09.12.2012 Aufrufe

zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Kapitel 8<br />

gen werden und zu <strong>des</strong>sen Vorstellungen von der Entstehung und Entwicklung <strong>des</strong> Selbst, <strong>des</strong> Selbstkonzepts<br />

und <strong>des</strong> Körperbilds. Im Meadschen Handlungsmodell wird unterstellt, dass das menschliche Handeln ein ‚going<br />

concern‘ 8 (MSS: 27) ist. Diese Idee machen sich Strauss und Mitarbeiterinnen bei dem von ihnen empirisch begründeten<br />

Konzept der Verlaufskurve zu Nutze (s. Strauss 1993, Strauss et al. 1985, Corbin/Strauss 1988, 1991,<br />

1992, Corbin 1998). Mit diesem Konzept fassen sie das Handeln/Arbeiten an den vom Menschen zu bewältigenden<br />

Phänomenen wie z.B. chronischen Erkrankungen begrifflich9 . Das im pragmatistischen Handlungsmodell<br />

von Mead enthaltende ‚going concern‘ verweist auf miteinander verwobene menschliche Lebensprozesse biologischer<br />

und sozialer Natur. Es ist wie das Konzept der Verlaufskurve, um das herum sich weitere zentrale Konzepte<br />

der Straußschen pragmatistisch-interaktionistischen Theorie <strong>des</strong> Handelns gruppieren, in Lebensprozesse,<br />

soziale Prozesse und soziale Praktiken eingebettet (s. Strauss 1993). In Kapitel 3 wurden folgende für das<br />

menschliche wie pflegerische Handeln zentrale Aspekte <strong>des</strong> Meadschen Handlungsmodells10 herausgearbeitet:<br />

• die vier Handlungsphasen Impuls, Wahrnehmung, Manipulation, Handlungsvollzug<br />

• der handelnde Mensch und die beim Handeln ablaufenden physiologischen Prozesse<br />

• die Gefühle/Gefühls- und Bewusstseinszustände in Form von Wünschen, Anstrengung, Interesse und<br />

Befriedigung<br />

• das Handlungsumfeld und die Handlungssituation (Bedingungen <strong>des</strong> Handelns)<br />

• Raum und Zeit, d.h. Vergangenheit, trügerische Gegenwart, erwartete Zukunft<br />

• Handlungsformen: unmittelbares Handeln (Gewohnheiten bzw. Routinehandeln), Handeln nach Versuch<br />

und Irrtum sowie reflexives (bewusstes) Handeln<br />

• die Rolle <strong>des</strong> Selbst und von Objekten beim Handeln (Gesten, soziale, symbolische Objekte, Sprache,<br />

physische Objekte wie Gegenstände, Instrumente, Hilfsmittel, der eigene Körper etc.)<br />

• das Denken als Handeln sowie die Bedeutung von Vorstellungen, Images und Ideen.<br />

Für die Entwicklung und Rekonstruktion pflegerischer Handlungskompetenzen im Laufe <strong>des</strong> menschlichen Lebens<br />

sind die o.g. unterschiedenen Handlungsformen von Mead zentral. Ein Großteil menschlicher Handlungsweisen<br />

läuft unbewusst ab, d.h. wie von selbst. Diese verkörperten (im Körper verankerten) Handlungsweisen<br />

unterscheiden sich von den bewussten Handlungsweisen. Gleichwohl sind beide Handlungsweisen notwendigerweise<br />

aufeinander bezogen, wie das folgende Zitat veranschaulicht:<br />

„[…] vernunftgelenktes Verhalten [tritt] dort auf, wo impulsives Verhalten versagt. Wo die Handlung ihre<br />

Funktion nicht erfüllt, wo die impulsive Anstrengung der Nahrungsbeschaffung erfolglos bleibt – und insbesondere,<br />

wo zueinander in Widerspruch stehende Impulse sich gegenseitig behindern und blockieren -, da<br />

kann das Nachdenken (die Vernunft) einen neuen Weg zeigen, der dem biologischen Individuum nicht offensteht.<br />

Das charakteristische Ergebnis vernünftigen Vorgehens ist, dass man sich eine andere Gruppe von<br />

Objekten sichert, auf die man reagieren kann, einen anderen Reizbereich. Es kommt zu Unterscheidung,<br />

Analyse und Umgruppierung der Objekte, die die verschiedenen zueinander im Widerspruch stehenden Impulse<br />

ausgelöst haben und die nun zu einer Reaktion führen, in der die widersprüchlichen Impulse aufeinander<br />

abgestimmt sind. Der Einzelne, der in sich selbst gespalten war, ist in seiner Reaktion wieder vereint.<br />

Insoweit aber, als wir auf die uns umgebenden Objekte direkt reagieren, ohne dabei andere Objekte jenseits<br />

der unmittelbar gesehenen, gehörten oder gespürten Objekte zu brauchen, handeln wir impulsiv. Dementsprechend<br />

handeln wir als biologische Individuen, die aus Impulsen bestehen, welche uns gegen Reize empfindlich<br />

machen und diesen Reizen unmittelbar entsprechen“ (GIG: 398; MSS: 348).<br />

8 Die Idee <strong>des</strong> ‚going concerns‘, eines wichtigen Begriffs der Chicagoer Soziologie und deren Nachfolger wie Everett C.<br />

Hughes (1993: 52ff), wird durch die deutsche Übersetzung in GIG zugedeckt, was erst bei einem Vergleich beider Texte<br />

deutlich wird. Die deutsche Übersetzung von “an organism which is a going concern […] (MSS: 27f) mit „einen selbsttätigen<br />

Organismus […](GIG: 66) gibt das Prozesshafte nicht wieder.<br />

9 Hughes nutzt den Begriff <strong>des</strong> ‚going concerns‘ <strong>zur</strong> Beschreibung von Institutionen, d.h. <strong>zur</strong> Beschreibung <strong>des</strong> ‚concerns‘,<br />

das zu ihrer Entstehung, Entwicklung und ihres En<strong>des</strong> in einem bestimmten Umfeld führt. In Bezug auf das menschliche<br />

Leben und Handeln könnte es mit ‚fortlaufende Sorge bzw. ‚fortlaufen<strong>des</strong> Anliegen‘ übersetzt werden. Im ökonomischen<br />

Sinn wird der Begriff mit ‚laufender Unternehmung‘ und als ‚Grundsatz der Unternehmensfortführung‘ übersetzt<br />

(s.www.dict.cc). Herbert Blumer (1966: 541) spricht im Zusammenhang <strong>des</strong> gemeinsamen Handelns (joint action) von<br />

einem ‚ongoing process of action‘ und davon, dass dieses Handeln eine Karriere bzw. eine Geschichte hat. Verlauf und<br />

Schicksal <strong>des</strong> gemeinsamen Handelns ist davon abhängig, was bei seiner Entstehung und Gestaltung passiert.<br />

10 Dieses Handlungsschema beschreibt laut Strauss (1993: 48) Prozesse, die für jede interaktionistische Theorie <strong>des</strong><br />

Handelns wesentlich sind sowie auch für das Verständnis entscheidender Merkmale <strong>des</strong> menschlichen Lebens und<br />

menschlicher Institutionen.<br />

310

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!