Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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42 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE zur tatsächlichen Erhebung des Bürgertums. Die Versuche von Marx, durch seine publizistische Arbeit in der +Neuen Rheinischen Zeitung* auf das Geschehen Einfluß zu nehmen, scheiterten jedoch so kläglich wie die eigentlich +ungewollte Revolution* (Schieder) von 1848/49: 108 Nachdem sich die monarchistischen Kräfte vom ersten Schrecken erholt hatten und sich sammeln konnten, wurde ihnen nahezu kampflos das Feld überlassen. 109 Trotz des restriktiven Klimas in dieser Zeit des +Nachmärz* vollzog sich ein immer weiterer ökonomischer Aufschwung. Ein wichtiger Schritt dazu war die Gründung des +Deutschen Zollvereins* 1834 gewesen, der die +tarifären Handelshemmnisse* im deutschen Reich weit- gehend beseitigt hatte. Die dadurch geförderte Industrialisierung brachte einen tiefen Struktur- wandel mit sich, führte zu Verstädterung und Proletarisierung. Ständiger Nachschub für die industrielle Reservearmee war durch ein enormes, vor allem medizinischen Fortschritten +geschul- detes* Bevölkerungswachstum gesichert. Dieser Umstand bewirkte einen niedrigen, kaum das Überleben sichernden Marktwert der menschlichen Arbeitskraft. Die Verelendung des Proletariats war also kein sozialistisches Hirngespinst, sondern eine der bedrückendsten sozialen Tatsachen des 19. Jahrhunderts. Überhaupt können Marx’ ökonomische Analysen als größtenteils zutreffend bezeichnet werden. Die (weitere) Entwicklung des Sozialismus stand in enger Beziehung zur Entwicklung der Arbeiterbewegung. In Deutschland galt allerdings lange Zeit ein allgemeines Koalitionsverbot. 110 Im Zuge der +Revolution* von 1848 wurde dann durch Stephan Born erstmals eine proletarische Organisation, die +Allgemeine deutsche Arbeiter-Verbrüderung*, in ihr kurzes Leben gerufen – denn nach der Wiederherstellung der alten Verhältnisse wurde diese sofort mit einem Verbot belegt. Längeren Bestand (doch anfangs kaum Erfolg) hatte der 1863 von Ferdinand Lassalle (1825–65) gegründete +Allgemeine deutsche Arbeiterverein*. In Konkurrenz zu diesem schufen 111 die in ihrer Ausrichtung radikaleren, aber wie Lassalle eher +revisionistisch* orientierten Sozialisten Karl Liebknecht und August Bebel 1869 die +Sozialdemokratische Arbeiterpartei*. 1875 verschmolzen beide Organisationen zur +Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands*, die großes Anpassungsvermögen aufwies und heute bekanntermaßen unter dem Label +SPD* weiterexistiert (jedoch ihre enge Klientelbindung verloren hat). Am letztendlichen Erfolg der Sozialdemokratie konnten also auch die +Sozialistengesetze* Bismarks von 1878 nichts ändern, die bis 1890 in Kraft blieben und sozialistische Parteien unter ein Verbot stellten. Auf der anderen Seite versuchte Bismark, der als Reichskanzler die politischen Fäden des 1871
KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 43 errichteten deutschen Kaiserreichs in Händen hielt, geschickt die Arbeiterschaft durch sozial- politische Zugeständnisse zu befried(ig)en. Resultat dieses Versuchs war der Beginn der Sozial- gesetzgebung 1883 (mit dem Gesetz über die Krankenversicherung). 112 Ähnliche Sozialgesetze, die die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus durch staatliche Intervention zu mildern versuchten, wurden mit (z.T. erheblicher) zeitlicher Verzögerung auch in anderen europäischen Staaten eingeführt – oder aber Verbesserungen für die Arbeitnehmer wurden den Unternehmern direkt, durch gewerkschaftlichen Kampf, abgetrotzt. So konnte die entwickelte soziale Dynamik zum großen Teil abgefangen werden. Die Gewerkschafts- bewegung ließ sich jedenfalls durch solche Zugeständnisse und ihren eigenen Erfolg von den ursprünglich revolutionären Zielen abbringen – sofern sie diese jemals wirklich besessen hatte. Eine sozialistische Revolution gar konnte in keinem der sich industrialisierenden Staaten Europas wie Großbritannien oder Deutschland verwirklicht werden, die dafür doch eigentlich nach marxistischer Theorie prädestiniert waren. Welchen Einfluß die innersozialistischen Kämpfe auf dieses Ausbleiben der Revolution hatten, sei dahingestellt. Fest steht, daß das sozialistische Lager in sich tief zerstritten war. Ein Dissens bestand vor allem zwischen den +Marxisten* 113 und der immer mehr zurückgedrängten anarchistischen Strömung. Deutliches Zeichen dafür war der 1872 von Marx veranlaßte formelle Ausschluß des russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814–76) und seiner Anhänger aus der 1. Internationale. 