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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 8<br />

pflegerischen Handelns bedeutet dies, dass das Kind ein Bewusstsein von beiden aus der Perspektive Anderer<br />

erhält. Indem der Mensch sich aus der Perspektive Anderer sieht und diese koordiniert, distanziert er sich von<br />

sich selbst und wird sich seiner selbst bewusst (s. Martin/Gillespie123 2010: 257). Aus dem Gesagten ergibt sich,<br />

dass es für die Ausbildung dieser Fähigkeit wichtig ist, dass das heranwachsende Kind nicht nur im engeren familiären<br />

Kontext Pflegeerfahrungen macht, sondern in den unter Pkt. 8.3.1 genannten Erfahrungsräumen wie<br />

Kindergarten, Schule, Berufsausbildung/Studium und später als Erwachsener auch im Zusammenhang mit Arbeit<br />

und Beruf. Über die Teilnahme in immer komplexeren gesellschaftlichen Zusammenhängen lernt das heranwachsende<br />

Kind sich aus immer mehr Perspektiven zu betrachten, sich in den diversen sozialen Welten/Arenen<br />

zu behaupten und mit veränderten, neuen und fremden Handlungssituationen umzugehen. In diesem Entwicklungsprozess<br />

wird sich das Kind nach und nach seines eigenen Körpers, seines Geschlechts und seines Selbst<br />

bewusst. Es lernt, sich diesen Objekten gegenüber so zu verhalten wie gegenüber anderen Objekten und anderen<br />

Selbsten und zwar aus einer Vielzahl von Perspektiven und in einer als Feld von Perspektiven verstandenen Realität,<br />

die sich durch die Beziehungen <strong>des</strong> Menschen zu seiner Umwelt auszeichnet (s. Martin et al. 2008: 298).<br />

Weiter oben wurde gesagt, dass der Mensch über die Möglichkeit verfügt, aus der Situation <strong>des</strong> unmittelbaren<br />

Handelns herauszutreten. Hierbei spielen zwei voneinander verschiedene Prozesse eine Rolle: die Prozesse der<br />

Distanzierung und der Identifikation. Beide Prozesse wurden bereits im Zusammenhang mit der Fähigkeit <strong>zur</strong><br />

Perspektivenübernahme und dem intelligenten Mitfühlen erwähnt, ebenso wie der Umstand, dass beide aufeinander<br />

bezogen sind. Mit Blick auf die Arbeit an den Pflegeverlaufskurven und am Selbst und auf die zentralen<br />

Objekte <strong>des</strong> Pflegehandelns, den Körper und das Selbst, geht es jetzt darum, wie diese beiden Fähigkeiten zusammengedacht<br />

werden können. Gillespie (2012) beschreibt sie als zwei Dimensionen der Perspektivenübernahme.<br />

Grundsätzlich verweist der Prozess der Distanzierung darauf, dass der Handelnde aus der laufenden<br />

Handlung heraustritt. Indem er über sich selbst reflektiert, kann er zwischen sich selbst und der laufenden Handlung<br />

vermitteln. Diese ‚Selbstvermittlung‘ (Gillespie 2012: 34) kann schon bei Kindern beobachtet werden.<br />

Mead hat hier besonders auf die Bedeutung der sprachlichen Symbole hingewiesen. Die Sprache, d.h. sprachliche<br />

Symbole, ermöglichen diese Distanzierung, weil in ihnen die Perspektiven Anderer enthalten sind. Dieser<br />

Zusammenhang ist für die Pflege von außerordentlicher Bedeutung, denn die Unfähigkeit über pflegerische Zusammenhänge<br />

zu sprechen, beinhaltet auch eine Unfähigkeit sich von sich selbst und vom eigenen Körper zu<br />

distanzieren. Dies wäre aber die Voraussetzung für eine ‚bewusste‘, auf sich selbst und auf Andere bezogene<br />

Pflege. Die Sprache als ein System von Bedeutung/Sinn überschreitet den spezifischen, unmittelbaren Kontext<br />

<strong>des</strong> Hier-und-Jetzt und ermöglicht auf diese Weise eine Distanzierung. Für die Arbeit an den Pflegeverlaufskurven<br />

und am Selbst ist eine gewisse Beweglichkeit in der zu Beginn dieses Abschnitts erwähnten erweiterten<br />

symbolischen Umwelt zentral. Die Pflege erfolgt in einem Netz von Beziehungen. Das beinhaltet die Teilnahme<br />

und insofern eine Identifikation mit den Anderen. Der Prozess der Identifikation ist die zweite wichtige Dimension<br />

menschlicher Handlungsfähigkeit, und ihr kommt - wie in dieser Arbeit dargestellt -, gerade in pflegerischen<br />

Zusammenhängen eine herausragende Rolle zu. Nach Gillespie (2012: 35) bedeutet der Prozess der Identifikation,<br />

dass man für jemanden und um seinetwegen handelt. Dieses beinhaltet eine Teilnahme am gemeinsamen<br />

Handeln und ein intersubjektives Verständnis von der Perspektive <strong>des</strong> anderen. In der Tat heißt dies, dass<br />

man mehr auf der Basis der Perspektive eines Anderen als auf der Basis der eigenen Perspektive handelt. Distanzierung<br />

und Identifikation sind zwei unterschiedliche Prozesse, die beide Bewegungen beinhalten. Bei der<br />

Distanzierung findet diese aus der eigenen Situation heraus statt, um über sich selbst zu reflektieren. Sie ist auf<br />

eingenommen Position steuern können. Das zentrale Merkmal dieses Spiels ist, dass die Kinder wiederholt dabei ihre Positionen<br />

wechseln.<br />

123 Martin/Gillespie (2010) haben ihre unabhängig erarbeiten Erkenntnisse über Mead in ein allgemeines Modell eines soziokulturellen<br />

Grundgerüsts einer fortschreitenden psychologischen Distanzierung und menschlichen Handlungsfähigkeit zusammengeführt.<br />

Sie beschreiben einen aus sechs Punkten bestehenden Entwicklungspfad (Verlaufskurve), der zeitgleich persönlich<br />

wie öffentlich, kognitiv wie sozial ist. Ihre Erkenntnisse bieten für die Weiterentwicklung der in dieser Arbeit entwickelten<br />

pragmatistisch-interaktionistischen Theorie <strong>des</strong> Pflegehandelns wichtige Anknüpfungspunkte.<br />

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