Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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XXIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE dem Individuum ein weit größerer Freiraum gelassen wird als in der Vergangenheit (vgl. ebd. 30 S. 171f.). Solche Freiräume, insbesondere das Fehlen einer steuernden Instanz, implizieren aber auch immer die Möglichkeit der Anomie, und die gesellschaftliche Solidarität ist tendenziell gefährdet. Die vereinzelten Individuen können den Kontakt zueinander verlieren und gesell- schaftliche Kämpfe drohen auszubrechen (vgl. ebd.; S. 399–410). Weit weniger problematisch betrachtete dann allerdings Talcott Parsons soziale Differenzierung. Sie stellte für ihn schlicht die Grundlage der Evolution moderner Gesellschaften dar. In dem Band +The System of Modern Societies* (1971) definiert er: +Differentiation is the division of a unit or structure in a social system into two or more units of structure that differ in their characteristics and functional significance for the system.* (S. 26) Differenzierung bietet selbst laut Parsons allerdings nur dann wirkliche Vorteile, wenn es durch sie gleichzeitig zu einer Anpassungsverbesserung (adaptive upgrading) kommt, d.h. wenn die Fähigkeit des Systems steigt, adäquat auf Umweltveränderungen zu reagieren. Zudem muß die +systemische* Differenzierung von einer Wertegeneralisierung begleitet werden (ebd.; S. 27). Dies geschieht z.B. durch ein Rechtssystem mit allgemeinverbindlichen Gesetzen, politische Partizipation, wirtschaftliche Verflechtung etc. (vgl. ebd.; S. 18–26). 31 Parsons ist oft eine harmonisierende Sichtweise vorgeworfen worden. Robert K. Merton, ein Schüler von Parsons, hat versucht, diese Schieflage zu beseitigen. Dabei greift er bewußt auf Durkheim zurück und zeigt auf, daß gerade die Übernahme von gesellschaftlichen Ziel- vorstellungen bei einem gleichzeitigen Fehlen von (legalen) Möglichkeiten zu deren Verwirk- lichung anomisches, d.h. als kriminell definiertes Verhalten provoziert: +First, incentives for success are provided by the established values of the culture and second, the avenues available for moving toward this goal are largely limited by the class structure to those of deviant behavior. It is the combination of the cultural emphasis and the social structure which produces intense pressure for deviation. Recourse to legitimate channels for ›getting in the money‹ is limited by a class structure which is not fully open at each level to men of good capacity.* (Social Theory and Social Structure; S. 145). Zu dieser offensichtlich weitaus kritischeren Sichtweise als Parsons gelangt Merton, indem er hinter die +Kulissen* der Gesellschaft blickt und deshalb zwischen den offen zutage tretenden

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXV manifesten und den erst zu ermittelnden latenten Funktionen, die einer Struktur zugrunde liegen, unterscheidet. Auch Niklas Luhmann setzt bei Parsons an, um sich von ihm zu entfernen. Wie Merton stellt er den Funktionsbegriff heraus und bezeichnet +seine* Systemtheorie als +funktional-strukturell*. Wie in der ursprünglichen strukturell-funktionalen Variante Parsons’ ist es jedoch ein strukturelles Moment, das moderne von vormodernen Gesellschaften unterscheidet – allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Parsons ging noch von einem hierarchisch aufgebauten System und einer geschichteten Gesellschaft aus. Luhmann dagegen versteht +die moderne Gesellschaft im Unterschied zu allen älteren Gesellschaftsformen als funktional differenziertes System […], das nicht mehr nach sozialen Rangordnungen, sondern nur nach [autonomen] Funktionsbereichen wie Wirtschaft, Politik, Erziehung, Recht, Wissenschaft, Religion usw. gegliedert ist* (Soziologie für unsere Zeit; S. 58). Durch diese funktionale Differenzierung wird die stratifikatorische Diffe- renzierung der vormodernen Schichtungsgesellschaften aufgehoben (vgl. Gesellschaftsstruktur und Semantik; Band 1, S. 25). 32 Neben funktionaler Differenzierung sieht Luhmann moderne Gesellschaften vor allem durch eine hohe Systemkomplexität charakterisiert. Zwar haben +soziale Systeme […] die Funktion der Erfassung und Reduktion von [Umwelt-]Komplexität* (Soziologie als Theorie sozialer Systeme; S. 116). Um aber diese Aufgabe leisten zu können, müssen sie gerade ihre interne Komplexität steigern. Denn +das System muß hinreichend viele Zustände annehmen können, um in einer sich ändernden Umwelt bestehen zu können* (ebd.). Aus dieser analytisch-distanzierten Perspektive rückt weniger die Dependenz des Individuums von den sozialen Machtstrukturen als die Interdependenz der Systemelemente allgemein in den Mittelpunkt. Das Individuum gilt Luhmann folglich als bloßes Element der Systemumwelt – das kann man schon in seinen 33 34 frühen Schriften so lesen, tritt aber erst recht in jüngerer Zeit hervor. Der Fokus verschiebt sich nun auch auf ein anderes +Kennzeichen* moderner Gesellschaften: Im Zuge seiner Rezeption des (radikalen) Konstruktivismus wird die Kategorie der Selbstreferenz bzw. Autopoiesis immer 35 zentraler in Luhmanns Theoriegebäude. Die Gesellschaft, die er als reinen Kommunikationszu- sammenhang versteht, bezieht sich diskursiv auf sich selbst und weitet sich (im Zuge der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien) zum globalen System aus. 36 Mittels neuer Kommunikationsmedien (und natürlich auch durch einen erhöhten wirtschaftlichen Austausch) kommt es also letztendlich zu einer Globalisierung und Universalisierung auf der

XXIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

dem Individuum e<strong>in</strong> weit größerer Freiraum gelassen wird als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit (vgl. ebd.<br />

30<br />

S. 171f.). Solche Freiräume, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Fehlen e<strong>in</strong>er steuernden Instanz, implizieren<br />

aber auch immer die Möglichkeit <strong>der</strong> Anomie, und die gesellschaftliche Solidarität ist tendenziell<br />

gefährdet. Die vere<strong>in</strong>zelten Individuen können den Kontakt zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verlieren und gesell-<br />

schaftliche Kämpfe drohen auszubrechen (vgl. ebd.; S. 399–410).<br />

Weit weniger problematisch betrachtete dann allerd<strong>in</strong>gs Talcott Parsons soziale Differenzierung.<br />

Sie stellte für ihn schlicht die Grundlage <strong>der</strong> Evolution mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften dar. In dem<br />

Band +The System of Mo<strong>der</strong>n Societies* (1971) def<strong>in</strong>iert er:<br />

+Differentiation is the division of a unit or structure <strong>in</strong> a social system <strong>in</strong>to two or more units of structure<br />

that differ <strong>in</strong> their characteristics and functional significance for the system.* (S. 26)<br />

Differenzierung bietet selbst laut Parsons allerd<strong>in</strong>gs nur dann wirkliche Vorteile, wenn es durch<br />

sie gleichzeitig zu e<strong>in</strong>er Anpassungsverbesserung (adaptive upgrad<strong>in</strong>g) kommt, d.h. wenn<br />

die Fähigkeit des Systems steigt, adäquat auf Umweltverän<strong>der</strong>ungen zu reagieren. Zudem<br />

muß die +systemische* Differenzierung von e<strong>in</strong>er Wertegeneralisierung begleitet werden (ebd.;<br />

S. 27). Dies geschieht z.B. durch e<strong>in</strong> Rechtssystem mit allgeme<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dlichen Gesetzen,<br />

politische Partizipation, wirtschaftliche Verflechtung etc. (vgl. ebd.; S. 18–26). 31<br />

Parsons ist oft e<strong>in</strong>e harmonisierende Sichtweise vorgeworfen worden. Robert K. Merton, e<strong>in</strong><br />

Schüler von Parsons, hat versucht, diese Schieflage zu beseitigen. Dabei greift er bewußt<br />

auf Durkheim zurück und zeigt auf, daß gerade die Übernahme von gesellschaftlichen Ziel-<br />

vorstellungen bei e<strong>in</strong>em gleichzeitigen Fehlen von (legalen) Möglichkeiten zu <strong>der</strong>en Verwirk-<br />

lichung anomisches, d.h. als krim<strong>in</strong>ell def<strong>in</strong>iertes Verhalten provoziert:<br />

+First, <strong>in</strong>centives for success are provided by the established values of the culture and second, the<br />

avenues available for mov<strong>in</strong>g toward this goal are largely limited by the class structure to those of<br />

deviant behavior. It is the comb<strong>in</strong>ation of the cultural emphasis and the social structure which produces<br />

<strong>in</strong>tense pressure for deviation. Recourse to legitimate channels for ›gett<strong>in</strong>g <strong>in</strong> the money‹ is limited<br />

by a class structure which is not fully open at each level to men of good capacity.* (Social Theory<br />

and Social Structure; S. 145).<br />

Zu dieser offensichtlich weitaus kritischeren Sichtweise als Parsons gelangt Merton, <strong>in</strong>dem<br />

er h<strong>in</strong>ter die +Kulissen* <strong>der</strong> Gesellschaft blickt und deshalb zwischen den offen zutage tretenden

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