Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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54 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE ständigung und damit zum (vernünftigen) Konsens. Gegen eine solche Auffassung hat Lyotard allerdings bereits in seiner Schrift +Das postmoderne Wissen* (1979) einen gewichtigen +prak- tischen* Einwand geltend gemacht: +Der Konsens ist ein veralteter und suspekter Wert geworden, nicht aber die Gerechtigkeit. Man muß daher zu einer Idee […] der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsens gebunden ist.* (S. 190) Im seinem philosophischen Hauptwerk +Der Widerstreit* hat Lyotard versucht, ein Politik-Konzept auf dieser Basis zu entwickeln, und greift damit die Ausgangsfrage der klassischen, der antiken politischen Theorie wieder auf (siehe Abschnitt 1.1). Legitimation von Herrschaft, der sich die politischen Philosophen der Neuzeit primär widmeten (siehe Abschnitt 1.2), erscheint ihm als Aufgabe und Ziel politischer Philosophie nicht nur fragwürdig, sondern zum Scheitern verdammt: 144 +Die Autorität läßt sich nicht ableiten. Die Versuche zur Legitimation der Autorität führen in den Teufelskreis (ich habe die Macht über dich, weil du mich dazu autorisierst) […]* (S. 237 [Nr. 203]) Was aber, wenn nicht Macht, macht nach Lyotard dann den Kern des Politischen aus? – Zunächst einmal stellt er fest, daß Politik nicht einfach eine spezielle oder gar den anderen übergeordnete Diskursart ist: +Wenn die Politik eine Diskursart wäre und den Anspruch auf diesen höchsten Status erhöbe, wäre ihre Nichtigkeit schnell aufgezeigt. Aber die Politik ist die Drohung des Widerstreits. Sie ist keine Diskursart, sondern deren Vielfalt, die Mannigfaltigkeit der Zwecke und insbesondere die Frage nach der Verkettung.* (Ebd.; S. 230 [Nr. 190]) Zu einem politischen Bewußtsein gelangt man deshalb, +indem man zeigt, daß die Verkettung von Sätzen problematisch und eben dieses Problem die Politik ist* (ebd.; S. 12). Wenn Politik aber alleine ein Problem der Sprache, genauer: ein Problem der Verkettung von Sätzen ist, so ist diese (wiederum sprachliche) Bestimmung selbst hoch problematisch. Es erfolgt dadurch nämlich eine Eliminierung des Handlungsaspekts von Politik, dem von der Antike bis zu Marx und Weber stets größte Bedeutung zugemessen wurde. Politik war danach nämlich immer vor allem eines: die aktive Gestaltung der sozial-politischen Ordnung. Will man diesen Anspruch

KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 55 nicht aufgeben, so muß allerdings eine neue politische Handlungseinheit gefunden werden, wie Etzioni (siehe auch S. LXXV) schon 1968 treffend feststellte: +Genau wie der Übergang vom Mittelalter zur Moderne den Feudalherrn als Aktor zugunsten des Nationalstaats ablöste, erfordert der Übergang zum postmodernen Zeitalter die Entwicklung einer neuen Handlungseinheit.* (Die aktive Gesellschaft; S. 35) Erscheinungen wie zunehmende Globalisierung und Individualisierung stellen schließlich die klassischen politischen Institutionen immer mehr in Frage. Als Reaktion auf die auch bereits von Etzioni in ihren Ansätzen gesehenen Transformationsprozesse der modernen Gesellschaft, empfiehlt dieser einen dynamischen Gesellschaftsvertrag, der sich den Wandlungen des Sozialen anzupassen vermag (vgl. ebd.; S. 38f.). Das von ihm im obigen Zitat formulierte Problem ist damit jedoch nicht gelöst. Denn die neuen Handlungseinheiten der Politik lassen sich wohl kaum vertraglich definieren, und man wird zugleich ein erweitertes, entgrenztes Politik- verständnis zugrunde legen müssen, um den veränderten Verhältnissen gerecht zu werden. In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion sind derzeit vor allem zwei interessante theore- tische Entwürfe, die hier (auch mit neuen Politik-Begriffen) ansetzen: Es handelt sich um Ulrich Becks Konzept der +Subpolitik* und die von Anthony Giddens vorgeschlagene Unterscheidung zwischen emanzipatorischer Politik und dem, was er +life politics* nennt. In seinem Buch +Die Erfindung des Politischen* (1993) legt Beck noch einmal ausführlich dar, was er schon 1986 in der +Risikogesellschaft* skizziert hatte: Ähnlich wie Schmitt (siehe S. 37), weist er hier darauf hin, daß die Gleichsetzung des Politischen mit dem Staatlichen unzulänglich ist – kommt aber freilich zu einer ganz anderen, geradezu entgegengesetzten Bestimmung. Politik in der globalen Risikogesellschaft vollzieht sich nicht als antagonistischer Kampf zwischen klar definierten Freund-Feind-Formationen, sprengt das klassische Rechts-Links- Schema und manifestiert sich vielmehr als (eher diffuses) alltagspraktisches Engagement von Individuen und informellen Gruppen, welche auf die in ihrer Wahrnehmung bedrohlichen Folgen der ungebremsten Modernisierung mit vielschichtigen neuen Formen der Solidarität (oder auch Gewalt) reagieren (vgl. Risikogesellschaft; S. 317ff. sowie Die Erfindung des Politischen; S. 155ff.). Während auf der Ebene der Institutionen eine allseitige Lähmung herrscht, wandert Politik – d.h. der Wille das eigene und soziale Leben aktiv zu gestalten – aus dem Bereich des politischen (Sub-)Systems in die Subpolitik ab, die unterhalb der formellen Strukturen

KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 55<br />

nicht aufgeben, so muß allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e neue politische Handlungse<strong>in</strong>heit gefunden werden,<br />

wie Etzioni (siehe auch S. LXXV) schon 1968 treffend feststellte:<br />

+Genau wie <strong>der</strong> Übergang vom Mittelalter zur Mo<strong>der</strong>ne den Feudalherrn als Aktor zugunsten des<br />

Nationalstaats ablöste, erfor<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Übergang zum postmo<strong>der</strong>nen Zeitalter die Entwicklung e<strong>in</strong>er<br />

neuen Handlungse<strong>in</strong>heit.* (Die aktive Gesellschaft; S. 35)<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen wie zunehmende Globalisierung und Individualisierung stellen schließlich die<br />

klassischen politischen Institutionen immer mehr <strong>in</strong> Frage. Als Reaktion auf die auch bereits<br />

von Etzioni <strong>in</strong> ihren Ansätzen gesehenen Transformationsprozesse <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft,<br />

empfiehlt dieser e<strong>in</strong>en dynamischen Gesellschaftsvertrag, <strong>der</strong> sich den Wandlungen des Sozialen<br />

anzupassen vermag (vgl. ebd.; S. 38f.). Das von ihm im obigen Zitat formulierte Problem<br />

ist damit jedoch nicht gelöst. Denn die neuen Handlungse<strong>in</strong>heiten <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> lassen sich<br />

wohl kaum vertraglich def<strong>in</strong>ieren, und man wird zugleich e<strong>in</strong> erweitertes, entgrenztes <strong>Politik</strong>-<br />

verständnis zugrunde legen müssen, um den verän<strong>der</strong>ten Verhältnissen gerecht zu werden.<br />

In <strong>der</strong> aktuellen wissenschaftlichen Diskussion s<strong>in</strong>d <strong>der</strong>zeit vor allem zwei <strong>in</strong>teressante theore-<br />

tische Entwürfe, die hier (auch mit neuen <strong>Politik</strong>-Begriffen) ansetzen: Es handelt sich um Ulrich<br />

Becks Konzept <strong>der</strong> +Subpolitik* und die von Anthony Giddens vorgeschlagene Unterscheidung<br />

zwischen emanzipatorischer <strong>Politik</strong> und dem, was er +life politics* nennt.<br />

In se<strong>in</strong>em Buch +Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen* (1993) legt Beck noch e<strong>in</strong>mal ausführlich<br />

dar, was er schon 1986 <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* skizziert hatte: Ähnlich wie Schmitt (siehe<br />

S. 37), weist er hier darauf h<strong>in</strong>, daß die Gleichsetzung des Politischen mit dem Staatlichen<br />

unzulänglich ist – kommt aber freilich zu e<strong>in</strong>er ganz an<strong>der</strong>en, geradezu entgegengesetzten<br />

Bestimmung. <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft vollzieht sich nicht als antagonistischer<br />

Kampf zwischen klar def<strong>in</strong>ierten Freund-Fe<strong>in</strong>d-Formationen, sprengt das klassische Rechts-L<strong>in</strong>ks-<br />

Schema und manifestiert sich vielmehr als (eher diffuses) alltagspraktisches Engagement von<br />

Individuen und <strong>in</strong>formellen Gruppen, welche auf die <strong>in</strong> ihrer Wahrnehmung bedrohlichen<br />

Folgen <strong>der</strong> ungebremsten Mo<strong>der</strong>nisierung mit vielschichtigen neuen Formen <strong>der</strong> Solidarität<br />

(o<strong>der</strong> auch Gewalt) reagieren (vgl. Risikogesellschaft; S. 317ff. sowie Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen;<br />

S. 155ff.). Während auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Institutionen e<strong>in</strong>e allseitige Lähmung herrscht, wan<strong>der</strong>t<br />

<strong>Politik</strong> – d.h. <strong>der</strong> Wille das eigene und soziale Leben aktiv zu gestalten – aus dem Bereich<br />

des politischen (Sub-)Systems <strong>in</strong> die Subpolitik ab, die unterhalb <strong>der</strong> formellen Strukturen

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