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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 8<br />

Die Fähigkeit <strong>zur</strong> Perspektivenübernahme wird von Peplau im Zusammenhang mit der Herausbildung <strong>des</strong> Selbst<br />

bzw. <strong>des</strong> Selbstsystems erwähnt; von Roy vor allem im Zusammenhang mit dem Rollenfunktionsmodus. Bei<br />

King scheint sie eher implizit über das Konzept der Rolle durch. Die eigentliche Bedeutung, die dieser Fähigkeit<br />

für das menschliche einschließlich <strong>des</strong> pflegerischen Handelns zukommt, wird jedoch in allen genannten pflegetheoretischen<br />

Ansätzen nicht erkannt. In ihr drückt sich aber die Sozialität <strong>des</strong> Menschen aus, und sie begründet<br />

seine spezifische Fähigkeit, mehrere Dinge <strong>zur</strong> gleichen Zeit zu sein. So wie die vokale Geste bei der<br />

Entstehung und Entwicklung <strong>des</strong> Selbst und <strong>des</strong>sen spezifischer prozessualer dialogischer Struktur eine zentrale<br />

Rolle spielt, kommt ihr eine entscheidende Bedeutung bei der Entwicklung von ‚sympathy’ bzw. der Haltung <strong>des</strong><br />

‚Mitfühlens’ zu. Die vokale Geste ermöglicht dem Menschen, sich selbst zu stimulieren und auf sich selbst so zu<br />

reagieren, wie andere es getan haben oder tun14 . Bei Mead ist der Erwerb der Fähigkeit <strong>zur</strong> Perspektivenübernahme<br />

die entscheidende Voraussetzung, um überhaupt ein Selbst ausbilden und das eigene Handeln reflektieren<br />

zu können. Diese Fähigkeit ist für das Bewusstsein vom eigenen Selbst, für Selbstkontrolle und Selbstführung<br />

bzw. Selbststeuerung wichtig. Sie ist an den Spracherwerb und an die Herausbildung von Objekten gebunden.<br />

Die oben erwähnte edukative Funktion ist ohne diese Fähigkeit nicht entwickelbar.<br />

Werden die wenigen Hinweise von Mead <strong>zur</strong> Haltung <strong>des</strong> Mitfühlens konsequent auf pflegerische Situationen<br />

und pflegerisches Handeln übertragen, dann muss die Ausbildung der Fähigkeit, sich selbst oder andere zu pflegen,<br />

analog <strong>zur</strong> Entwicklung <strong>des</strong> Selbst gedacht werden. Die Fähigkeit, sich selbst und andere zu pflegen, gründet<br />

auf der Fähigkeit <strong>zur</strong> Perspektivenübernahme. Sie beschreibt eine ‚Selbst-Andere-Beziehung‘, eine ‚Selbst-<br />

Selbst-Beziehung‘ sowie eine ‚Selbst-Objekt-Beziehung‘. Sie geht mit der Entwicklung <strong>des</strong> Selbst einher und ist<br />

an die Entwicklung der Haltung <strong>des</strong> Mitfühlens gebunden. Wie das Selbst ist auch die Pflege bzw. der Vorgang<br />

<strong>des</strong> Pflegens als eine Form <strong>des</strong> sozialen Handelns ein evolutionäres, emergentes Phänomen. Dessen Erscheinungsweisen,<br />

Ausdrucksformen und Verlauf werden durch die Beziehungen, die ein Mensch im Rahmen<br />

seiner eigenen Pflege, bei der Pflege Anderer oder durch Andere eingeht, sowie durch die beim pflegerischen<br />

Handeln gemachten Erfahrungen mehr oder weniger gestaltet und geformt. So wie die Fähigkeit <strong>zur</strong> Perspektivenübernahme<br />

für die Entwicklung <strong>des</strong> Selbst essentiell ist, ist sie es auch für die Pflege und für die erforderlichen<br />

Kompetenzen. Der Entstehungs- und Entwicklungsprozess ist derselbe. An dieser Stelle soll auf die in Kap.<br />

3 von Mead genannten zwei Formen von Sympathie <strong>zur</strong>ückgegriffen werden:<br />

1. die Bereitschaft, jemanden beizustehen, ihm behilflich zu sein<br />

2. die Bereitschaft, mit einem Menschen zu fühlen.<br />

Um sich selbst oder einen anderen Menschen überhaupt pflegen zu können, muss die unter 2. genannte Form von<br />

Sympathie entwickelt werden. Dieser Entwicklungsprozess wurde in Kap. 3 als einer beschrieben, bei dem dem<br />

Spiel, dem organisierten Spiel und dem generalisierten Anderen bzw. den sozialen Welten/Arenen, in die der<br />

Mensch verwickelt ist, wichtige Rollen zukommen. In der Haltung, die Mead als Sympathie bezeichnet und die<br />

wie die Imitation auf der Übernahme der Rolle/der Perspektive <strong>des</strong> Anderen beruht, reagiert man nicht nur auf<br />

den Anderen, sondern man rekonstruiert den Anderen mehr oder weniger bewusst, indem man sich an seine Stelle<br />

setzt und seine Rolle/Perspektive in Bezug auf sich selbst einnimmt.<br />

„Wäre dieser Prozess nicht vorhanden, würde der Mensch nicht von der Gemeinschaft beeinflusst, in der er<br />

lebt. Es ist die kreative Imagination, die für den Einfluss verantwortlich ist, den andere auf das Selbst haben<br />

(ISS: 67)“.<br />

Dieser rekonstruktive Prozess wird eingeleitet, indem die ‚mitfühlende’ Person sich auf eine andere Person bezieht<br />

und auf das reagiert, was (in ihr) die Haltung <strong>des</strong> ‚Mitfühlens’ 15 auslöst (etwa wenn man sieht, dass der an-<br />

14 In Kap. 3 klingt an, dass Mead die damaligen Vorstellungen <strong>zur</strong> Imitation für un<strong>zur</strong>eichend hielt. Er benötigte eine Weile,<br />

bis er mit dem Konzept der Rollen- bzw. Perspektivenübernahme eine zufriedenstellende Antwort auf dieses Problem<br />

gefunden hatte. Das war erst 1912/13 der Fall (s. Cook 1993: 78).<br />

15 Es wäre zu kurz gegriffen, die Haltung <strong>des</strong> ‚Mitfühlens’ nur auf leidvolle Aspekte <strong>des</strong> menschlichen Lebens zu<br />

beschränken. Pflegerisches Handeln hat, worauf Peplau hinweist, u.a. mit der Vermittlung elementarer ‚Lebenstechniken‘<br />

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