Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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XVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE Arbeit und Kapital bestimmte Industriegesellschaft, so sollten ihre Anfänge erst im 19. Jahrhundert angesetzt werden. Der damals sich vollziehende (weitere) Strukturwandel schlug sich natürlich im Bewußtsein der Menschen nieder. Man spürte den Aufbruch in eine neue Epoche: die Epoche der Industrie. Dies wird auch anhand der ersten soziologischen Konzepte deutlich. Der Autodidakt und Frühsozialist Claude-Henri de Saint-Simon (1760–1825) teilte die Gesellschaft in Produzierende und Nicht-Produzierende ein. Erstere faßte er als industrielle Klasse zusammen (wozu also neben den eigentlichen +Industriellen* auch Arbeiter, Bauern und Handwerker gehörten). Die industrielle Klasse sollte gemäß Saint-Simon aufgrund ihrer enormen Bedeutung endlich anstelle des Adels den ersten Platz in der Gesellschaft einnehmen. Nur so könnten Gleichheit, das allgemeine Wohl und der soziale Friede sichergestellt werden (vgl. Catéchisme des industriels; 22 S. 141ff.). Auch Auguste Comte (1798–1857) war vom Fortschritts- und Technikglauben beseelt. Er sah die Ablösung des metaphysischen Stadiums der Menschheit durch ein positiv- wissenschaftliches Stadium gekommen, in dem Wissenschaft und Technik sich gegenseitig zum Wohl der Menschheit ergänzen (vgl. Discours sur l’ésprit positiv; S. 56–67). Deshalb forderte er ein Bündnis der Proletarier und der Philosophen, die Einführung einer höheren Volksbildung sowie eine +volkstümliche Politik* (politique populaire). Doch nicht nur im fortschrittlichen Frankreich, auch im damals vergleichsweise zurückgebliebenen 23 Bayern war man voll Fortschrittsoptimismus. So führte ein Redner im Jahr 1820 zur ersten Jahresversammlung des Industrie- und Kulturvereins in Nürnberg aus: +Mit der Zunahme der Kenntnisse des Menschen werden neue Hülfsquellen und Kräfte seinem Willen untertänig gemacht, welche, in einem rohen Zustande der Gesellschaft als Träume einer ungeregelten Einbildungskraft verlacht worden wären. – Dieß beweist unter andern die außerordentliche Erfindung: Schriften mit einer Schnelligkeit zu vervielfältigen, welche einen Menschen in den Stand setzt, die Arbeit von zwanzig tausend Abschreibern zu ersetzen, […] desgleichen der Plan das Weltmeer zu beschiffen, die Erfindung des Schießpulvers, die ausgedehnte Anwendung der Dampfmaschine […] Diese und ähnliche Erfindungen haben den Zustand aller menschlichen Verhältnisse geändert und ihre Folgen haben die intellektuellen Kräfte des menschlichen Geistes bereits zu einer Höhe erhoben, welche durch keine andern Mittel erreicht werden konnte.* (Johann Harl, zitiert nach Zwehl: Aufbruch ins Industriezeitalter; S. 135f.) Selbst Karl Marx, der radikale Kritiker der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, erkannte die zumindest partiell revolutionäre Rolle des Bürgertums und die realen Fortschritte durch

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XIX die industrielle Produktionsweise an (wobei er allerdings eine stark eurozentrisch geprägte Sichtweise offenbart): +An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittel- standes traten die industriellen Millionäre, […] die modernen Bourgeois […] Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Die Bourgeoise, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie […] reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikationen alle, auch die barbarischsten [!] Nationen in die Zivilisation.* (Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei; S. 33f.) Nach Marx gräbt sich die bürgerliche Gesellschaft damit aber nur ihr eigenes Grab, denn die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, die auf der Ausbeutung der Proletarier beruht und eine +Epidemie der Überproduktion* hervorruft (ebd.; S. 36), führen letzendlich zur proletarischen Erhebung. Erst in der kommunistischen Gesellschaft verwirklicht sich dann – nach einer sozialistischen Übergangsphase der Diktatur des Proletariats – das +Reich der Freiheit*, und die Produktionsverhältnisse entsprechen endlich dem erreichten Stand der Produktivkräfte. Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems 1989 scheint diese Thesen Marx’ widerlegt zu haben. Viele sehen in jenem Jahr eine Zäsur (vgl. z.B. McNeill: Winds of Change) – eine Zäsur, die vielleicht auch den Übergang von der politischen Moderne zur politischen Post- moderne markieren könnte (vgl. Schönherr-Mann: Postmoderne Theorien des Politischen; S. 11–16). Diese wäre von Globalisierung, neuen Kommunikationstechnologien und einem multipolaren Weltsystem geprägt (siehe v.a. Abschnitt 2.1). Und sie wäre auch eine Postmoderne, die mit dem Ende der +traditionellen* Industriegesellschaft zusammenfällt. Diese traditionelle Industriegesellschaft, die auf sozialer Integration durch Massenkonsum und der politischen Protektion und Steuerung durch die nationalstaatliche Politik beruhte, ist jedoch eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts und wurde durch die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts nur vorbereitet. Man kann deshalb den Beginn einer so verstandenen (industriellen) Moderne auch erst in unserem Jahrhundert ansetzen (vgl. z.B. Zapf: Entwicklung und Sozialstruktur moderner Gesellschaften). 24

XVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Arbeit und Kapital bestimmte Industriegesellschaft, so sollten ihre Anfänge erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

angesetzt werden.<br />

Der damals sich vollziehende (weitere) Strukturwandel schlug sich natürlich im Bewußtse<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Menschen nie<strong>der</strong>. Man spürte den Aufbruch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue Epoche: die Epoche <strong>der</strong> Industrie.<br />

Dies wird auch anhand <strong>der</strong> ersten soziologischen Konzepte deutlich. Der Autodidakt und<br />

Frühsozialist Claude-Henri de Sa<strong>in</strong>t-Simon (1760–1825) teilte die Gesellschaft <strong>in</strong> Produzierende<br />

und Nicht-Produzierende e<strong>in</strong>. Erstere faßte er als <strong>in</strong>dustrielle Klasse zusammen (wozu also<br />

neben den eigentlichen +Industriellen* auch Arbeiter, Bauern und Handwerker gehörten).<br />

Die <strong>in</strong>dustrielle Klasse sollte gemäß Sa<strong>in</strong>t-Simon aufgrund ihrer enormen Bedeutung endlich<br />

anstelle des Adels den ersten Platz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft e<strong>in</strong>nehmen. Nur so könnten Gleichheit,<br />

das allgeme<strong>in</strong>e Wohl und <strong>der</strong> soziale Friede sichergestellt werden (vgl. Catéchisme des <strong>in</strong>dustriels;<br />

22<br />

S. 141ff.). Auch Auguste Comte (1798–1857) war vom Fortschritts- und Technikglauben<br />

beseelt. Er sah die Ablösung des metaphysischen Stadiums <strong>der</strong> Menschheit durch e<strong>in</strong> positiv-<br />

wissenschaftliches Stadium gekommen, <strong>in</strong> dem Wissenschaft und Technik sich gegenseitig<br />

zum Wohl <strong>der</strong> Menschheit ergänzen (vgl. Discours sur l’ésprit positiv; S. 56–67). Deshalb<br />

for<strong>der</strong>te er e<strong>in</strong> Bündnis <strong>der</strong> Proletarier und <strong>der</strong> Philosophen, die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er höheren<br />

Volksbildung sowie e<strong>in</strong>e +volkstümliche <strong>Politik</strong>* (politique populaire).<br />

Doch nicht nur im fortschrittlichen Frankreich, auch im damals vergleichsweise zurückgebliebenen<br />

23<br />

Bayern war man voll Fortschrittsoptimismus. So führte e<strong>in</strong> Redner im Jahr 1820 zur ersten<br />

Jahresversammlung des Industrie- und Kulturvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Nürnberg aus:<br />

+Mit <strong>der</strong> Zunahme <strong>der</strong> Kenntnisse des Menschen werden neue Hülfsquellen und Kräfte se<strong>in</strong>em Willen<br />

untertänig gemacht, welche, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em rohen Zustande <strong>der</strong> Gesellschaft als Träume e<strong>in</strong>er ungeregelten<br />

E<strong>in</strong>bildungskraft verlacht worden wären. – Dieß beweist unter an<strong>der</strong>n die außerordentliche Erf<strong>in</strong>dung:<br />

Schriften mit e<strong>in</strong>er Schnelligkeit zu vervielfältigen, welche e<strong>in</strong>en Menschen <strong>in</strong> den Stand setzt, die<br />

Arbeit von zwanzig tausend Abschreibern zu ersetzen, […] desgleichen <strong>der</strong> Plan das Weltmeer zu<br />

beschiffen, die Erf<strong>in</strong>dung des Schießpulvers, die ausgedehnte Anwendung <strong>der</strong> Dampfmasch<strong>in</strong>e […]<br />

Diese und ähnliche Erf<strong>in</strong>dungen haben den Zustand aller menschlichen Verhältnisse geän<strong>der</strong>t und<br />

ihre Folgen haben die <strong>in</strong>tellektuellen Kräfte des menschlichen Geistes bereits zu e<strong>in</strong>er Höhe erhoben,<br />

welche durch ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>n Mittel erreicht werden konnte.* (Johann Harl, zitiert nach Zwehl: Aufbruch<br />

<strong>in</strong>s Industriezeitalter; S. 135f.)<br />

Selbst Karl Marx, <strong>der</strong> radikale Kritiker <strong>der</strong> bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, erkannte<br />

die zum<strong>in</strong>dest partiell revolutionäre Rolle des Bürgertums und die realen Fortschritte durch

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