Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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100 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE schließenden) Theorie des modernen Verfassungsstaats (siehe auch Abschnitt 1.4) wie politisch- praktisch als eine Art +funktional gespaltete Einheit* den Kern des politischen Systems – wobei sich Politik im Rechtsstaat allerdings wesentlich durch Recht vollzieht, das die Legislative setzt und die Exekutive umsetzt. Diese Perspektive, die eine klare Trennung von politischem System und Rechtssystem unterstellt, 81 ist allerdings selbst aus systemtheoretisch-funktionalistischer Sichtweise fragwürdig. So betrachtet etwa Talcot Parsons Recht als Mechanismus sozialer Kontrolle und als (normative) soziale Struktur, die so gut wie alle Gesellschaftsbereiche durchdringt (vgl. Recht und soziale Konflikte; S. 121f.). Recht ist gemäß diesem Verständnis zwar kein direkt politisches Phänomen, doch sind die Systeme Recht und Politik +aufs engste miteinander verknüpft* (ebd. S. 123). Denn Recht bedarf der Durchsetzung und bedient sich dabei der staatlich monopolisierten Gewalt; ferner begrenzt das staatliche Territorium den Raum seiner +allgemeinen* Gültigkeit (vgl. ebd.; S. 125). Auch von Niklas Luhmann, der sich sehr intensiv mit Problemen der +Rechtssoziologie* aus- einandergesetzt hat, wird das Rechtssystem – zumindest vor seiner +autopoietischen Wende* (siehe auch S. XXV) – als eng mit dem politischen System verflochten bzw. als nur teilautonomes Subsystem des politischen Systems betrachtet: +Ich spreche vom politischen System und sehe die Justiz als Teilsystem […] dieses politischen Systems*, bemerkt er 1969 in dem Aufsatz +Funktionen der Rechtsprechung im politischen System* (S. 46). Die andererseits in der Tat feststellbare, strukturell entlastende institutionelle Trennung des Rechtssystems von der Politik (vgl. auch Rechtssoziologie; S. 238) wurde durch die Komplexitätssteigerung und den wachsenden Regelungsbedarf im Zuge der immer weiter voranschreitenden sozialen Modernisierung not- 82 wendig (vgl. Ausdifferenzierung des Rechtssystems; S. 40ff.). Das Recht mußte also +autonomer und zugleich leistungsfähiger konstituiert werden* (Funktionen der Rechtsprechung im politischen System; S. 47). Deshalb entwickelte sich im neuzeitlichen Europa mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ein Modell der Gewaltenteilung bzw. funktionalen Differenzierung. Doch die klassische Unter- scheidung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative berücksichtigt die politische +Realität* in modernen Gesellschaften nicht ausreichend, die (überwiegend) als Parteiendemokratien organisiert sind. Im rechtlichen Rahmen dieser Organisationsform ist direkter (partei)politischer Einfluß auf die Legislative voll legitimiert, während dies in bezug auf die Exekutive nur teilweise

KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 101 und im Verhältnis zur Judikative gar nicht gilt. Das macht die Rechtsprechung zu einem +Eckstein der Systemdifferenzierung*: +Die politische Neutralisierung ihrer partiellen Kompetenz ermöglicht […] ein Doppeltes: politische Beeinflußbarkeit und Eigenständigkeit der Produktion verbindlicher Entscheidungen, Abhängigkeit und Unabhängigkeit dieses Teilsystems des politischen Systems. In dieser Kombination von Abhängigkeit und Unabhängigkeit liegt ein allgemeines Erfordernis differenzierter Systeme und zugleich ein taktischer Vorteil: Entscheidungsprobleme können politisiert und entpolitisiert, können aus der Politik in die Legislative, die Exekutive, ja bis in die Justiz zurückverschoben werden, je nachdem, wo sich die besten Lösungsmöglichkeiten finden.* (Ebd.; S. 49) Die politische Funktion des Rechtssystem liegt also gemäß Luhmann gerade in politischer Neutralisierung. Luhmann hat meiner Meinung nach mit dieser Bestimmung die Problematik des Zusammenspiels von Politik und Rechtssystem auf den Punkt gebracht – auch wenn er selbst darin weniger ein Problem, als vielmehr gerade die spezifische Leistung des Rechtssystems 83 für das Funktionieren des Rechtsstaats sieht. Überdies betont Luhmann seit geraumer Zeit auch stärker die Autonomie der Systeme Recht und Politik voneinander (vgl. z.B. Die Einheit 84 des Rechtssystems sowie Das Recht der Gesellschaft), die deshalb auch unterschiedliche Leitdifferenzen aufweisen, wobei die Unterscheidung Recht/Unrecht spezifisch für das Rechts- system ist (vgl. Codierung des Rechtssystems), während im politischem System (des parteiendemo- kratischen Staates) die Leitdifferenz Regierung/Opposition zentrale Gültigkeit besitzt (vgl. z.B. Die Zukunft der Demokratie; S. 127ff.). 85 Die Frage nach der politischen Funktion des Rechts kann allerdings auch ganz anders beantwortet werden. Nach marxistischer Auffassung steht Recht in einem klaren funktionalen Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung von Herrschaft und hat damit ideologischen Charakter. Eine +reine* (von aller Historizität und der sozial-politischen Bedingtheit der Rechts abstrahierende) Rechts- lehre, wie sie die +bürgerliche*, positivistische Rechtstheorie zum Ideal erhob und die ihrerseits 86 +am reinsten* bei Kehlsen zum Ausdruck kommt, ist selbst ideologisch, denn sie erfaßt den dem Recht wesentlichen Überbau-Charakter nicht. Zum Verhältnis von Basis und Überbau heißt es nämlich bei Marx in seinem berühmten Vorwort zur +Kritik der Politischen Ökonomie* (1859): Die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse +bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt* (S. 172). Dieser Überbau, der den Anspruch der Allgemein-

