Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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XXII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE • Als erster Teilprozeß der Modernisierung soll die Differenzierung ins Blickfeld geraten. Soziale Differenzierung ist die zentrale strukturelle Komponente des Modernisierungsprozesses und äußert sich in der +Trennung, Besonderung u. (horizontal wie vertikal) wirksamen Abgrenzung von zunächst homogenen sozialen Gebilden* (Hartfiel/Hillmann: Wörterbuch der Soziologie; S. 140). Diese Lexikon-Definition ist leider nicht besonders vielsagend und bedarf der inhaltlichen Auffüllung: Eine zunächst relativ einfach strukturierte und einheitliche Gesellschaft wandelt sich also (durch Differenzierung) zu einem komplexen sozialen Zusammenhang. Immer mehr unterschiedliche Aufgabenfelder entstehen und werden von unterschiedlichen Personen(gruppen) besetzt. Diese arbeitsteilige Spezialisierung (horizontale Differenzierung) muß nicht notwen- digerweise mit der Entstehung von hierarchischen Abstufungen (vertikale Differenzierung) verbunden sein, aber es erscheint andererseits durchaus plausibel, daß derart bestehende Ungleichheiten verstärkt werden. Aus solcher Perspektive bedeutet Modernisierung zwangsläufig die Zunahme von sozialer Ungleichheit. Am prominentesten vertritt diese These Gerhard Lenski: Er sieht eine auf Nutzen- maximierung beruhende Dialektik von individuellen und gesellschaftlichen Interessen wirken, die dazu führt, +daß die Menschen das Produkt ihrer Arbeit [nur] insoweit teilen, als dies zur Sicherung ihres Überlebens und der Produktivität jener notwendig ist, deren Handlungen für sie selbst nützlich sind* (Macht und Privileg; S. 71). Dieses Verhältnis von Bedürfnis und Macht führt dazu, daß nur in +primitiven*, kaum arbeitsteiligen Jäger- und Sammlergesellschaften ein hohes Maß an Gleichheit herrschen kann, da es wenig zu verteilen gibt und dieses Wenige folglich zur Überlebenssicherung aller relativ gerecht verteilt werden muß (vgl. ebd.; S. 145ff.). In den bereits stärker arbeitsteiligen und deshalb +reicheren* Agrargesellschaften ist das Ausmaß der Ungleichheit dagegen hoch. Die durch Machtkämpfe hervorgegangenen Eliten nutzen ihre Position, um ihre egoistischen Interessen zu verfolgen, und sichern sich einen unverhältnis- mäßig großen Teil des gesellschaftlichen +Kuchens* (vgl. ebd.; 283ff.). Erst +das Aufkommen entwickelter Industriegesellschaften bewirkt zum ersten Mal einen Umschwung der uralten evolutionären Entwicklung zu stetig zunehmender Ungleichheit* (ebd.; S. 407). Das liegt gemäß Lenski nicht am gestiegenen sozialen Bewußtsein der Eliten. Ihre +Ignoranz* für die Situation anderer nimmt sogar zu. Vielmehr hat die nochmals erhöhte Differenzierung zu Produktivitäts- steigerungen geführt, die es den Privilegierten erlauben, die Massen (zu ihrer Befriedung) am großen allgemeinen Reichtum partizipieren zu lassen (vgl. ebd.; S. 413–420).

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXIII Ob diese Thesen Lenskis zutreffend sind, sei dahingestellt. Insbesondere seine Annahme eines Umschwungs in der Ungleichheitsentwicklung halte ich für fragwürdig. Schließlich weisen empirische Befunde darauf hin, daß die Ungleichheitsrelationen trotz fortschreitender Moderni- sierung in den letzten Jahrzehnten konstant geblieben sind (bzw. sich sogar wieder vergrößern), 28 29 was Ulrich Beck als +Fahrstuhleffekt* bezeichnet hat (vgl. Risikogesellschaft; S. 122). Nur die absolute Armut in den Industriestaaten hat sich verringert – und dies, so ist zu vermuten, zu einem guten Teil auf Kosten der Armen in den +unterentwickelten* Ländern. Leider kann aber der Dimension der sozialen Ungleichheit und ihrer Verknüpfung mit dem Prozeß der sozialen Differenzierung hier nicht die Aufmerksamkeit geschenkt werden, die sie eigentlich verdiente. Es ist nämlich in erster Linie der Aspekt der horizontalen Differenzierung, der an dieser Stelle – allerdings auch in seinen sozialen Auswirkungen – thematisiert werden soll. Horizontale Differenzierung ist nun weitgehend identisch mit der Herausbildung von Arbeitsteilung. Schon Platon sah einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Arbeitsteilung (vgl. Politeia; Abschnitt 2.2.2). Die soziologische Standardschrift zu diesem Thema stammt jedoch aus dem 19. Jahrhundert: Emil Durkheim (1858–1917) entwickelte 1893 eine Theorie +Über die Teilung der sozialen Arbeit*, in der bereits eine ambivalente Sichtweise zum Tragen kommt. Er betrachtete nämlich soziale Arbeitsteilung nicht als ausschließliches Phänomen +moderner* Gesellschaften. Doch erst in der Moderne rückte sie laut Durkheim ins allgemeine Bewußtsein, entfaltete eine immer größere Dynamik, und seit Ende des 18. Jahrhunderts bestand schließlich das Bemühen, sie theoretisch zu fassen. Adam Smith (1723–1790) beispielsweise hielt sie gar für die Grundlage des Volkswohlstandes (vgl. Der Wohlstand der Nationen; S. 9ff.). Die Bedeutung der Arbeits- teilung lag für Durkheim aber weniger in ihren ökonomisch positiven Auswirkungen, sondern +ihre wahre Funktion besteht darin, zwischen zwei oder mehreren Personen ein Gefühl der Solidarität herzustellen* (Über die Teilung der sozialen Arbeit; S. 96). Sie ist besonders in höher entwickelten Gesellschaften die Hauptquelle des gesellschaftlichen Zusammenhalts (vgl. ebd.; S. 102f.). In früheren Gesellschaften konnte Solidarität nämlich noch gleichsam mechanisch vorausgesetzt werden und beruhte auf der Konformität des Bewußtseins der einzelnen Gesellschaftsmitglieder (vgl. ebd.; S. 146ff. u. S. 169ff.). Diese Konformität des Bewußtseins hat sich mit der Zunahme der sozialen Differenzierung aufgelöst. Das bietet gleichzeitig die Chance einer allerdings erst herzustellenden organischen Solidarität, wobei

