09.12.2012 Aufrufe

zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Kapitel 9<br />

Kritikpunkt ist der kognitive Bias der Expertenliteratur. Hakkarainen et al. (2004, zitiert in Eraut 2005: 178) versuchen<br />

Evidenz für individuelle und soziale Aspekte <strong>des</strong> Expertentums zu finden und eine Analyse der Beziehungen<br />

zwischen diesen Ebenen vorzulegen. Sie legen ihren Fokus auf eine ‚vernetzte Expertise‘ (networked expertise), worunter<br />

sie ein höheres Niveau kognitiver Kompetenz verstehen, die in angemessenen Umfeldern durch die kollaborativen<br />

Bemühungen, Probleme zu lösen und Wissen zu bilden, entsteht. Sie fanden in ihren Forschungen zwei Schlüsselprinzipien<br />

heraus: den relationalen Charakter der Expertise und die Koordination von individuellen und sozialen<br />

Kompetenzen. Die Erkenntnisse von Eraut und MitarbeiterInnen untermauern aus einer professionsübergreifenden<br />

Sicht die im PD-Ansatz gewonnenen Erkenntnisse.<br />

Trotz aller Kritik hilft die im Kompetenzmodell getroffene klare Unterscheidung zwischen einem ausgebildeten und<br />

einem erfahrenen Mitarbeiter Kenntnisse über Leistungen und Grenzen <strong>des</strong> praktischen oder auch stillschweigenden<br />

Wissens (tacit knowledge 155 ) zu erlangen und zu verstehen, welche Rolle diesem in der Arbeit der Professionellen<br />

zukommt (s. Eraut 1994, Eraut/Hirsh 2007). Diese Kenntnis ist für Veränderungsprozesse wichtig, da diese in der<br />

Regel mit einem Verlernen bisheriger und dem Erlernen neuer Vorgehensweisen einhergehen 156 . Im Kompetenzstufenmodell<br />

erfolgt eine Annäherung an professionelles Handeln dadurch, dass das situative Verstehen, das Routinehandeln<br />

und die Entscheidungsfindung als miteinander zusammenhängend gesehen werden. So werden beispielsweise<br />

die expliziten Regeln und Leitlinien, die für einen Anfänger zu Beginn seines Berufslebens wichtig sind,<br />

zu einem späteren Zeitpunkt, wo das Verhalten automatischer abläuft, weggelassen. Der Gebrauch <strong>des</strong> Modus <strong>des</strong><br />

bewussten Erkennens und Wahrnehmens 157 erreicht seinen Höhepunkt auf der Stufe <strong>des</strong>/der kompetenten Mitarbeiters/Mitarbeiterin.<br />

Stillschweigen<strong>des</strong> Wissen erscheint in drei unterschiedlichen Formen:<br />

• Situatives Verständnis wird innerhalb aller fünf Phasen <strong>des</strong> Kompetenzerwerbs entwickelt; es basiert größtenteils<br />

auf Erfahrung, die Reichweite erweitert sich graduell und es bleibt im Wesentlichen still.<br />

• Steigende intuitive Entscheidungsfindung, die auf Mustererkennung beruht, aber auch auf schnelle Reaktionen<br />

in Bezug auf sich entwickelnde Situationen und die auf stillschweigendem Wissen, d.h. auf einer<br />

Anwendung von stillschweigenden Regeln beruht.<br />

• Routineprozeduren, die bis <strong>zur</strong> Stufe <strong>des</strong>/der kompetenten Mitarbeiters/Mitarbeiterin entwickelt werden,<br />

um die Anforderungen der Arbeit zu bewältigen, ohne an Informationsüberlastung zu leiden. Hiervon haben<br />

sich einige wahrscheinlich aus explizit prozeduralem Wissen entwickelt, bevor sie automatisiert und infolge<br />

von Wiederholungen zunehmend stillschweigend wurden mit einer damit einhergehenden Zunahme an Geschwindigkeit<br />

und Leistungsfähigkeit (s. Eraut 2005: 177, Eraut/Hirsh 2007: 14).<br />

Eraut (2007a: 4) lenkt den Blick auf die Lernprozesse, die für die Nutzung der pragmatistischen Theorie <strong>des</strong> Pflegehandelns<br />

und für die Arbeit an den Pflegeverlaufskurven von Bedeutung sind, wenn diese aus dem Lernsetting in<br />

das Praxissetting transferiert wird. Dieser Transfer geht aufgrund der Komplexität von Arbeitsweisen mit der Integration<br />

verschiedener Wissensformen und Fähigkeiten und deren ggf. erforderlichen Anpassungen an neue Situationen<br />

einher. Er unterscheidet fünf Phasen <strong>des</strong> Transferprozesses, von denen einige kombiniert werden können:<br />

1. „Die Extrahierung <strong>des</strong> potenziell relevanten Wissens aus dem Kontext seiner Aneignung und <strong>des</strong> vorherigen<br />

Gebrauchs<br />

155<br />

Der Begriff ‚tacit knowlege’ geht auf Michael Polany <strong>zur</strong>ück. Er hat inzwischen verschiedene Bedeutungen angenommen,<br />

weshalb es wichtig ist, ihn näher zu spezifizieren (s. ausführlich Neuweg 1998).<br />

156<br />

Geraldine Macdonald (2002) beschreibt anhand eines persönlichen Beispiels, welche intellektuelle und emotionale Arbeit ihr<br />

der Prozess <strong>des</strong> Verlernens einer bisher als ‚zuverlässig erfahrenen Pflegepraxis‘ abverlangte, bevor ihr das Neu-Erlernen neuer<br />

pflegerischer Handlungsweisen in Gestalt neuer Leitlinien möglich wurde. Sie hebt insbesondere die Notwendigkeit <strong>des</strong> Verlernens<br />

hervor. In diesem Prozess ist es notwendig, über die eigenen, mit der alten Praxis verbundenen Gefühle und Gedanken zu<br />

reflektieren, um das Alte oder Vertraute loslassen und den damit verbundenen Verlust verarbeiten zu können. Ein solcher Prozess<br />

beinhaltet individuelle wie kollektive Veränderungen. Aus diesem Grund sei es wichtig ‚Lerngemeinschaften‘ zu fördern, in denen<br />

das Verlernen und Neulernen unterstützt wird.<br />

157<br />

Eraut unterscheiden drei Formen der Kognition (<strong>des</strong> Erkennens/Wahrnehmens): sofort/reflexhaft, schnell/intuitiv, bewusst/<br />

analytisch.<br />

452

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!