Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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XVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE historistisches Verständnis für das grundsätzliche Neue, das mit dem 16. Jahrhundert in die Welt getreten war: +Die noch heute […] übliche Gliederung in Neuzeit, Mittelalter und Altertum […] konnte sich erst ausbilden, nachdem die Ausdrücke ›neue‹ oder ›moderne‹ Zeit […] ihren bloß chronologischen Sinn eingebüßt […] hatten […] Während im christlichen Abendland die ›neue Zeit‹ das […] erst mit dem Jüngsten Tag anbrechende Weltalter der Zukunft bedeutet hatte […], drückt der profane Begriff der Neuzeit die Überzeugung aus, daß die Zukunft schon begonnen hat […] Damit hat sich die Zäsur des Neubeginns in die Vergangenheit verschoben; erst im Lauf des 18. Jahrhunderts ist die Epochen- schwelle um 1500 retrospektiv als dieser Anfang begriffen worden.* (Der philosophische Diskurs der Moderne; S. 14) 12 Genau mit diesem Bewußtsein beginnt für Habermas das wirkliche Projekt der Aufklärung. Es wurde von Philosophen wie Kant (1724–1804) und vor allem Hegel (1770–1831) (vor)- 13 formuliert. Kant beantwortete die Frage +Was ist Aufklärung?* (1784) mit den berühmten Worten: +Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit* (S. 1). Er begab sich jedoch leider selbst in solche Unmündigkeit, indem er zwischen theo- retischer und praktischer Vernunft differenzierte und sich damit der Möglichkeit zur Transzen- dierung der Immanenz des Sittlichen beraubte. Nur so ist zu erklären, warum der kritische Impuls seines kategorischen Imperativs zur Apologie der Macht verkommt, wenn er z.B. in seiner +Rechtslehre* (1797) feststellt, daß es +wider das gesetzgebende Oberhaupt […] keinen rechtmäßigen Widerstand des Volkes* gibt (S. 125). Kant empfand die von ihm in einer neuen Dimension ins Spiel gebrachte, mithin prinzipielle Trennung zwischen der reinen, der theoretischen Natur- und Geisteswissenschaft und der praktischen Wissenschaft von der Moral (die ja bereits auf Aristoteles zurückgeht) nicht als Entzweiung. Doch das +bedeutet […] nur, daß sich in Kants Philosophie die wesentlichen Züge des Zeitalters wie in einem Spiegel reflektieren, ohne daß Kant die Moderne als solche 14 begriffen hätte* (Der philosophische Diskurs der Moderne; S. 30). Darum ist Hegel zwar +nicht der erste Philosoph, der der modernen Zeit angehört, aber der erste, für den die Moderne zum Problem geworden ist* (ebd.; S. 57). Hier kann man zwar berechtigte Zweifel anmelden (schließlich waren auch die von Welsch angeführten Denker ihrer Zeit gegenüber kritisch), aber für Habermas steht fest: Erst Hegel +sieht die Philosophie vor die Aufgabe gestellt, ihre Zeit, und das ist für ihn die moderne Zeit, in Gedanken zu fassen* (ebd.; S. 26f.). Ergebnis

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XVII dieses Hegelschen Griffs nach dem +Zeitgeist* ist die Feststellung, daß die Entfaltung der Subjektivität zum Kennzeichen der +Gegenwart* geworden ist: +Das Prinzip der neueren Welt überhaupt ist Freiheit der Subjektivität* (Grundlinien; § 273, Zusatz). 15 16 Allerdings ist das reale Individuum seinem eigentlichen Sein entfremdet. Erst wenn sich die vom Subjekt gespeiste Moralität, die sich im Willen zur Freiheit äußert, in der sittlichen 17 Objektivität des Staates Substantialität verleiht, wird diese Freiheit konkret. Das Subjekt 18 gelangt nur in der Einheit mit dem Absoluten zu sich selbst. +Diese, Hegel eigentümliche Denkfigur setzt die Mittel der Subjektphilosophie zum Zweck einer Überwindung der subjekt- zentrierten Vernunft ein* (ebd.; S. 46), stellt Habermas fest. Aber +kaum hatte Hegel die Entzweiung der Moderne auf den Begriff gebracht, schickte sich schon die Unruhe und die Bewegung der Moderne an, diesen Begriff zu sprengen* (ebd.; S. 55). Das für Habermas charakteristische Element der Modernität des 18. Jahrhunderts ist also das sich entwickelnde, doch noch nicht über sich hinausgreifende Bewußtsein für die +Ent- zweiung* der modernen Welt. Dieses Bewußtsein reflektiert einen fundamentalen Wandel der sozialen Strukturen, den Habermas bereits in seiner Habilitationsschrift +Strukturwandel der Öffentlichkeit* (1963) analysiert hat: Ende des 17. Jahrhunderts bis Anfang des 18. Jahrhun- 19 derts kam es zu einer Differenzierung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, womit sich auch der Charakter der Öffentlichkeit änderte. Sie wandelte sich von einem Medium der bloßen Repräsentation (fürstlicher Macht und des sozialen Status) zur politisch orientierten bürgerlichen Öffentlichkeit. Das Bürgertum nämlich artikulierte nun immer heftiger seine Mitsprache- und Machtansprüche, die schließlich (in Frankreich) in der +Grande Révolution* von 1789 explosiv kulminierten. Das 18. Jahrhundert war also ebenso das Jahrhundert der Grundlegung der bürgerlichen Gesell- schaft. Tatsächlich verwirklicht wurde diese allerdings erst im 19. Jahrhundert. Denn nicht nur die ökonomische, sondern zugleich immer mehr politische Macht ging nun in die Hände des Bürgertums über. Dies gilt vor allem für England und Frankreich, während gerade die 20 deutschen Gebiete noch unter einem +demokratischen Defizit* litten. Auch hier war das soziale Leben jedoch durch einen weiteren strukturellen Wandel gekennzeichnet: Die beginnende Industrialisierung erlaubte nicht nur die Versorgung der stark anwachsenden 21 Bevölkerung mit Massengütern. Sie erzeugte eine neue gesellschaftliche Klasse – das Proletariat. Versteht man deshalb unter +Moderne* die bürgerliche, vom grundlegenden Gegensatz zwischen

