Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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188 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE Aufsatzes zeigt, den Individualisierungsbegriff auf einen Wandel der Sozialstruktur. In diesem Zusammenhang verweist er zunächst auf ein Paradox: +Auf der einen Seite weist die Struktur sozialer Ungleichheit in den entwickelten Ländern alle Attribute einer historisch-politisch genau betrachtet eigentlich überraschenden Stabilität auf […] Auf der anderen Seite ist […] das Ungleichheitsthema […] konsequent von der Tagesordnung des Alltags, der Politik und der Wissenschaften verschwunden.* (S. 35f.) Beck löst diese Paradoxie auf, indem er den Befund ins Spiel bringt, daß die Stabilität der Ungleichheitsrelationen mit einer drastischen Niveauverschiebung, was Einkommen und Bil- dungsstand betrifft, einhergegangen ist, wodurch +subkulturelle Klassenidentitäten zunehmend weggeschmolzen, ›ständisch‹ eingefärbte Klassenlagen enttraditionalisiert und Prozesse einer Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen ausgelöst wurden, die das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterlaufen und in seinem Realitäts- gehalt zunehmend in Frage stellen* (ebd.; S. 36). In der +Risikogesellschaft* (1986) hat Beck diese Individualisierung durch eine Erhöhung des Wohlstandssockels sehr eindrücklich mit dem Begriff des +Fahrstuhleffekts* gefaßt (vgl. S. 124f.), auf den hier ja bereits verschiedentlich eingegangen wurde. Das so verbildlichte Individualisierungstheorem Becks stellt +naturgemäß* eine Herausforderung sowohl marxistischer Klassentheorie, der soziologisch lange Zeit dominierenden Schichtungs- ansätze wie auch Webers immer wieder aufgegriffener Theorie der durch Marktlagen und eine spezifische Lebensführung geformten +sozialen Klassen* dar, die dieser in +Wirtschaft 250 und Gesellschaft* (1921) skizziert hat (vgl. Band 1, S. 177–180). Beck kann für seine immer noch umstrittene These jedoch gute empirische Belege ins Feld führen. Untersuchungen zeigen nicht nur eine zunehmende Erosion des subjektiven Klassenbewußtseins und der noch in der Vorkriegszeit so klar abgrenzbaren klassischen +sozialmoralischen Milieus* (Lepsius) 251 (vgl. z.B. Mooser: Auflösung der proletarischen Milieus). Statistisches Material weist für die Nachkriegsära eine egalisierende Bildungsexpansion und eine drastische allgemeine Einkom- mensverbesserung auf, die vor allem auf der unteren Stufe der +Schichtungshierarchie* zu einem qualitativen Wandel der Lebensverhältnisse führten. Die Quellen, auf die Beck sich bezieht, belegen u.a. einen starken Anstieg höherer Bildungs- abschlüsse (jedoch bei deren gleichzeitiger Entwertung), und auch der Anteil der Studienanfänger,

KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 189 die aus der Arbeiterschicht stammen, hat sich von 1951 (4%) bis 1982 (17,3%) mehr als vervierfacht (vgl. Risikogesellschaft; S. 127f.). Damit verwischen zunehmend die Klassen-, Schicht- und Milieugrenzen, die zu einem großen Teil auch durch symbolisch-kulturelle Barrieren verfestigt worden waren, und die erfolgten Einkommenssteigerungen erlauben selbst Arbeit- nehmern ein Konsumverhalten auf +gehobenem* Niveau, das zur Entfaltung individualisierter Lebensstile führt – ein Phänomen, was in den USA bereits in den 70er Jahren beschrieben wurde (vgl. Zablocki/Kanter-Moss: The Differentiation of Life-Styles). Ein immer geringerer Teil des Einkommens muß nämlich für das Lebensnotwendige aufgewendet werden. In Anleh- nung an Mooser (siehe oben) bemerkt Beck: +Noch bis 1950 verschlangen Nahrung, Kleidung und Wohnung [bei Arbeitern] drei Viertel des Haushalts- budgets, während dieser Anteil 1973 – bei einem qualitativ erhöhten Niveau – auf 60% sank. Gleichzeitig kam es zu einer Art ›Demokratisierung‹ von symbolischen Konsumgütern – Radio, Fernsehgerät, […] Eisschrank und das Auto […] Es reichte sogar für die Bildung persönlichen Besitzes […] Die Sparquote stieg beträchtlich von 1–2% 1907 auf 5,6% im Jahre 1955 und verdoppelte sich noch einmal bis zum Jahre 1974 auf 12,5% […] Sogar das ›Traumziel‹ des Haus- und Wohnungseigentums wurde für viele erschwinglich. Waren es 1950 6% der Arbeiterhaushalte, die sich ihren Wunsch von den eigenen vier Wänden erfüllen konnten, so wuchs diese Zahl 1968 auf 32% und 1977 auf 39% an.* (Risikogesellschaft; S. 123) Allerdings muß gerade aufgrund neuerer Daten relativierend angemerkt werden, daß das Realeinkommen abhängig Beschäftigter seit Anfang der 80er Jahre in der Bundesrepublik weitgehend stagniert, so daß die Einkommenskluft insbesondere zwischen den Selbständigen (die ihre ökonomische Position erheblich verbessern konnten) und den Arbeitnehmern tatsächlich 252 wieder zunimmt (vgl. Welzmüller: Differenzierung und Polarisierung). In den USA mußten auf der Arbeitnehmerseite sogar erhebliche Einkommenseinbußen hingenommen werden, so daß dort die Zahl der sog. +working poor* stark zugenommen hat (vgl. z.B. Swartz/Weigert: 253 America’s Working Poor). Das ändert aber nichts daran, daß der Wohlstandssockel in den meisten +fortgeschrittenen* Gesellschaften noch immer beträchtlich ist. In den vergangenen Jahrzehnten hat also – trotz der gemachten Einschränkungen – ein dramatischer Wandel der Verhältnisse stattgefunden, und so steht Beck mit seiner Analyse denn auch keineswegs alleine auf weiter Flur. Die (allerdings aus einem grundsätzlichen +Unbehagen in der Modernität* heraus formulierte) Rede von der +Pluralisierung der sozialen Lebenswelten* (Berger/Berger/Kellner) zum Beispiel weist in eine ganz ähnliche Richtung,

