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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 9<br />

In den 1950er und 1960er Jahren, einer Zeit, in der der Berufsstand auf der Such nach dem ‚Eigentlichen der Pflege‘<br />

war, macht sich bei den weltlichen Schwestern das Gefühl eines ‚Verlusts der Mitte’ breit. Die führenden Pflegekräfte<br />

litten an einem Autoritätsverlust (s. Plieninger 1952: 61). Sie waren damit konfrontiert, dass die junge Generation<br />

nach den Erfahrungen <strong>des</strong> Dritten Reiches und der Zeit danach eine Unterordnung unter die ältere Generation bewusst<br />

oder unbewusst ablehnte. Weiter fällt auf, dass ein Blick über die Grenzen gewagt wird. So wurden erstmals<br />

Untersuchungen aus dem angloamerikanischen Raum in der Deutschen Schwesternzeitung abgedruckt, die auf die<br />

Entwicklung der Pflege von einem Beruf zu einer Profession aufmerksam machten. Trotz vorherrschender Personalnot<br />

war aber die Vorstellung von der Pflege als ‚reiner Erwerbsarbeit’ in den Pflegekreisen der Bun<strong>des</strong>republik der<br />

Nachkriegszeit umstritten 86 . Insgesamt wurde viel Energie auf die Frage verwendet, wie es den Pflegekräften möglich<br />

wäre, zum Eigentlichen der Pflege <strong>zur</strong>ückzukehren. Erste vage Vorstellung dazu erschienen in Form einer ‚individualisierten<br />

Pflege’ in den verschiedensten Artikeln von Pflegekräften, Ärzten und anderen 87 , in denen die Beziehung<br />

zwischen Pflegekraft und Patient im Mittelpunkt steht.<br />

Protagonistinnen einer weltlich orientierten individuellen Pflege waren etwa Olga von Lersner (1955), Lisa Schleiermacher<br />

(1960) oder Lucy Romberg (1960), die mit unterschiedlicher Akzentuierung übereinstimmend die Auffassung<br />

vertraten, dass Pflege und Medizin einen je eigenen Aufgabenbereich hätten. Darüber hinaus teilten sich Pflege<br />

und Medizin einen gemeinsamen Bereich, in dem beide Berufe zum Wohle <strong>des</strong> Kranken tätig seien. Von Lersner betont<br />

insbesondere den erzieherischen Auftrag, der in der ‚Lehre <strong>zur</strong> Gesundung’ liegt und über die äußere Heilung<br />

hinausgeht. Um diese Aufgabe wahrzunehmen, muss sich die Pflegekraft auf eine individuelle, persönliche Pflege<br />

einlassen. Auch für Lisa Schleiermacher (1960) ist die Beziehung zwischen Pflegekraft und Patient von zentraler<br />

Bedeutung. Diese hat in Anlehnung an Viktor von Weizsäcker einen eigenen und besonderen therapeutischen Wert<br />

(s. Schleiermacher 1960: 460). Die Schwester möchte ihrem Selbstbild 88 zufolge helfen, während der Arzt heilen<br />

möchte. Hieraus folgert Schleiermacher, dass die pflegerische Tätigkeit umfassender als die ärztliche ist. Sie umgreift<br />

„die ganze Persönlichkeit <strong>des</strong> Kranken“. Im Krankenhausalltag wurde der dafür erforderliche Raum aufgrund<br />

der Zunahme der von der Pflegekraft auszuführenden arztabhängigen Tätigkeiten immer mehr zugedeckt. Ihr Bild<br />

vom ‚Mitgehen’ mit dem Patienten als das Entscheidende der Pflege verweist auf die ‚erzieherische Aufgabe’ der<br />

Pflegekraft. Diese bedarf einer gewissen Schulung und eines Wissens und ist bisher nur un<strong>zur</strong>eichend wahrgenommen<br />

worden. Auch Lucy Romberg (1960: 46), Oberin der Schwesternschaft der Arbeiterwohlfahrt, sah in der Gesundheitserziehung<br />

die neue zentrale Aufgabe der Schwester. Mit diesem Aufgabengebiet gewinnt das ‚Eigentliche’<br />

der Pflege eine konkrete Kontur ebenso wie die Beziehung zwischen Pflegekraft und Patient (oder das, was darin geschehen<br />

soll), einen Namen bekommt. Auffallend ist, dass Romberg (1960: 48) die Aufgaben der Pflegekraft im Bereich<br />

der seelischen Heilbehandlung, der psychischen Betreuung und Begleitung <strong>des</strong> Patienten nicht religiös, sondern<br />

weltlich bestimmt wissen will, wie die Forderung nach einer Vermittlung von Gesprächstechniken in der Ausbildung<br />

belegt. Hier deutet sich eine Hinwendung und Öffnung zu anderen Wissenschaftsgebieten an. Eine in die gleiche<br />

Richtung weisende, dennoch sich deutlich unterscheidende weltliche Auffassung vom Pflegeberuf vertrat Antje<br />

‚Krankenbeobachtung’ als einen spezifischen Kompetenzbereich der Pflege hervor. Diese betone das Wesen der pflegerischen<br />

‚Unabhängigkeit‘ als Folge der kontinuierlichen Präsenz beim Patienten. Diese Kompetenz und Unabhängigkeit unterlag seit den<br />

1950er Jahren einem Erosionsprozess mit dem Ergebnis, dass sich die ursprünglich ‚ganzheitliche Pflege‘ zu einer an Tätigkeiten<br />

orientierten Pflege (Funktionspflege) wandelte (s. auch Kreutzer 2010: 115ff).<br />

86 Die unterschiedlichen geistlichen und weltlichen Vorstellungen vom Pflegeberuf vertrugen sich nicht mit den Vorstellungen<br />

von der Pflege als einem (Erwerbs-) Beruf für Frauen.<br />

87 Den Ärzten, die sich zu Wort melden, schwebt eine Pflegekraft vor, die im Gegensatz zu den Schwestern alten Stils eine<br />

ärztliche Anordnung versteht und nicht nur mechanisch ausführt (s. z.B. Haas 1955: 103).<br />

88 Das Selbstbild der Pflegekraft ergänzt Schleiermacher um folgende von den Patienten erwähnte Eigenschaften: körperliche und<br />

geistige Gesundheit, gesunder Menschenverstand, Aufgeschlossenheit, Beobachtungsgabe, Geistesgegenwart, manuelle<br />

Geschicklichkeit, Fähigkeit <strong>zur</strong> Menschenführung, Entschiedenheit, Behutsamkeit und Humor.<br />

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