XXII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Als erster Teilprozeß <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung soll die Differenzierung <strong>in</strong>s Blickfeld geraten. Soziale<br />

Differenzierung ist die zentrale strukturelle Komponente des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses und<br />

äußert sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Trennung, Beson<strong>der</strong>ung u. (horizontal wie vertikal) wirksamen Abgrenzung<br />

von zunächst homogenen sozialen Gebilden* (Hartfiel/Hillmann: Wörterbuch <strong>der</strong> Soziologie;<br />

S. 140). Diese Lexikon-Def<strong>in</strong>ition ist lei<strong>der</strong> nicht beson<strong>der</strong>s vielsagend und bedarf <strong>der</strong> <strong>in</strong>haltlichen<br />

Auffüllung: E<strong>in</strong>e zunächst relativ e<strong>in</strong>fach strukturierte und e<strong>in</strong>heitliche Gesellschaft wandelt<br />

sich also (durch Differenzierung) zu e<strong>in</strong>em komplexen sozialen Zusammenhang. Immer mehr<br />

unterschiedliche Aufgabenfel<strong>der</strong> entstehen und werden von unterschiedlichen Personen(gruppen)<br />

besetzt. Diese arbeitsteilige Spezialisierung (horizontale Differenzierung) muß nicht notwen-<br />

digerweise mit <strong>der</strong> Entstehung von hierarchischen Abstufungen (vertikale Differenzierung)<br />

verbunden se<strong>in</strong>, aber es ersche<strong>in</strong>t an<strong>der</strong>erseits durchaus plausibel, daß <strong>der</strong>art bestehende<br />

Ungleichheiten verstärkt werden.<br />

Aus solcher Perspektive bedeutet Mo<strong>der</strong>nisierung zwangsläufig die Zunahme von sozialer<br />

Ungleichheit. Am prom<strong>in</strong>entesten vertritt diese These Gerhard Lenski: Er sieht e<strong>in</strong>e auf Nutzen-<br />

maximierung beruhende Dialektik von <strong>in</strong>dividuellen und gesellschaftlichen Interessen wirken,<br />

die dazu führt, +daß die Menschen das Produkt ihrer Arbeit [nur] <strong>in</strong>soweit teilen, als dies zur<br />

Sicherung ihres Überlebens und <strong>der</strong> Produktivität jener notwendig ist, <strong>der</strong>en Handlungen für<br />

sie selbst nützlich s<strong>in</strong>d* (Macht und Privileg; S. 71). Dieses Verhältnis von Bedürfnis und Macht<br />

führt dazu, daß nur <strong>in</strong> +primitiven*, kaum arbeitsteiligen Jäger- und Sammlergesellschaften<br />

e<strong>in</strong> hohes Maß an Gleichheit herrschen kann, da es wenig zu verteilen gibt und dieses Wenige<br />

folglich zur Überlebenssicherung aller relativ gerecht verteilt werden muß (vgl. ebd.; S. 145ff.).<br />

In den bereits stärker arbeitsteiligen und deshalb +reicheren* Agrargesellschaften ist das Ausmaß<br />

<strong>der</strong> Ungleichheit dagegen hoch. Die durch Machtkämpfe hervorgegangenen Eliten nutzen<br />

ihre Position, um ihre egoistischen Interessen zu verfolgen, und sichern sich e<strong>in</strong>en unverhältnis-<br />

mäßig großen Teil des gesellschaftlichen +Kuchens* (vgl. ebd.; 283ff.). Erst +das Aufkommen<br />

entwickelter Industriegesellschaften bewirkt zum ersten Mal e<strong>in</strong>en Umschwung <strong>der</strong> uralten<br />

evolutionären Entwicklung zu stetig zunehmen<strong>der</strong> Ungleichheit* (ebd.; S. 407). Das liegt gemäß<br />

Lenski nicht am gestiegenen sozialen Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Eliten. Ihre +Ignoranz* für die Situation<br />

an<strong>der</strong>er nimmt sogar zu. Vielmehr hat die nochmals erhöhte Differenzierung zu Produktivitäts-<br />

steigerungen geführt, die es den Privilegierten erlauben, die Massen (zu ihrer Befriedung)<br />

am großen allgeme<strong>in</strong>en Reichtum partizipieren zu lassen (vgl. ebd.; S. 413–420).

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