Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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114 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE Ideologie unterschiedlich instrumentalisieren lassen und als Grundlage bzw. Überbau für die Praxologie des juristischen Verfahrens dienen. Die hier am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts veranschaulichte Politisierung der Justiz ist jedoch nur die eine Seite der politisch deflektorischen Funktion des Rechts. Sie wird praxo- logisch ergänzt durch eine (allerdings ebenso in sich widersprüchliche) Verrechtlichung der Politik. Verrechtlichung (als begrifflicher Ausdruck für eine wahrgenommene Dominanz des Rechtssystems über die Politik) und Politisierung (als begrifflicher Ausdruck für eine wahr- genommene Dominanz der Politik über das Rechtssystem) stehen tatsächlich nämlich in einem funktionalen Wirkungszusammenhang, wie auch bereits oben, als Ergebnis der Diskussion über das grundsätzlich Verhältnis von Politik und Recht, angemerkt wurde (siehe S. 105). Die in diesem Kontext getroffene Unterscheidung zwischen endogener und exogener Politisierung kann deshalb parallel auf das Feld der Verrechtlichung übertragen werden: So ist die thema- tisierte exogene Politisierung der Justiz durch das Mittel der Organklage gleichzeitig ein Beispiel für die endogene Verrechtlichung bzw. Justizialisierung der Politik – d.h. ein politisches +Macht- spiel* wird rechtlich ausgetragen, um das +Spielfeld* zur Erhöhung der eigenen Gewinnchancen auszudehnen oder einen politischen Konflikt rechtlich zu entschärfen. Oder anders ausgedrückt: Durch die Übersetzung einer politischen (Streit-)Frage in einen juristischen Diskurs erhält die Politik einen deflektorischen Übersetzungsgewinn. Die endogene Politisierung der Justiz durch den +politischen (Verfassungs-)Richter* ist wiederum ein Beleg für die gleichfalls stattfindende exogene Verrechtlichung bzw. Justizialisierung, die einen +Übergriff* von außen auf die Machtsphäre der politischen Institutionen durch das Mittel des Rechts – im Zuge seiner Schaffung wie durch seine Anwendung und Auslegung – bedeutet, was aus der Sicht der Politik sozusagen den negativen Nebeneffekt +gewollter* Verrechtlichung darstellt. Mit der präzisierenden Verwendung des Begriffs +Justizialisierung* und dem gemachten Einschub wurde allerdings angedeutet, daß Verrechtlichung mehrere Dimensionen aufweist. Nach Rüdiger Voigt sind dies – zusätzlich zur oben schon im wesentlichen abgehandelten Justizialisierung (als judikative Komponente) – Bürokratisierung (als exekutive Komponente) und Vergesetzlichung (als legislative Komponente) (vgl. Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft; S. 18). Voigt stellt eine wichtige Stimme im Rahmen der bundesdeutschen Verrechtlichungsdebatte dar, die in den 70er und den 80er Jahren sehr intensiv geführt wurde, mittlerweile (angesichts

KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 115 111 von Deregulierungsbestrebungen) aber etwas eingeschlafen ist. Die Sache an sich und auch der Begriff sind aber natürlich wesentlich älter. Schon 1928 konnte Otto Kirchheimer bemerken: +Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung, jeder tatsächlichen, jeder Macht-Entscheidung wird auszuweichen gesucht […]; alles wird neutralisiert dadurch, daß man es juristisch formalisiert […] Der Staat lebt vom Recht, aber es ist kein Recht mehr, es ist ein Rechtsmechanismus […] Das rechtsstaatliche Element in seiner nach der Überwindung des reinen Liberalismus nun sichtbaren Gestalt, die spezifische Transponierung der Dinge vom Tatsächlichen ins Rechtsmechanistische, ist das wesentliche Merkmal des Staates im Zeitalter des Gleichgewichts der Klassengegensätze.* (Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus; S. 36) Kirchheimer hat hier nicht nur klar die allgemeine Funktion der Verrechtlichung als deflektorische Entpolitisierung herausgearbeitet. Speziell spricht er die juristische Formalisierung im Rahmen der Vergesetzlichung des Politischen als +Neutralisierungsmechanismus* an. Diese Formalisierung des Rechts im Zuge der neuzeitlichen Rationalisierung wurde von Max Weber in seiner +Rechts- soziologie* (1922) erstmals eingehend thematisiert: Weber beschreibt hier Formalisierung, also die zunehmende Abstraktheit und Generalität der Rechtssätze, als zentrale Tendenz der Rechtsentwicklung, die dem Bedürfnis der +Gütermarktinteressen* nach einer Berechenbarkeit der Verhältnisse entgegenkomme. Diese Entwicklung sei lediglich durch einige wenige, eher unbedeutende antiformale Entwicklungen geschwächt (vgl. § 8; S. 505–513). 112 Doch Weber unterlag damit wohl einer Fehleinschätzung. Der sich organisierende Kapitalismus seiner Zeit beruhte, wie der +moderne* Wohlfahrtsstaat, auf der Intervention der Politik mittels Recht in die Sozial- und Wirtschaftssphäre, um die divergierenden sozialen Kräfte zusammen- zuhalten (vgl. auch Neumann: Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft). Im Sinne dieses Interesses war es nicht nur rational, sondern sogar politisch 113 geboten, das formalisierte Recht +materiell aufzuweichen*. Einzig durch rechtlich gefaßte materielle Zugeständnisse an die Arbeiterklasse war diese ins System zu integrieren, was zum großen Teil gelungen ist, wenn nicht gar von einem Verschwinden des Proletariats gesprochen werden kann (vgl. auch Gorz: Abschied vom Proletariat). 114 Diese wohlfahrtsstaatliche Umfunktionierung des Rechts stärkte den speziell in Deutschland ohnehin traditionell enormen Glauben ins Recht. Durch diese +Rechtsgläubigkeit* – die wie jeder Glaube auf einer Illusion beruht, Freiheit in Sekurität verwandelt und politische Bezieh- ungen in Rechtsbeziehungen auflöst (vgl. wiederum Neumann: Ökonomie und Politik im