114 Zur großen sozialistischen Revolution kam es, wie allgemein bekannt, erst im 20. Jahrhundert und ironischerweise gerade in Bakunins Heimat. Rußland war nämlich noch ein durch und durch agrarisch-feudal geprägtes Land und deshalb der +orthodoxen* Theorie-Interpretation 115 nach wohl nicht der ideale Ort für eine proletarische Erhebung. Die Revolution vom Oktober 1917 unter der Führung Lenins (1870–1924) konnte sich allerdings trotzdem behaupten. Im Zuge des 2. Weltkriegs und unter der Herrschaft Stalins (1879–1953) kam es dann zur Expansion des Sowjetregimes und der Gründung von +befreundeten*, tatsächlich aber politisch wie ökonomisch abhängigen +Volksrepubliken*, deren politisches System, wie der Stalinismus in der Sowjetunion, mit originärem Sozialismus jedoch wenig gemein hatte, sondern die Form einer autoritären Diktatur der Partei-Nomenklatura aufwies. 116 In den meisten westlichen Staaten war die Position sozialistisch-kommunistischer Parteien nach dem Krieg ausgesprochen schwach (am ehesten konnten sie sich in den romanischen 117 Ländern behaupten). Auf Betreiben des republikanischen Senators McCarthy gab es in
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zur tatsächlichen Erhebung des Bürgertums. Die Versuche von Marx, durch se<strong>in</strong>e publizistische<br />
Arbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Neuen Rhe<strong>in</strong>ischen Zeitung* auf das Geschehen E<strong>in</strong>fluß zu nehmen, scheiterten<br />
jedoch so kläglich wie die eigentlich +ungewollte Revolution* (Schie<strong>der</strong>) von 1848/49: 108<br />
Nachdem sich die monarchistischen Kräfte vom ersten Schrecken erholt hatten und sich sammeln<br />
konnten, wurde ihnen nahezu kampflos das Feld überlassen. 109<br />
Trotz des restriktiven Klimas <strong>in</strong> dieser Zeit des +Nachmärz* vollzog sich e<strong>in</strong> immer weiterer<br />
ökonomischer Aufschwung. E<strong>in</strong> wichtiger Schritt dazu war die Gründung des +Deutschen<br />
Zollvere<strong>in</strong>s* 1834 gewesen, <strong>der</strong> die +tarifären Handelshemmnisse* im deutschen Reich weit-<br />
gehend beseitigt hatte. Die dadurch geför<strong>der</strong>te Industrialisierung brachte e<strong>in</strong>en tiefen Struktur-<br />
wandel mit sich, führte zu Verstädterung und Proletarisierung. Ständiger Nachschub für die<br />
<strong>in</strong>dustrielle Reservearmee war durch e<strong>in</strong> enormes, vor allem mediz<strong>in</strong>ischen Fortschritten +geschul-<br />
detes* Bevölkerungswachstum gesichert. Dieser Umstand bewirkte e<strong>in</strong>en niedrigen, kaum<br />
das Überleben sichernden Marktwert <strong>der</strong> menschlichen Arbeitskraft. Die Verelendung des<br />
Proletariats war also ke<strong>in</strong> sozialistisches Hirngesp<strong>in</strong>st, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> bedrückendsten sozialen<br />
Tatsachen des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Überhaupt können Marx’ ökonomische Analysen als größtenteils<br />
zutreffend bezeichnet werden.<br />
Die (weitere) Entwicklung des Sozialismus stand <strong>in</strong> enger Beziehung zur Entwicklung <strong>der</strong><br />
Arbeiterbewegung. In Deutschland galt allerd<strong>in</strong>gs lange Zeit e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Koalitionsverbot. 110<br />
Im Zuge <strong>der</strong> +Revolution* von 1848 wurde dann durch Stephan Born erstmals e<strong>in</strong>e proletarische<br />
Organisation, die +Allgeme<strong>in</strong>e deutsche Arbeiter-Verbrü<strong>der</strong>ung*, <strong>in</strong> ihr kurzes Leben gerufen<br />
– denn nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> alten Verhältnisse wurde diese sofort mit e<strong>in</strong>em Verbot<br />
belegt. Längeren Bestand (doch anfangs kaum Erfolg) hatte <strong>der</strong> 1863 von Ferd<strong>in</strong>and Lassalle<br />
(1825–65) gegründete +Allgeme<strong>in</strong>e deutsche Arbeitervere<strong>in</strong>*. In Konkurrenz zu diesem schufen<br />
111<br />
die <strong>in</strong> ihrer Ausrichtung radikaleren, aber wie Lassalle eher +revisionistisch* orientierten<br />
Sozialisten Karl Liebknecht und August Bebel 1869 die +Sozialdemokratische Arbeiterpartei*.<br />
1875 verschmolzen beide Organisationen zur +Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands*,<br />
die großes Anpassungsvermögen aufwies und heute bekanntermaßen unter dem Label +SPD*<br />
weiterexistiert (jedoch ihre enge Klientelb<strong>in</strong>dung verloren hat). Am letztendlichen Erfolg <strong>der</strong><br />
Sozialdemokratie konnten also auch die +Sozialistengesetze* Bismarks von 1878 nichts än<strong>der</strong>n,<br />
die bis 1890 <strong>in</strong> Kraft blieben und sozialistische Parteien unter e<strong>in</strong> Verbot stellten. Auf <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Seite versuchte Bismark, <strong>der</strong> als Reichskanzler die politischen Fäden des 1871