Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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190 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE aber auch schon Theodor Geiger und Helmuth Schelsky hatten nach dem Krieg von einer +Klassengesellschaft im Schmelztiegel* bzw. einer +nivellierten Mittelstandsgesellschaft* gesprochen. Aktuelle Versuche, zumindest ein wenig Ordnung in +die neue Unübersichtlichkeit* (Habermas) zu bringen, bemühen deshalb Begriffe wie +Subkultur* und +Lebensstil* etc. (vgl. Hradil: Post- 254 moderne Sozialstruktur?; S. 137f.) oder verwenden einen aufgeweichten Schichtbegriff (vgl. z.B. Geißler: Schichten in der postindustriellen Gesellschaft). 255 Die Stärke und die Schwäche von Becks Argumentation liegt allerdings genau in der Konsequenz seiner Individualisierungsthese – und darin, daß er die sozialstrukturelle Transformation der +klassischen* Industriegesellschaft auf die +Dynamik von Arbeitsmarktprozessen unter den Bedingungen wohlfahrtsstaatlicher Massendemokratie* bezieht (Jenseits von Stand und Klasse; S. 41), womit auf den immanenten Zusammenhang von ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren hingewiesen wird. Der demokratische Wohlfahrtsstaat, wie er sich in den fortge- schrittenen Gesellschaften als politisches Modell herausgebildet hat, sorgt nämlich durch staatliche Umverteilung für die Partizipation breiter Massen am hohen ökonomischen Niveau und sichert (z.B. durch kostenfreie Ausbildungssysteme und Studienbeihilfen) den allgemeinen Zugang zu Bildung (vgl. Risikogesellschaft; S. 127ff.). Damit ist auch für die +gerechte* Distribution des +kulturellen Kapitals* (Bourdieu) gesorgt. Der Arbeitsmarkt wiederum erzwingt vom einzelnen Bildungsanstrengungen, Mobilität und eine gekonnte Selbstdarstellung – besonders unter den aktuellen Bedingungen +flexibel-pluraler Unterbeschäftigung* (vgl. ebd.; S. 222ff.). Selbst die Lebens(lauf)planung hat – anders als in der Vergangenheit, wo die soziale Ausgangsposition weitgehend über den Lebensweg entschied – in Eigeninitiative zu erfolgen, und die individuelle Biographie muß in kreativer Weise zu einem stimmigen Bild zusammengesetzt werden, weshalb Ronald Hitzler und Anne Honer von der +Bastelexistenz* (1994) gesprochen haben. Doch was ist, wenn der Wohlfahrtsstaat erodiert und der Arbeitsmarkt die Individuen, wie oben angedeutet, immer weniger in die individualisierte Gesellschaft integriert, sondern zu 256 einem Exklusionsmechanismus gerät? Unter diesen Bedingungen ist Individualisierung gefährdet und gefährdend, die freilich von Beck von vorne herein nicht als eindimensionaler, sondern als ambivalenter Prozeß gedacht worden ist, der mit den Chancen, die er eröffnet, auch neue Zwänge – insbesondere zur Gestaltung des eigenen Lebens – für das Individuum schafft und neben Gewinnern auch +Modernisierungsverlierer* wie z.B. die Langzeitarbeitslosen produziert 257 (vgl. Risikogesellschaft; S. 143ff.). Auf diese neuen Zwänge und die +neue Armut*, die als

KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 191 vorübergehendes Phänomen sogar immer mehr Menschen betrifft (vgl. Leisering: Zwischen Verdrängung und Dramatisierung; S. 499ff.), wird häufig mit Unmut bzw. mit einem Gefühl der Marginalisierung und teilweise sogar mit +desintegrativer Gewalt* reagiert (vgl. hierzu insb. Heitmeyer: Entsicherungen – Desintegrationsprozesse und Gewalt). 258 Die Individualisierungsfrustration ist, so darf man annehmen, dann besonders hoch, wenn die +Zumutungen* der individualisierten Gesellschaft bestehen bleiben, die Chancen zur Verwirk- lichung der mühevoll erarbeiteten Lebensentwürfe und -ziele jedoch gleichzeitig reduziert werden. Als Katalysator für eine solche problematische Entwicklung könnten sich in Zukunft verstärkt die ökonomischen Globalisierungsprozesse erweisen (siehe Abschnitt 2.1), die es dem Kapital ermöglichen, die wohlfahrtsstaatlichen Steuer-Klippen zu umschiffen (siehe Abschnitt 3.1) und so dem Individualisierungsprozeß seine ökonomische Basis rauben, indem der Fahrstuhl, um in Becks Bild zu bleiben, wieder einige Etagen nach unten gefahren wird. Ausgerechnet 259 der (natürlich auch auf kultureller Ebene greifende) +Wandlungsmotor* Globalisierung könnte also möglicherweise zu einem neuen Hervortreten der alten Klassenverhältnisse führen (vgl. hierzu auch Brock: Rückkehr der Klassengesellschaft?). Die individualisierte Gesellschaft ist also eine historisch kontingente Gesellschaftsformation, die auf reversible ökonomische Verhält- nisse gegründet ist und so nur allzu leicht (z.B. durch die angesprochenen ökonomischen Globalisierungsprozesse) in eine Krise steuern kann. In diesem Fall wäre den individualisierten Lebensstilen als kulturellen Manifestationen der individualisierten Gesellschaft die ökonomische Basis weggebrochen, obwohl sie als Formen, in die die Individuen +eingelebt* sind, (zumindest eine Zeitlang) notwendig überdauern. Das erzeugt eine Irrationalität und Widersprüchlichkeit der Lebensformen in bezug auf die sozio-ökonomische Lebenswirklichkeit (siehe hierzu auch Abschnitt 3.5). Auf der anderen Seite ist Individualisierung, wie oben bereits angedeutet, auch mit einem Wertewandel verbunden – der allerdings nicht, wie von MacIntyre diagnostiziert, zu einer diffusen Wertepluralisierung führt, sondern eher als gerichteter Wandlungsprozeß verstanden 260 werden sollte und eine neue +Sozialmoral des eigenen Lebens* hervortreten läßt. Diese +bejaht, was öffentlich beklagt wird: den Durchgang des Sozialen durch das Individuelle* 261 (Beck: Eigenes Leben; S. 166) und gründet auf +der von innen her erfahrenen Not und Notwendigkeit, das eigene Leben zu begrenzen, um es überhaupt sinnvoll und gestaltbar werden zu lassen. Das ›Material‹ dieser Selbstbegrenzung und Selbstgestaltung sind die Ansprüche

KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 191<br />

vorübergehendes Phänomen sogar immer mehr Menschen betrifft (vgl. Leiser<strong>in</strong>g: Zwischen<br />

Verdrängung und Dramatisierung; S. 499ff.), wird häufig mit Unmut bzw. mit e<strong>in</strong>em Gefühl<br />

<strong>der</strong> Marg<strong>in</strong>alisierung und teilweise sogar mit +des<strong>in</strong>tegrativer Gewalt* reagiert (vgl. hierzu<br />

<strong>in</strong>sb. Heitmeyer: Entsicherungen – Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse und Gewalt). 258<br />

Die Individualisierungsfrustration ist, so darf man annehmen, dann beson<strong>der</strong>s hoch, wenn<br />

die +Zumutungen* <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft bestehen bleiben, die Chancen zur Verwirk-<br />

lichung <strong>der</strong> mühevoll erarbeiteten Lebensentwürfe und -ziele jedoch gleichzeitig reduziert<br />

werden. Als Katalysator für e<strong>in</strong>e solche problematische Entwicklung könnten sich <strong>in</strong> Zukunft<br />

verstärkt die ökonomischen Globalisierungsprozesse erweisen (siehe Abschnitt 2.1), die es<br />

dem Kapital ermöglichen, die wohlfahrtsstaatlichen Steuer-Klippen zu umschiffen (siehe Abschnitt<br />

3.1) und so dem Individualisierungsprozeß se<strong>in</strong>e ökonomische Basis rauben, <strong>in</strong>dem <strong>der</strong> Fahrstuhl,<br />

um <strong>in</strong> Becks Bild zu bleiben, wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>ige Etagen nach unten gefahren wird. Ausgerechnet<br />

259<br />

<strong>der</strong> (natürlich auch auf kultureller Ebene greifende) +Wandlungsmotor* Globalisierung könnte<br />

also möglicherweise zu e<strong>in</strong>em neuen Hervortreten <strong>der</strong> alten Klassenverhältnisse führen (vgl.<br />

hierzu auch Brock: Rückkehr <strong>der</strong> Klassengesellschaft?). Die <strong>in</strong>dividualisierte Gesellschaft ist<br />

also e<strong>in</strong>e historisch kont<strong>in</strong>gente Gesellschaftsformation, die auf reversible ökonomische Verhält-<br />

nisse gegründet ist und so nur allzu leicht (z.B. durch die angesprochenen ökonomischen<br />

Globalisierungsprozesse) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Krise steuern kann. In diesem Fall wäre den <strong>in</strong>dividualisierten<br />

Lebensstilen als kulturellen Manifestationen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft die ökonomische<br />

Basis weggebrochen, obwohl sie als Formen, <strong>in</strong> die die Individuen +e<strong>in</strong>gelebt* s<strong>in</strong>d, (zum<strong>in</strong>dest<br />

e<strong>in</strong>e Zeitlang) notwendig überdauern. Das erzeugt e<strong>in</strong>e Irrationalität und Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit<br />

<strong>der</strong> Lebensformen <strong>in</strong> bezug auf die sozio-ökonomische Lebenswirklichkeit (siehe hierzu auch<br />

Abschnitt 3.5).<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ist Individualisierung, wie oben bereits angedeutet, auch mit e<strong>in</strong>em<br />

Wertewandel verbunden – <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs nicht, wie von MacIntyre diagnostiziert, zu e<strong>in</strong>er<br />

diffusen Wertepluralisierung führt, son<strong>der</strong>n eher als gerichteter Wandlungsprozeß verstanden<br />

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werden sollte und e<strong>in</strong>e neue +Sozialmoral des eigenen Lebens* hervortreten läßt. Diese<br />

+bejaht, was öffentlich beklagt wird: den Durchgang des Sozialen durch das Individuelle*<br />

261<br />

(Beck: Eigenes Leben; S. 166) und gründet auf +<strong>der</strong> von <strong>in</strong>nen her erfahrenen Not und<br />

Notwendigkeit, das eigene Leben zu begrenzen, um es überhaupt s<strong>in</strong>nvoll und gestaltbar<br />

werden zu lassen. Das ›Material‹ dieser Selbstbegrenzung und Selbstgestaltung s<strong>in</strong>d die Ansprüche

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