civil Society and Political Theory; S. 562).
KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 203 Natürlich ist das eine sehr vage, ungenaue Aussage (was nicht so sehr Cohen und Arato als vielmehr meiner notwendigerweise verkürzenden Darstellung geschuldet ist). Beschäftigen wir uns also abschließend noch etwas eingehender mit dem Charakter des durch Individuali- sierungsprozesse ausgelösten Umbruchs in der politischen Kultur sowie vor allem mit der damit verbundenen Frage, was eigentlich das spezifisch Neue der neuen sozialen Bewegungen ausmacht: Alberto Melucci, der Ende der 70er Jahre den Begriff +neue soziale Bewegungen* prägte, hat sich in seinem Buch +Nomads of the Present* (1989) sowie in einem späteren Aufsatz explizit zu dieser häufig gestellten Frage geäußert. Er interpretiert hier die neuen sozialen Bewegungen als +Botschaften* bzw. +Zeichen*, die auf eine vielgestaltige Weise Kunde von den aktuellen strukturellen Problemen in unserer individualisierten und globalisierten Informa- tionsgesellschaft geben, in der symbolische Konflikte in den Vordergrund getreten sind (vgl. dort Kap. 2 sowie The New Social Movements Revisited; S. 113ff.). Genau diese Vielgestaltigkeit und die Dominanz symbolischer Konflikte ist gemäß Melucci das spezifisch neue Element. Das schließt auch eine Verlagerung hin zu neuen politischen Konflikträumen mit ein: Es kommt für Melucci (ganz analog zu Beck und Giddens) zu einer Demokratisierung bzw. Politisierung des Alltagslebens (vgl. Nomads of the Present; Kap 8). Oberflächlich betrachtet klingt diese Interpretation Meluccis sehr ähnlich zu den Vorstellungen Alain Touraines (siehe auch zurück zu S. LIIf.), der ebenfalls zu den Pionieren in der Theorie (neuer) sozialer Bewegungen zählt. Denn auch für Touraine kämpfen die von der Klassen- semantik +emanzipierten* sozialen Bewegungen der Gegenwart +um die Kontrolle kultureller 284 Patterns* (Soziale Bewegungen; S. 145). In einer Gesellschaft, die nicht mehr vom Modernitäts- Konsens zusammengehalten wird, ist die Beschäftigung mit sozialen Bewegungen, die als kollektive Akteure neue kulturelle Muster durchzusetzen versuchen, für ihn deshalb sogar ein zentrales Feld der Sozialanalyse (vgl. ebd.; S. 147–152), und die Rede vom +Ende der Geschichte* (Fukuyama) verkennt die kulturelle (Konflikt-)Dynamik des postindustriellen (Spät- )Kapitalismus (vgl. ders. Beyond Social Movements?). Doch in der Konzeption Touraines gibt es auch klare Widersprüche zu Melucci. Für letzteren sind die neuen sozialen Bewegungen nämlich nicht automatisch die Manifestation eines Systemkonflikts bzw. einer Systemkrise (vgl. Nomads of the Present; S. 38ff.) – was andererseits für Touraine notwendig zu deren Charakter gehört: Soziale Bewegungen, als Ausdruck der historischen Dialektik, sind gemäß ihm nämlich immer Träger einer neuen sozialen Ordnung, und die Kraft einer sozialen Bewegung
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202 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />
und Offe (und nun wird die Intention ihrer Ausgangsfrage verständlich) zwei Probleme: Erstens<br />
das Problem <strong>der</strong> Sicherstellung, daß tatsächlich nichts an<strong>der</strong>es als die Entscheidung <strong>der</strong> Mehrheit<br />
ausschlaggebend ist (und nicht etwa latente Machtstrukturen wirken) sowie zweitens das Problem,<br />
wie die Individuen auf den getroffenen Mehrheitsentscheid verpflichtet werden können (vgl.<br />
ebd.; S. 8ff.). Selbst wenn man das erste Problem vernachlässigt, tritt das zweite Problem<br />
umso schärfer hervor, sobald Grundfragen des Überlebens berührt werden (vgl. ebd.; S. 16ff.).<br />
Hier meldet sich <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitenprotest, <strong>der</strong> schon nach Serge Moscovici e<strong>in</strong>e wichtige<br />
280<br />
Rolle im Prozeß des sozialen Wandels spielt (vgl. Sozialer Wandel durch M<strong>in</strong>oritäten), berech-<br />
tigterweise auch gegen bestehende Mehrheiten zu Wort, und wir stehen somit +An den Grenzen<br />
<strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie*. 281<br />
In dieser Argumentationsfigur ist das Grundproblem von +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft*<br />
(Gottwies 1988) angedeutet. Die reflexive Dynamik <strong>der</strong> Zivilisationsrisiken wirkt sich nämlich<br />
auch auf die politische Kultur und das politische Bewußtse<strong>in</strong> aus (vgl. S. 360–367). Die <strong>in</strong>stitu-<br />
tionalisierte <strong>Politik</strong> mit ihrem (zu) kurzen Zeithorizont, <strong>der</strong> durch die Wahlperiode bestimmt<br />
ist, geht aufgrund <strong>der</strong> vielen schleichenden, erst über vergleichsweise lange Zeiträume zutage<br />
tretenden Gefährdungen e<strong>in</strong> +risk-tak<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong> und reagiert auf die Bedrohungen durch die<br />
latenten Nebenfolgen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Produktionsweise nur mit e<strong>in</strong>em +peripheren E<strong>in</strong>griff*<br />
(Mayer-Tasch), <strong>der</strong> die Risiken nicht beseitigt, son<strong>der</strong>n nur verspätet, dadurch aber umso<br />
heftiger hervortreten läßt (vgl. ebd.; S. 359).<br />
Dieses Defizit ist auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Bürger über die Grenzen <strong>der</strong> klassischen politischen Lager<br />
h<strong>in</strong>weg wahrgenommen worden, und so engagieren sich <strong>in</strong> den neuen sozialen Bewegungen<br />
+L<strong>in</strong>ke* wie +Rechte*. Damit entstehen Konturen e<strong>in</strong>er +zivilen* Gesellschaft +Jenseits von<br />
Rechts und L<strong>in</strong>ks* (Giddens 1994), während die organisierte L<strong>in</strong>ke aufgrund <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
ökonomischen Tendenzen weitgehend zu e<strong>in</strong>er +konservativen* Kraft geworden ist, <strong>der</strong> es<br />
alle<strong>in</strong>e darum geht, die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zu verteidigen, und die<br />
klassischen konservativen Parteien (zum<strong>in</strong>dest auf wirtschaftspolitischer Ebene) schon vor<br />
geraumer Zeit <strong>in</strong>s neoliberale Lager übergewechselt s<strong>in</strong>d (vgl. Beyond Left and Right; S. 2f.<br />
282<br />
und siehe auch Anmerkung 147, Kap. 1). Die neuen sozialen Bewegungen dagegen pflegen<br />
283<br />
e<strong>in</strong>e neue +zivile Kultur* (Almond/Verba) – und dar<strong>in</strong> (weniger <strong>in</strong> ihren konkreten Zielen)<br />
liegt zum<strong>in</strong>dest nach Cohen und Arato ihr zentraler Beitrag für die +Bürgergesellschaft* <strong>der</strong><br />
Zukunft (vgl. Civil Society and Political Theory; S. 562).