100 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

schließenden) Theorie des mo<strong>der</strong>nen Verfassungsstaats (siehe auch Abschnitt 1.4) wie politisch-<br />

praktisch als e<strong>in</strong>e Art +funktional gespaltete E<strong>in</strong>heit* den Kern des politischen Systems – wobei<br />

sich <strong>Politik</strong> im Rechtsstaat allerd<strong>in</strong>gs wesentlich durch Recht vollzieht, das die Legislative setzt<br />

und die Exekutive umsetzt.<br />

Diese Perspektive, die e<strong>in</strong>e klare Trennung von politischem System und Rechtssystem unterstellt,<br />

81<br />

ist allerd<strong>in</strong>gs selbst aus systemtheoretisch-funktionalistischer Sichtweise fragwürdig. So betrachtet<br />

etwa Talcot Parsons Recht als Mechanismus sozialer Kontrolle und als (normative) soziale<br />

Struktur, die so gut wie alle Gesellschaftsbereiche durchdr<strong>in</strong>gt (vgl. Recht und soziale Konflikte;<br />

S. 121f.). Recht ist gemäß diesem Verständnis zwar ke<strong>in</strong> direkt politisches Phänomen, doch<br />

s<strong>in</strong>d die Systeme Recht und <strong>Politik</strong> +aufs engste mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verknüpft* (ebd. S. 123). Denn<br />

Recht bedarf <strong>der</strong> Durchsetzung und bedient sich dabei <strong>der</strong> staatlich monopolisierten Gewalt;<br />

ferner begrenzt das staatliche Territorium den Raum se<strong>in</strong>er +allgeme<strong>in</strong>en* Gültigkeit (vgl. ebd.;<br />

S. 125).<br />

Auch von Niklas Luhmann, <strong>der</strong> sich sehr <strong>in</strong>tensiv mit Problemen <strong>der</strong> +Rechtssoziologie* aus-<br />

e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat, wird das Rechtssystem – zum<strong>in</strong>dest vor se<strong>in</strong>er +autopoietischen Wende*<br />

(siehe auch S. XXV) – als eng mit dem politischen System verflochten bzw. als nur teilautonomes<br />

Subsystem des politischen Systems betrachtet: +Ich spreche vom politischen System und sehe<br />

die Justiz als Teilsystem […] dieses politischen Systems*, bemerkt er 1969 <strong>in</strong> dem Aufsatz<br />

+Funktionen <strong>der</strong> Rechtsprechung im politischen System* (S. 46). Die an<strong>der</strong>erseits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat<br />

feststellbare, strukturell entlastende <strong>in</strong>stitutionelle Trennung des Rechtssystems von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong><br />

(vgl. auch Rechtssoziologie; S. 238) wurde durch die Komplexitätssteigerung und den wachsenden<br />

Regelungsbedarf im Zuge <strong>der</strong> immer weiter voranschreitenden sozialen Mo<strong>der</strong>nisierung not-<br />

82<br />

wendig (vgl. Ausdifferenzierung des Rechtssystems; S. 40ff.). Das Recht mußte also +autonomer<br />

und zugleich leistungsfähiger konstituiert werden* (Funktionen <strong>der</strong> Rechtsprechung im politischen<br />

System; S. 47).<br />

Deshalb entwickelte sich im neuzeitlichen Europa mit e<strong>in</strong>er gewissen Zwangsläufigkeit e<strong>in</strong><br />

Modell <strong>der</strong> Gewaltenteilung bzw. funktionalen Differenzierung. Doch die klassische Unter-<br />

scheidung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative berücksichtigt die politische +Realität*<br />

<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften nicht ausreichend, die (überwiegend) als Parteiendemokratien<br />

organisiert s<strong>in</strong>d. Im rechtlichen Rahmen dieser Organisationsform ist direkter (partei)politischer<br />

E<strong>in</strong>fluß auf die Legislative voll legitimiert, während dies <strong>in</strong> bezug auf die Exekutive nur teilweise

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