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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 8<br />

Laut Susan Leigh Star (1997; 6.4) besteht ein intellektuell unwiderstehlicher Aspekt <strong>des</strong> Verlaufskurven-<br />

Konzepts im Bereich chronischer Krankheiten darin, dass es formelle und informelle Aspekte der Analyse vermischt.<br />

So bilden<br />

„die zeitlichen Dimensionen der Verlaufskurven den formellen Aspekt ab, d.h. wie Menschen, Gegenstände<br />

und Arrangements sich in unterschiedlichen Frequenzen bewegen. Was bei diesen Unterschieden jedoch<br />

nicht in den Blick kommt, was also herausfällt, ist das Informelle, das ad-hoc und fortwährend neu Verhandelte<br />

wie Erwartungen, Anpassungen, Lebensqualität, Selbstliebe und Selbstabscheu. Es ist diese Kombination<br />

von offen und geschlossen, von abstrakt und konkret, die das Verlaufskurvenkonzept zu einem subtilen<br />

und leistungsfähigen (powerful) Konzept machen“ (Star 1997; 6.4).<br />

Und genau diese Argumente machen das Konzept auch für die Erforschung und Erkundung <strong>des</strong> pflegerischen<br />

Handelns attraktiv. Dies setzt allerdings voraus, die Pflege zunächst einmal losgelöst von der Krankheit, ob akut<br />

oder chronisch, zu denken.<br />

Bei der Übertragung <strong>des</strong> Konzepts der Verlaufskurve auf die Pflege43 wird radikal vom Menschen ausgegangen,<br />

der, um zu überleben, fortwährend <strong>zur</strong> Pflege gezwungen ist und sich entsprechende Kompetenzen aneignen<br />

muss. Die Vermittlung dieser pflegerischen Kompetenzen, ihre Aneignung, Erhaltung, Modifikation und Transformation<br />

sind mit Arbeit verbunden. Von daher muss die Pflege im Zusammenhang mit der mit ihr verbundenen<br />

Arbeit in den verschiedenen Kontexten und sozialen Welten/Arenen (Familie, Gesundheitswesen, Gesellschaft)<br />

sowie mit den dabei einzugehenden Arbeitsbeziehungen aller involvierten Personen einschließlich <strong>des</strong> zu<br />

pflegenden Menschen selbst gesehen werden. Dabei müssen die <strong>zur</strong> selbstbezogenen und die <strong>zur</strong> Pflege anderer<br />

Menschen benötigten Materialien44 und Technologien berücksichtigt werden, da diese Einfluss auf die erforderte<br />

Arbeit und den Verlauf haben. Insofern muss an das oben erwähnte Konzept der multiplen Verlaufskurven angeknüpft<br />

werden, da sich bei der Pflege von Menschen im Familienkontext – sei es eines Kin<strong>des</strong>, eines kranken<br />

Familienangehörigen, eines alten Menschen – notwendigerweise mehrere (Pflege-)Verlaufskurven überkreuzen.<br />

Timmermans45 (1998) Überlegungen, wonach sich im Lauf <strong>des</strong> menschlichen Lebens vielfältige Verlaufskurven<br />

kreuzen und gegenseitig beeinflussen, sind ebenso wichtig wie seine Berücksichtigung von Materialien, Gegenständen<br />

und Technologien (non-human actants) 46 . Timmermans (1998: 430) macht darauf aufmerksam, dass eine<br />

im Zentrum stehende Verlaufskurve gegenüber anderen, sich damit kreuzenden Verlaufskurven automatisch<br />

privilegiert ist. In Studien, die sich mit chronischen Krankheiten und den entsprechenden Verlaufskurven befassen,<br />

steht immer diejenige Arbeit im Mittelpunkt, die den Patienten und den anderen von den Krankheiten abverlangt<br />

wird, und weniger die Arbeit, die ganz allgemein mit der auf sich selbst oder auf andere bezogenen Pflege<br />

verbunden ist47 . Um vernachlässigte oder ausgeblendete Sichtweisen in den Blick zu bekommen, schlägt Timmermans<br />

vor, die Vielfalt sich kreuzender Verlaufskurven als konzeptuellen Ausgangspunkt zu nehmen. In seinen<br />

Forschungen zum Thema ‚Wiederbelebung’ ging er der Frage nach dem Beginn und dem Ende von Verlaufskurven<br />

nach. Er identifizierte mehrere Strategien, die <strong>zur</strong> Bildung von Verlaufskurven führen. So können<br />

neue Verlaufskurven aus bestehenden (1) ausgegliedert werden, bestehende Verlaufskurven können (2) fusionieren,<br />

oder zwei oder mehrere Verlaufskurven können sich über einen kürzeren oder längeren Zeitraum (3) über-<br />

43 Nur so kann das praktische, theoretische und analytische Potenzial entfaltet werden.<br />

44 Ein Beispiel ist etwa der Wechsel von der Stoffwindel <strong>zur</strong> Papierwindel. Dieser Materialwechsel verändert die<br />

Pflegearbeit. Ein anderes Beispiel im professionellen Kontext ist die ganze Palette der Einmalmaterialien oder die Einführung<br />

der EDV.<br />

45 Da vieles, was mit der Pflege zusammenhängt, eher unsichtbar ist und an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wird, bieten<br />

Timmermans Ideen die Chance, sich dem Phänomen der Pflege anders zu nähern und es sichtbarer zu machen.<br />

46 Die Pflegewissenschaft kann vielfältige Anregungen aus den interaktionistischen Wissenschafts- - und Technologiestudien<br />

erhalten. So beschreibt etwa Tom Mathar (2010: 175ff) wie Herzinfarktpatienten, die an zwei unterschiedlichen Programmen<br />

<strong>des</strong> Telemonitorings <strong>zur</strong> Überwachung ihres Gewichts und ihres Blutdrucks (Risikofaktoren) teilnahmen, mit dieser<br />

Technologie im häuslichen Bereich umgingen, sie in ihre täglichen Routinen einbauten und wie die kontinuierliche<br />

Konfrontation mit Gewicht und Blutdruck ihre Lebensgestaltung prägte und welche Auswirkungen dies auf ihr Selbst und<br />

ihre Körper-Biographie-Verlaufskurven bzw. Körper-Identitäten-Verlaufskurven hatte.<br />

47 Die Beziehung zwischen der Fähigkeit, sich selbst und/oder andere Menschen zu pflegen und einer Krankheit gerät erst<br />

gar nicht in den Blick.<br />

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