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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 9<br />

zu bedarf es eines gemeinsamen Raums zwischen Pflegekraft und zu pflegendem Menschen, in dem die Annahmen,<br />

die dem Handeln oder den Entscheidungen zugrunde liegen, in Frage gestellt und evaluiert werden können Die Möglichkeiten<br />

hierzu sind in den jeweiligen Pflegesituationen jedoch sehr verschieden und stellen sich noch mal anders<br />

dar, je nachdem über welches Wissen eine Pflegekraft von der zu pflegenden Person verfügt und wie sie die mit der<br />

klinischen Entscheidungsfindung verbundene klinische und organisatorische Autonomie wahrnimmt. Randi Skår<br />

(2008: 2229ff) untersuchte, wie Pflegekräfte Autonomie in der Arbeitssituation verstehen. Aus den Berichten der<br />

Pflegekräfte, die in Pflegeheimen, im Krankenhaus (auf chirurgischen und medizinischen Stationen) sowie im Bereich<br />

der Rehabilitation arbeiten, ergeben sich vier Themen: eine ganzheitliche Sicht, den Patienten kennen, wissen,<br />

was man weiß, und sich etwas zutrauen. Die ersten beiden Themen, die ganzheitliche Sicht und die Kenntnis <strong>des</strong><br />

Patienten waren wesentlich von der Arbeitsorganisation und von der Zeit geprägt, die die Pflegekräfte im Sinne einer<br />

Kontinuität mit dem Patienten verbrachten. Alle Pflegekräfte äußerten die Notwendigkeit, die medizinische Diagnose<br />

zu kennen, um zu wissen, worauf sie ihre Aufmerksamkeit bei der Einschätzung <strong>des</strong> Patienten und entsprechender<br />

Handlungen lenken könnten. An diesem Beispiel wird erkennbar, wie wichtig eine Reflexion der bei der klinischen<br />

Entscheidungsfindung genutzten Wissensbasis ist, damit die Pflege als ein von der Krankheit verschiedenes<br />

Phänomen überhaupt wahrgenommen und die aktuelle zwischen Pflegehandeln und Krankheit bestehende Beziehung<br />

erkannt werden und in die klinische Entscheidungsfindung einfließen kann.<br />

Werden die o.g. Situationen aus der Perspektive der pragmatistisch-interaktionistischen Theorie <strong>des</strong> allgemeinen<br />

Pflegehandelns betrachtet, dann prallen etwa in der Akutphase 161 , die in der Regel Anlass für eine Krankenhauseinweisung<br />

ist, die bis dahin entwickelten Pflegeverlaufskurven und die Verlaufskurve <strong>des</strong> Selbst mit der einsetzenden<br />

Krankheitsverlaufskurve zusammen. Das Zusammentreffen multipler Verlaufskurven kann vor dem Hintergrund<br />

höchst unterschiedlicher Konstellationen erfolgen. So kann der Krankheitsbeginn zugleich den Beginn der Krankheitsverlaufskurve<br />

markieren. Die Akutsituation kann aber auch den Wendepunkt einer bereits bestehenden Krankheitsverlaufskurve<br />

bezeichnen und eine neue Phase einleiten. Es liegt auf der Hand, dass die Folgen für die Arbeit an<br />

den bestehenden Pflegeverlaufskurven und am Selbst in diesen Fällen verschieden sind.<br />

Die kollaborative Entscheidungsfindung beinhaltet folgende Handlungsstränge: eine erfolgreiche Kommunikation<br />

über Perspektiven hinweg, einen Prozess der Evaluation (oder Aushandlung) und neues Lernen auf beiden Seiten<br />

(Higgs et al. 2004: 187). Bei diesem Prozess ist die Nutzung der verschiedenen Wissensformen 162 wichtig, um die<br />

Grauzonen der Praxis zu bestimmen und die vielen menschlichen Dimensionen der Gesundheitsversorgung zu verstehen.<br />

Mit Blick auf die Arbeit an den Pflege- und Krankheitsverlaufskurven geht es um das Verständnis, wie der<br />

unterbrochene Handlungsfluss wieder in Gang gesetzt werden kann. Die verschiedenen Wissensformen wie das<br />

Fallwissen, das allgemeine Wissen über den Patienten und über ihn als Person tragen dazu bei, einen gemeinsamen<br />

Raum zu finden, in dem die Situation bestimmt wird (Identifikation <strong>des</strong> Handlungsproblems), das zu erreichende ästhetische<br />

Objekt gemeinsam konstruiert (Vision von der Verlaufskurve, den Kompetenzen) und die einzuschlagenden<br />

Schritte/Maßnahmen über die Analyse und Rekonstruktion <strong>des</strong> Objekts ausgehandelt werden. Da der zu pflegende<br />

Mensch und die Pflegekräfte möglicherweise divergierende Ansichten über die ‚problematische Situation‘ haben<br />

161 Kirkevold (2002: 52f) macht darauf aufmerksam, dass die Akutsituation üblicherweise als eine medizinische betrachtet wird,<br />

als <strong>des</strong>sen Paradebeispiel der Herzstillstand gerne als angeführt wird. In einer solchen Situation ist schnelles und umsichtiges<br />

Handeln gefordert. Entscheidend ist, dass die Pflegekraft in der Lage ist zu erkennen, worin die Gefahr besteht und welche Maßnahmen<br />

zu ergreifen sind. Charakteristisch ist ihre zeitliche und örtliche Begrenzung. Sie beginnen unvermittelt, sind dramatisch,<br />

erreichen aber relativ schnell ihren Höhepunkt und ihren Abschluss. Großer Raum für Aushandlungsprozesse zwischen Pflegekraft<br />

und Patient ist hier offenbar nicht gegeben.<br />

162 Diese sind: propositionales Wissen (beschreiben<strong>des</strong> und voraussagen<strong>des</strong>/prognostizieren<strong>des</strong>), prozedurales Wissen (welches<br />

Handeln ermöglicht), theoretisches Wissen (welches erklärt und interpretiert) und emanzipatorisches Wissen (welches Menschen<br />

empowered).<br />

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