Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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200 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE der Ausdruck für einen Bruch in der politischen Kultur, d.h. den politischen Werten und Beteiligungsformen, indem sie mit ihrem Protest in Gestalt von Blockaden und Boykott-Aktionen, Straßentheater und Performances etc. die alten Pfade verlassen, für die Rechte von Minderheiten eintreten, sich zum Anwalt der +Natur* sowie der kommenden Generationen machen und für eine +gerechtere*, friedliche Welt streiten. 278 Politik, das bedeutete für die oppositionelle Linke marxistischer Prägung nämlich lange Zeit ausschließlich (revolutionären) Klassenkampf, dem mit der Ablösung bzw. der Herausforderung klassenbasierter sozialer Bewegungen wie der Gewerkschaftsbewegung durch die quer zu den alten Klassenlagen sich formierenden neuen sozialen Bewegungen die soziale Basis abge- bröckelt zu sein scheint (vgl. zum Überblick Pakulski: Social Movements and Class). Schon Antonio Gramsci hatte zwar in den 20er Jahren auf die Bedeutung kultureller Faktoren auch 279 für die revolutionäre Praxis hingewiesen (vgl. Sozialismus und Kultur). Die dogmatische Linke versperrte sich jedoch lange Zeit selbst gegen diese Einsicht, und noch immer können Teile der Linke scheinbar nicht begreifen, daß die neuen sozialen Bewegungen mit den über- wiegend postmateriell zu nennenden Werten, die sie in die öffentliche Arena +transportieren*, zumeist für +linke* Ziele eintreten und Sozialismus auch etwas anderes bedeuten könnte, als die Verstaatlichung der Industrien oder (in der +gemilderten* sozialdemokratischen Variante) zumindest doch eine gewisse staatliche Umverteilung des Reichtums. So mußte John Keane noch kurz vor dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus für ein verändertes, nicht mehr so sehr staatszentriertes Sozialismusverständnis plädieren, in dem auch die neuen sozialen Bewegungen Platz haben und das für ein Mehr an Demokratie und Partizipation steht (vgl. Democracy and Civil Society; S. 1ff.). Ernesto Laclau und Chantal Mouffe argumentieren – allerdings schon vor dem Hintergrund des Endes der sozialistischen Staatenwelt – in eine ganz ähnliche Richtung: Angesichts der Probleme, vor denen linkes Denken in der aktuellen Situation steht, sollte man die positiven Ansätze, die die neuen Protestbewegungen beinhalten, nicht übersehen. Der hegemoniale marxistische Diskurs muß dafür jedoch verlassen werden (vgl. Hegemonie und radikale Demo- kratie S. 33f.). Die neue Linke sollte nämlich gemäß ihrer Auffassung offen für Vielfalt sein sein, sie muß eine radikale und plurale Demokratie anstreben, um das liberal-konservative Hegemonialprojekt der Gegenwart, die Diktatur des Marktes, zu transzendieren (vgl. ebd.; S. 239ff.).

KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 201 In dieses liberal-konservative Hegemonialprojekt sind nun aber selbst linke Parteien und Organi- sationen verstrickt, sofern sie sich, wie die Sozialdemokratie und der überwiegende Teil der Gewerkschaftsbewegung, entschlossen haben, sich an das kapitalistische, neoliberale Umfeld anzupassen, in dem sie (gegen)wirken wollen. Das beste Beispiel dafür ist wohl +New Labour* in Großbritannien. Aber die Sozialdemokratie ist schließlich insgesamt schon lange integraler Bestandteil des Systems der institutionalisierten Politik, und die sieht sich durch die neuen sozialen Bewegungen, die ihr das Politikmonopol abspenstig machen, logischerweise heraus- gefordert. Das wiederum ruft konservative Kritiker auf den Plan, denn ein starker Staat und +schlagkräftige* staatliche Institutionen waren schließlich schon immer ein wesentliches Anliegen der konser- vativen Rechten (siehe hierzu auch S. 35ff.). Aber auch auf konservativer Seite gibt es Befürworter für einige Ziele der neuen sozialen Bewegungen – allerdings spricht man hier lieber von der +Bügerinitiativbewegung* (Mayer-Tasch 1976), die als Ausdruck eines berechtigten Unbehagens der Bürger am Parteien-, Verbände und Verwaltungsstaat mit seinen Struktur- und Funktions- schwächen gilt (vgl. dort v.a. Abschnitt II). Und so betont denn auch Peter Koslowski (siehe auch S. LXVII), daß die neuen sozialen Bewegungen als +Reaktion auf die Krise der Moderne* gedeutet werden müssen (Postmoderne Kultur; S. 68) und auf die nunmehr immer offen- sichtlicheren Steuerungsmängel des Marktes und der Demokratie verweisen (vgl. ebd.; S. 77ff.). Selbst besitzen die neuen sozialen Bewegungen für ihn jedoch – anders als für Mayer- Tasch, der angesichts von Zielen wie Ökologie und Frieden (den Richtwerten des sich ankündigenden +neuen Zeitalters*) sogar von einer +historischen Mission* spricht (vgl. Die Bürgerinitiativbewegung; S. 228–233) – keine politische +Substanz*. Die Rettung aus den pluralistischen Verirrungen der Moderne, die ihre Vielheit nicht mehr aus der Einheit schöpft, liegt gemäß Koslowski alleine in einem postmodernen Essentialismus begründet (vgl. Postmoderne Kultur; S. 26). Doch trotz solcher eher zweifelhafter Denkfiguren ergibt sich eine erstaunliche Überschneidung mit +neulinkem* Gedankengut, das versucht, die Legitimität von Basisbewegungen wie den neuen sozialen Bewegungen theoretisch auszuleuchten. Denn auch nach Bernd Guggenberger und Claus Offe steht politische Praxis grundsätzlich vor einem Problem: +Wie wird aus Vielheit Einheit?* (Politik aus der Basis; S. 8) In modernen Massendemokratien lautet die Lösungsformel schlicht +Mehrheitsentscheid*. Mit dieser +Lösung* ergeben sich jedoch gemäß Guggenberger

KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 201<br />

In dieses liberal-konservative Hegemonialprojekt s<strong>in</strong>d nun aber selbst l<strong>in</strong>ke Parteien und Organi-<br />

sationen verstrickt, sofern sie sich, wie die Sozialdemokratie und <strong>der</strong> überwiegende Teil <strong>der</strong><br />

Gewerkschaftsbewegung, entschlossen haben, sich an das kapitalistische, neoliberale Umfeld<br />

anzupassen, <strong>in</strong> dem sie (gegen)wirken wollen. Das beste Beispiel dafür ist wohl +New Labour*<br />

<strong>in</strong> Großbritannien. Aber die Sozialdemokratie ist schließlich <strong>in</strong>sgesamt schon lange <strong>in</strong>tegraler<br />

Bestandteil des Systems <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong>, und die sieht sich durch die neuen<br />

sozialen Bewegungen, die ihr das <strong>Politik</strong>monopol abspenstig machen, logischerweise heraus-<br />

gefor<strong>der</strong>t.<br />

Das wie<strong>der</strong>um ruft konservative Kritiker auf den Plan, denn e<strong>in</strong> starker Staat und +schlagkräftige*<br />

staatliche Institutionen waren schließlich schon immer e<strong>in</strong> wesentliches Anliegen <strong>der</strong> konser-<br />

vativen Rechten (siehe hierzu auch S. 35ff.). Aber auch auf konservativer Seite gibt es Befürworter<br />

für e<strong>in</strong>ige Ziele <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen – allerd<strong>in</strong>gs spricht man hier lieber von <strong>der</strong><br />

+Büger<strong>in</strong>itiativbewegung* (Mayer-Tasch 1976), die als Ausdruck e<strong>in</strong>es berechtigten Unbehagens<br />

<strong>der</strong> Bürger am Parteien-, Verbände und Verwaltungsstaat mit se<strong>in</strong>en Struktur- und Funktions-<br />

schwächen gilt (vgl. dort v.a. Abschnitt II). Und so betont denn auch Peter Koslowski (siehe<br />

auch S. LXVII), daß die neuen sozialen Bewegungen als +Reaktion auf die Krise <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne*<br />

gedeutet werden müssen (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Kultur; S. 68) und auf die nunmehr immer offen-<br />

sichtlicheren Steuerungsmängel des Marktes und <strong>der</strong> Demokratie verweisen (vgl. ebd.; S.<br />

77ff.). Selbst besitzen die neuen sozialen Bewegungen für ihn jedoch – an<strong>der</strong>s als für Mayer-<br />

Tasch, <strong>der</strong> angesichts von Zielen wie Ökologie und Frieden (den Richtwerten des sich<br />

ankündigenden +neuen Zeitalters*) sogar von e<strong>in</strong>er +historischen Mission* spricht (vgl. Die<br />

Bürger<strong>in</strong>itiativbewegung; S. 228–233) – ke<strong>in</strong>e politische +Substanz*. Die Rettung aus den<br />

pluralistischen Verirrungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die ihre Vielheit nicht mehr aus <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit schöpft,<br />

liegt gemäß Koslowski alle<strong>in</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em postmo<strong>der</strong>nen Essentialismus begründet (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

Kultur; S. 26).<br />

Doch trotz solcher eher zweifelhafter Denkfiguren ergibt sich e<strong>in</strong>e erstaunliche Überschneidung<br />

mit +neul<strong>in</strong>kem* Gedankengut, das versucht, die Legitimität von Basisbewegungen wie den<br />

neuen sozialen Bewegungen theoretisch auszuleuchten. Denn auch nach Bernd Guggenberger<br />

und Claus Offe steht politische Praxis grundsätzlich vor e<strong>in</strong>em Problem: +Wie wird aus Vielheit<br />

E<strong>in</strong>heit?* (<strong>Politik</strong> aus <strong>der</strong> Basis; S. 8) In mo<strong>der</strong>nen Massendemokratien lautet die Lösungsformel<br />

schlicht +Mehrheitsentscheid*. Mit dieser +Lösung* ergeben sich jedoch gemäß Guggenberger

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