Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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28 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE durch seine bürgerliche, schweizerisch-Genfer Herkunft am besten zu erklären, die er selbst herausstreicht, indem sich im Titel seines +Contrat Social* (1762) explizit als +Citoyen de Genève* bezeichnet. 80 Rousseau ist aber in vielen Aspekten auch ein sehr progressiver Theoretiker. Dies zeigt sich vor allem in seinem Konzept der unveräußerlichen Volkssouveränität. Rousseau bemerkt hierzu ganz eindeutig in Abgrenzung zu Hobbes: +Ich behaupte […], daß die Souveränität […] niemals veräußert werden kann und daß der Souverän, der nichts anderes ist als ein Gesamtwesen, nur durch sich selbst vertreten werden kann […]* (Ebd.; S. 27 [II,1]) Die Unveräußerlichkeit der Souveränität (die ein Modell direkter Demokratie impliziert) beruht auf der Unveräußerlichkeit des individuellen Freiheitsrechts. Denn: +Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten* (Ebd.; S. 11 [1.4]. Doch steht es um die Freiheit leider allseits schlecht bestellt: +Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten […] Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.* (Ebd.; S. 5) Schon der Titel von Rousseaus Schrift und die Tatsache, daß er hier als Vertragstheoretiker vorgestellt wird, läßt erraten, welche Antwort er im folgenden gibt: Nur ein freiwillig und gegenseitig geschlossener Gesellschaftsvertrag vermag das zu leisten. Dieser Gesellschaftsvertrag soll Gerechtigkeit und Nutzen verbinden (vgl. ebd.; S. 5), und seine Prinzipien müssen dem verallgemeinerten (Volks-)Willen (volonté général) entsprechen. Nur so ist eine Ordnung garan- tiert, in der jeder +genauso frei bleibt wie zuvor* (ebd.; S. 17). Recht und Gerechtigkeit im Gesellschaftszustand beruhen demnach bei Rousseau auf der Identität des Willens – der Sonderwille (volonté particulier) des egoistischen Bourgeois muß dem schizophren davon abgespaltenen moralischen Bewußtsein des Citoyen weichen, damit sich Rousseaus Utopie vom gemeinwohlorientierten Staatswesen verwirklichen läßt. Allerdings sieht auch Rousseau die realen Schwierigkeiten, die seine Theorie von der Identität des Volkswillens aufweist, und so stellt er fest: +Es bedürfte der Götter, um den Menschen Gesetze zu geben* (ebd.; S. 43 [II,7]). Wenigstens aber sollte ein in gewisser Weise +gottgleicher* Gesetzgeber vorhanden
KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 29 sein, der +in jeder Hinsicht ein außergewöhnlicher Mann im Staat* ist (ebd.), doch der die Gesetze nur formuliert und nicht selbst beschließt. Vor allem diese Konstruktion eines +grand legislateur* hat Rousseau viel berechtigte Kritik eingebracht. Trotz aller Schwachpunkte seiner Konzeption zählt er aber zu den großen politischen Philosophen der Neuzeit. Letzteres gilt selbstverständlich auch für Kant und Hegel, deren politische Vorstellungen zum Abschluß dieses Abschnitts kurz skizziert werden sollen. Die moral- bzw. rechtsphilosophischen Schriften von Kant und Hegel repräsentieren den (wichtigsten) deutschen Beitrag zum neuzeitlichen politischen Denken – denn in Deutschland vollzog sich bezeichnenderweise das Nachdenken über Staat und Politik hauptsächlich im Rahmen der (akademischen) (Rechts-)Philosophie. Diese Besonderheit ist sicher auch der speziellen politischen Rahmensituation in deutschen Reich geschuldet, das im 18. Jahrhundert zweifellos einen Entwicklungsrückstand im Vergleich zu England oder Frankreich aufwies. In relativer Kontinuität zu mittelalterlichen politischen Strukturen bestand auch kein einheitlicher +Nationalstaat*, sondern das durch die Kaiserkrone nur schwach zusammengehaltene Reichsgebiet war in eine Vielzahl weitgehend autonomer Fürstentümer zerstückelt. Die Stärke der regionalen Fürsten und das Fehlen eines ausreichenden ökonomischen Impulses verhinderte wohl eine ähnliche Emanzipationsbewegung des Bürgertums wie in England und Frankreich. Wie erwähnt war der im 17. Jahrhundert tobende Kampf um die politische Vormacht mit der +Glorious Revolution* von 1688 in England zugunsten der bürgerlichen Kräfte ausgegangen. In Frankreich hatte schließlich die Revolution von 1789 dem +Ancien Régime* ein blutiges Ende gesetzt. In Deutschland gab es keine vergleichbaren Ereignisse, obwohl auch dort die Erschütterungen durch die +Grande Révolution* in Frankreich zu spüren waren. 