188 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Aufsatzes zeigt, den Individualisierungsbegriff auf e<strong>in</strong>en Wandel <strong>der</strong> Sozialstruktur. In diesem<br />

Zusammenhang verweist er zunächst auf e<strong>in</strong> Paradox:<br />

+Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite weist die Struktur sozialer Ungleichheit <strong>in</strong> den entwickelten Län<strong>der</strong>n alle Attribute<br />

e<strong>in</strong>er historisch-politisch genau betrachtet eigentlich überraschenden Stabilität auf […] Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite ist […] das Ungleichheitsthema […] konsequent von <strong>der</strong> Tagesordnung des Alltags, <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und<br />

<strong>der</strong> Wissenschaften verschwunden.* (S. 35f.)<br />

Beck löst diese Paradoxie auf, <strong>in</strong>dem er den Befund <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gt, daß die Stabilität <strong>der</strong><br />

Ungleichheitsrelationen mit e<strong>in</strong>er drastischen Niveauverschiebung, was E<strong>in</strong>kommen und Bil-<br />

dungsstand betrifft, e<strong>in</strong>hergegangen ist, wodurch +subkulturelle Klassenidentitäten zunehmend<br />

weggeschmolzen, ›ständisch‹ e<strong>in</strong>gefärbte Klassenlagen enttraditionalisiert und Prozesse e<strong>in</strong>er<br />

Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen ausgelöst wurden,<br />

die das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterlaufen und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Realitäts-<br />

gehalt zunehmend <strong>in</strong> Frage stellen* (ebd.; S. 36). In <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* (1986) hat Beck<br />

diese Individualisierung durch e<strong>in</strong>e Erhöhung des Wohlstandssockels sehr e<strong>in</strong>drücklich mit<br />

dem Begriff des +Fahrstuhleffekts* gefaßt (vgl. S. 124f.), auf den hier ja bereits verschiedentlich<br />

e<strong>in</strong>gegangen wurde.<br />

Das so verbildlichte Individualisierungstheorem Becks stellt +naturgemäß* e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

sowohl marxistischer Klassentheorie, <strong>der</strong> soziologisch lange Zeit dom<strong>in</strong>ierenden Schichtungs-<br />

ansätze wie auch Webers immer wie<strong>der</strong> aufgegriffener Theorie <strong>der</strong> durch Marktlagen und<br />

e<strong>in</strong>e spezifische Lebensführung geformten +sozialen Klassen* dar, die dieser <strong>in</strong> +Wirtschaft<br />

250<br />

und Gesellschaft* (1921) skizziert hat (vgl. Band 1, S. 177–180). Beck kann für se<strong>in</strong>e immer<br />

noch umstrittene These jedoch gute empirische Belege <strong>in</strong>s Feld führen. Untersuchungen zeigen<br />

nicht nur e<strong>in</strong>e zunehmende Erosion des subjektiven Klassenbewußtse<strong>in</strong>s und <strong>der</strong> noch <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Vorkriegszeit so klar abgrenzbaren klassischen +sozialmoralischen Milieus* (Lepsius) 251<br />

(vgl. z.B. Mooser: Auflösung <strong>der</strong> proletarischen Milieus). Statistisches Material weist für die<br />

Nachkriegsära e<strong>in</strong>e egalisierende Bildungsexpansion und e<strong>in</strong>e drastische allgeme<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>kom-<br />

mensverbesserung auf, die vor allem auf <strong>der</strong> unteren Stufe <strong>der</strong> +Schichtungshierarchie* zu<br />

e<strong>in</strong>em qualitativen Wandel <strong>der</strong> Lebensverhältnisse führten.<br />

Die Quellen, auf die Beck sich bezieht, belegen u.a. e<strong>in</strong>en starken Anstieg höherer Bildungs-<br />

abschlüsse (jedoch bei <strong>der</strong>en gleichzeitiger Entwertung), und auch <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Studienanfänger,

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