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dieses Hegelschen Griffs nach dem +Zeitgeist* ist die Feststellung, daß die Entfaltung <strong>der</strong><br />

Subjektivität zum Kennzeichen <strong>der</strong> +Gegenwart* geworden ist: +Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> neueren Welt<br />

überhaupt ist Freiheit <strong>der</strong> Subjektivität* (Grundl<strong>in</strong>ien; § 273, Zusatz). 15<br />

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Allerd<strong>in</strong>gs ist das reale Individuum se<strong>in</strong>em eigentlichen Se<strong>in</strong> entfremdet. Erst wenn sich<br />

die vom Subjekt gespeiste Moralität, die sich im Willen zur Freiheit äußert, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sittlichen<br />

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Objektivität des Staates Substantialität verleiht, wird diese Freiheit konkret. Das Subjekt<br />

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gelangt nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit mit dem Absoluten zu sich selbst. +Diese, Hegel eigentümliche<br />

Denkfigur setzt die Mittel <strong>der</strong> Subjektphilosophie zum Zweck e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> subjekt-<br />

zentrierten Vernunft e<strong>in</strong>* (ebd.; S. 46), stellt Habermas fest. Aber +kaum hatte Hegel die<br />

Entzweiung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf den Begriff gebracht, schickte sich schon die Unruhe und die<br />

Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne an, diesen Begriff zu sprengen* (ebd.; S. 55).<br />

Das für Habermas charakteristische Element <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts ist also<br />

das sich entwickelnde, doch noch nicht über sich h<strong>in</strong>ausgreifende Bewußtse<strong>in</strong> für die +Ent-<br />

zweiung* <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt. Dieses Bewußtse<strong>in</strong> reflektiert e<strong>in</strong>en fundamentalen Wandel<br />

<strong>der</strong> sozialen Strukturen, den Habermas bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Habilitationsschrift +Strukturwandel<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit* (1963) analysiert hat: Ende des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts bis Anfang des 18. Jahrhun-<br />

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<strong>der</strong>ts kam es zu e<strong>in</strong>er Differenzierung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, womit<br />

sich auch <strong>der</strong> Charakter <strong>der</strong> Öffentlichkeit än<strong>der</strong>te. Sie wandelte sich von e<strong>in</strong>em Medium<br />

<strong>der</strong> bloßen Repräsentation (fürstlicher Macht und des sozialen Status) zur politisch orientierten<br />

bürgerlichen Öffentlichkeit. Das Bürgertum nämlich artikulierte nun immer heftiger se<strong>in</strong>e<br />

Mitsprache- und Machtansprüche, die schließlich (<strong>in</strong> Frankreich) <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Grande Révolution*<br />

von 1789 explosiv kulm<strong>in</strong>ierten.<br />

Das 18. Jahrhun<strong>der</strong>t war also ebenso das Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Grundlegung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesell-<br />

schaft. Tatsächlich verwirklicht wurde diese allerd<strong>in</strong>gs erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Denn nicht<br />

nur die ökonomische, son<strong>der</strong>n zugleich immer mehr politische Macht g<strong>in</strong>g nun <strong>in</strong> die Hände<br />

des Bürgertums über. Dies gilt vor allem für England und Frankreich, während gerade die<br />

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deutschen Gebiete noch unter e<strong>in</strong>em +demokratischen Defizit* litten. Auch hier war das<br />

soziale Leben jedoch durch e<strong>in</strong>en weiteren strukturellen Wandel gekennzeichnet: Die<br />

beg<strong>in</strong>nende Industrialisierung erlaubte nicht nur die Versorgung <strong>der</strong> stark anwachsenden<br />

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Bevölkerung mit Massengütern. Sie erzeugte e<strong>in</strong>e neue gesellschaftliche Klasse – das Proletariat.<br />

Versteht man deshalb unter +Mo<strong>der</strong>ne* die bürgerliche, vom grundlegenden Gegensatz zwischen

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