81 Immanuel Kant (1724–1804) hatte die französische Revolution zunächst mit Sympathie beobachtet, war jedoch von ihren Exzessen enttäuscht und verurteilte den jakobinischen +terreur*. Diese Enttäuschung spiegelt sich in seinem politischen Denken wider, das sich in weiten Teilen als +obrigkeitsstaatlich* charakterisieren läßt. Zudem mußte Kant als Professor in Königsberg und damit preußischer Staatsbediensteter mit seinen Äußerungen sehr vorsichtig sein, wenn er nicht seine Stellung gefährden wollte. Dies sollte man bedenken, wenn man sich mit seinem politischen Denken auseinandersetzt: Auch Kant operiert mit den Begriffen Naturrecht und Vertrag. Er ist jedoch kein Vertrags- theoretiker im eigentlichen Sinn. Der Vertrag und seine Vernünftigkeit dienen ihm nurmehr
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28 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />
durch se<strong>in</strong>e bürgerliche, schweizerisch-Genfer Herkunft am besten zu erklären, die er selbst<br />
herausstreicht, <strong>in</strong>dem sich im Titel se<strong>in</strong>es +Contrat Social* (1762) explizit als +Citoyen de Genève*<br />
bezeichnet. 80<br />
Rousseau ist aber <strong>in</strong> vielen Aspekten auch e<strong>in</strong> sehr progressiver Theoretiker. Dies zeigt sich<br />
vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Konzept <strong>der</strong> unveräußerlichen Volkssouveränität. Rousseau bemerkt hierzu<br />
ganz e<strong>in</strong>deutig <strong>in</strong> Abgrenzung zu Hobbes:<br />
+Ich behaupte […], daß die Souveränität […] niemals veräußert werden kann und daß <strong>der</strong> Souverän,<br />
<strong>der</strong> nichts an<strong>der</strong>es ist als e<strong>in</strong> Gesamtwesen, nur durch sich selbst vertreten werden kann […]* (Ebd.;<br />
S. 27 [II,1])<br />
Die Unveräußerlichkeit <strong>der</strong> Souveränität (die e<strong>in</strong> Modell direkter Demokratie impliziert) beruht<br />
auf <strong>der</strong> Unveräußerlichkeit des <strong>in</strong>dividuellen Freiheitsrechts. Denn: +Auf se<strong>in</strong>e Freiheit verzichten<br />
heißt auf se<strong>in</strong>e Eigenschaft als Mensch, auf se<strong>in</strong>e Menschenrechte, sogar auf se<strong>in</strong>e Pflichten<br />
verzichten* (Ebd.; S. 11 [1.4]. Doch steht es um die Freiheit lei<strong>der</strong> allseits schlecht bestellt:<br />
+Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er <strong>in</strong> Ketten […] Wie ist dieser Wandel zustande<br />
gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich<br />
beantworten zu können.* (Ebd.; S. 5)<br />
Schon <strong>der</strong> Titel von Rousseaus Schrift und die Tatsache, daß er hier als Vertragstheoretiker<br />
vorgestellt wird, läßt erraten, welche Antwort er im folgenden gibt: Nur e<strong>in</strong> freiwillig und<br />
gegenseitig geschlossener Gesellschaftsvertrag vermag das zu leisten. Dieser Gesellschaftsvertrag<br />
soll Gerechtigkeit und Nutzen verb<strong>in</strong>den (vgl. ebd.; S. 5), und se<strong>in</strong>e Pr<strong>in</strong>zipien müssen dem<br />
verallgeme<strong>in</strong>erten (Volks-)Willen (volonté général) entsprechen. Nur so ist e<strong>in</strong>e Ordnung garan-<br />
tiert, <strong>in</strong> <strong>der</strong> je<strong>der</strong> +genauso frei bleibt wie zuvor* (ebd.; S. 17). Recht und Gerechtigkeit im<br />
Gesellschaftszustand beruhen demnach bei Rousseau auf <strong>der</strong> Identität des Willens – <strong>der</strong><br />
Son<strong>der</strong>wille (volonté particulier) des egoistischen Bourgeois muß dem schizophren davon<br />
abgespaltenen moralischen Bewußtse<strong>in</strong> des Citoyen weichen, damit sich Rousseaus Utopie<br />
vom geme<strong>in</strong>wohlorientierten Staatswesen verwirklichen läßt. Allerd<strong>in</strong>gs sieht auch Rousseau<br />
die realen Schwierigkeiten, die se<strong>in</strong>e Theorie von <strong>der</strong> Identität des Volkswillens aufweist,<br />
und so stellt er fest: +Es bedürfte <strong>der</strong> Götter, um den Menschen Gesetze zu geben* (ebd.;<br />
S. 43 [II,7]). Wenigstens aber sollte e<strong>in</strong> <strong>in</strong> gewisser Weise +gottgleicher* Gesetzgeber vorhanden