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von Deregulierungsbestrebungen) aber etwas e<strong>in</strong>geschlafen ist. Die Sache an sich und auch<br />

<strong>der</strong> Begriff s<strong>in</strong>d aber natürlich wesentlich älter. Schon 1928 konnte Otto Kirchheimer bemerken:<br />

+Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung, je<strong>der</strong> tatsächlichen, je<strong>der</strong> Macht-Entscheidung<br />

wird auszuweichen gesucht […]; alles wird neutralisiert dadurch, daß man es juristisch formalisiert<br />

[…] Der Staat lebt vom Recht, aber es ist ke<strong>in</strong> Recht mehr, es ist e<strong>in</strong> Rechtsmechanismus […] Das<br />

rechtsstaatliche Element <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er nach <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung des re<strong>in</strong>en Liberalismus nun sichtbaren Gestalt,<br />

die spezifische Transponierung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge vom Tatsächlichen <strong>in</strong>s Rechtsmechanistische, ist das wesentliche<br />

Merkmal des Staates im Zeitalter des Gleichgewichts <strong>der</strong> Klassengegensätze.* (Zur Staatslehre des<br />

Sozialismus und Bolschewismus; S. 36)<br />

Kirchheimer hat hier nicht nur klar die allgeme<strong>in</strong>e Funktion <strong>der</strong> Verrechtlichung als deflektorische<br />

Entpolitisierung herausgearbeitet. Speziell spricht er die juristische Formalisierung im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Vergesetzlichung des Politischen als +Neutralisierungsmechanismus* an. Diese Formalisierung<br />

des Rechts im Zuge <strong>der</strong> neuzeitlichen Rationalisierung wurde von Max Weber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er +Rechts-<br />

soziologie* (1922) erstmals e<strong>in</strong>gehend thematisiert: Weber beschreibt hier Formalisierung,<br />

also die zunehmende Abstraktheit und Generalität <strong>der</strong> Rechtssätze, als zentrale Tendenz <strong>der</strong><br />

Rechtsentwicklung, die dem Bedürfnis <strong>der</strong> +Gütermarkt<strong>in</strong>teressen* nach e<strong>in</strong>er Berechenbarkeit<br />

<strong>der</strong> Verhältnisse entgegenkomme. Diese Entwicklung sei lediglich durch e<strong>in</strong>ige wenige, eher<br />

unbedeutende antiformale Entwicklungen geschwächt (vgl. § 8; S. 505–513). 112<br />

Doch Weber unterlag damit wohl e<strong>in</strong>er Fehle<strong>in</strong>schätzung. Der sich organisierende Kapitalismus<br />

se<strong>in</strong>er Zeit beruhte, wie <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>ne* Wohlfahrtsstaat, auf <strong>der</strong> Intervention <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> mittels<br />

Recht <strong>in</strong> die Sozial- und Wirtschaftssphäre, um die divergierenden sozialen Kräfte zusammen-<br />

zuhalten (vgl. auch Neumann: Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Gesellschaft). Im S<strong>in</strong>ne dieses Interesses war es nicht nur rational, son<strong>der</strong>n sogar politisch<br />

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geboten, das formalisierte Recht +materiell aufzuweichen*. E<strong>in</strong>zig durch rechtlich gefaßte<br />

materielle Zugeständnisse an die Arbeiterklasse war diese <strong>in</strong>s System zu <strong>in</strong>tegrieren, was zum<br />

großen Teil gelungen ist, wenn nicht gar von e<strong>in</strong>em Verschw<strong>in</strong>den des Proletariats gesprochen<br />

werden kann (vgl. auch Gorz: Abschied vom Proletariat). 114<br />

Diese wohlfahrtsstaatliche Umfunktionierung des Rechts stärkte den speziell <strong>in</strong> Deutschland<br />

ohneh<strong>in</strong> traditionell enormen Glauben <strong>in</strong>s Recht. Durch diese +Rechtsgläubigkeit* – die wie<br />

je<strong>der</strong> Glaube auf e<strong>in</strong>er Illusion beruht, Freiheit <strong>in</strong> Sekurität verwandelt und politische Bezieh-<br />

ungen <strong>in</strong> Rechtsbeziehungen auflöst (vgl. wie<strong>der</strong>um Neumann: Ökonomie und <strong>Politik</strong> im

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