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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 9<br />

sehr lange Berufstätigkeit sowie Bindung an eine Lebensgemeinschaft, zeichnete sich die andere durch eine sehr<br />

kurze Berufstätigkeit aus und dadurch, dass sie in Bezug auf ihre Vorstellungen von Pflege ganz auf sich selbst gestellt<br />

war. Im Gegensatz zu den Ordensschwestern bzw. Diakonissen und den sich einem Verband zugehörig fühlenden<br />

Pflegekräften 96 fehlte ihnen ein verbinden<strong>des</strong> Element, aus dem sie ihre Orientierungen und beruflichen Selbstkonzeptionen<br />

beziehen konnten. Nach Leitner-Botschafter et al. (1973: 83f) hatte der ‚Schwesternstand’ keine einheitliche<br />

Grundlage mehr, oder anders formuliert, ihm war eine für das berufliche Selbst, das Selbstkonzept und die<br />

Identität als Pflegekraft konstitutive soziale Welt als Bezugspunkt abhanden gekommen.<br />

Vor diesem Hintergrund sind die Entwicklungen seit den 1970er Jahren zu sehen, die sich konzeptionell sowohl im<br />

Bereich der religiösen wie der säkularisierten Heilspflege als auch im Bereich der Heilpflege abspielen. Die voranschreitende<br />

Arbeitsteilung, bedingt durch neue Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten und den Zwang zu einer<br />

wirtschaftlichen Betriebsführung führte zu erhöhten Informations-, Koordinations- und Kooperationsleistungen und<br />

damit zu einer Zunahme so genannter Verwaltungsaufgaben. Die immer stärkere Inanspruchnahme der Pflegekraft<br />

durch den Arzt hingegen führte dazu, dass die Tätigkeiten der Pflegekräfte arztähnlicher, arztnäher und therapieorientierter<br />

wurden. Die Pflege war zum Spielball verschiedener Interessengruppen geworden. Sie reagierte auf diese<br />

Situation mit dem in den Fachzeitschriften vielfach artikulierten Wunsch nach der Rückkehr zu einer verloren gegangenen<br />

individuellen oder patientenorientierten Pflege. Es ging hierbei nicht um eine schlichte Neuauflage der im<br />

Kontext der religiösen und säkularen Heilspflege historisch gewachsenen Vorstellung einer ‚ganzheitlichen Pflege‘,<br />

wie die in den 1960er und 1970er Jahren geführte Diskussion über Pflegesysteme als Mittel <strong>zur</strong> Realisierung einer<br />

wie immer gearteten individuellen, ganzheitlichen und patientenorientierten Pflege belegt (s. ausführlich Mischo-<br />

Kelling 2007a). Erste wichtige Impulse für eine solche Pflege gingen von der psychosomatischen Medizin und einem<br />

für die deutsche Krankenpflege wichtigen Modellversuch (1972 - 1979) auf einer internistisch-psychosomatischen<br />

Station der Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik der <strong>Universität</strong>sklinik Ulm aus.<br />

Auf dieser Station wurden Arbeitsmöglichkeiten der Schwestern im Rahmen einer patientenzentrierten Medizin 97 ,<br />

d.h. der Heilpflege, erprobt (s. Köhle et al. 1973: 14f). Dieser Ansatz ist als Reaktion auf die herkömmliche ‚krankheitszentrierte’,<br />

vom kranken Menschen abstrahierende Medizin zu verstehen Die kritisierte Konzentration der Pflegekraft<br />

auf die Krankheit statt auf den Patienten wurde den Vertretern <strong>des</strong> Ulmer Modells zufolge durch eine naturwissenschaftlich<br />

geprägte Krankenpflegeausbildung gestützt. Im Ulmer-Model wird die Pflegekraft als eine wichtige<br />

Ressource und als therapeutisches Medium im Genesungsprozess <strong>des</strong> Kranken gesehen 98 . Charakteristisches Merkmal<br />

einer patientenzentrierten Medizin und Pflege ist, dass der Patient und die Beziehungen <strong>des</strong> Arztes bzw. der<br />

Pflegekraft zu ihm im Mittelpunkt stehen. Das Adjektiv patientenzentriert verweist auf ein Verhalten<br />

”bei dem der Dialog als Kommunikationsform zwischen Schwester und Patient im Zentrum steht. Die Schwester<br />

wendet sich als Subjekt an ein anderes Subjekt, den Patienten. Sie tritt damit in eine Interaktion mit dem Patienten<br />

und wird selbst zum Erkenntnisinstrument: Eigene emotionale Regungen zeigen psychologische Prozesse<br />

im Patienten an. Die Krankenschwester versucht in diesem Umgang, sich ein Stück weit mit dem Patienten zu<br />

identifizieren, um dadurch etwas über das Erleben <strong>des</strong> Kranken in seiner derzeitigen Situation zu erfahren” (Urban<br />

et al. 1973: 40).<br />

96 Diese bezogen sie aus ihrer Lebensform, die maßgeblich ihre Arbeit bestimmte und ihr mehr oder weniger Inhalt verlieh.<br />

97 Deren Grenzen wurden in den 1960er und 1970er Jahre zunehmend für alle Beteiligten - Ärzte, Pflegekräfte und Patienten –<br />

spürbar. Sie zeigten sich vor allem bei unheilbar Kranken, wenn die <strong>zur</strong> Verfügung stehenden Mittel der Diagnostik und Therapie<br />

nicht mehr ausreichten und die Linderung der Schmerzen <strong>des</strong> Patienten im Vordergrund stand (Urban et al. 1973: 39).<br />

98 Hier wird an Erkenntnisse angeknüpft, die Harry Stack Sullivan schon in den 30er Jahren in der Psychiatrie gewonnen hatte und<br />

die Hildegard Peplau in ihrem 1952 erschienenen Buch ‚Interpersonale Beziehungen in der Pflege’ auf die Pflege überträgt (s.<br />

Kap. 5). Dieses Buch war einigen Insidern <strong>des</strong> Medizin- und Pflegewesens bekannt. Erwähnt seien hier Maria Pinding und Hans<br />

Schipperges. Umso mehr wundert es, dass diese Erkenntnisse nicht aktiv aufgegriffen und genutzt wurden (s. Kap 5).<br />

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