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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 3<br />

Die Wertmaßstäbe, wonach die besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen bemessen werden,<br />

unterliegen ebenso wie die Rechte einem historischen Wandel. In der heutigen Zeit muss der Einzelne<br />

„die Achtung, die er gemäß kulturellen Standards genießt, nicht länger einem ganzen Kollektiv (Stand) <strong>zur</strong>echnen,<br />

sondern kann sie positiv auf sich selber beziehen. Insofern geht unter den veränderten Bedingungen<br />

mit der Erfahrung sozialer Wertschätzung ein gefühlsmäßiges Vertrauen darin einher, Leistungen zu erbringen,<br />

die von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als ‚wertvoll’ anerkannt werden; wir können eine<br />

solche Art der praktischen Selbstbeziehung, für die umgangssprachlich der Ausdruck ‚Selbstwertgefühl’<br />

vorherrscht, in kategorialer Parallele zu den bislang verwendeten Begriffen <strong>des</strong> ‚Selbstvertrauens’ und der<br />

‚Selbstachtung‘ sinnvollerweise ‚Selbstschätzung‘ nennen (Honneth 1992: 209).<br />

Die von Honneth erarbeitete Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse bietet einen Schlüssel zum Verständnis<br />

unterschiedlicher, ebenfalls voneinander abgrenzbarer Formen der Missachtung. Hierunter zählt er Formen der<br />

Vergewaltigung, der Entrechtung und Entwürdigung. Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen diese<br />

Formen von Missachtung in den unterschiedlichen pflegerischen Situationen sowohl bezogen auf die zu pflegende<br />

wie auch auf die pflegende Person beobachtet werden können. In Anlehnung an seine bisherige Unterscheidung<br />

geht Honneth (1992: 214) als erstes auf die Vergewaltigung als eine Form der Missachtung ein. Diese<br />

stellt einen Angriff auf die leibliche Integrität <strong>des</strong> Menschen dar 130 . Die damit einhergehende Erschütterung <strong>des</strong><br />

psychischen Selbstvertrauens, der damit verbundene Zusammenbruch <strong>des</strong> Vertrauens in die Zuverlässigkeit der<br />

sozialen Welt und der eigenen Selbstsicherheit sind von fundamentaler Art.<br />

Die zweite Missachtungsform, die Honneth als Entrechtung bezeichnet, wirkt auf der Ebene der moralischen<br />

Selbstachtung. Hier wird einem Menschen dadurch Missachtung gezeigt, dass er/sie vom Besitz bestimmter<br />

Rechte strukturell ausgeschlossen bleibt. Mit dem Vorenthalten bestimmter Rechte wird der betroffenen Person<br />

nicht nur die gleichwertige Partizipation als vollwertiges Mitglied einer Gesellschaft verunmöglicht, ihr wird<br />

auch nicht die entsprechende moralische Zurechnungsfähigkeit zugestanden. Der betroffene Mensch sieht sich<br />

nicht nur in seiner persönlichen Autonomie eingeschränkt. Das Gefühl, nicht den Status eines vollwertigen, moralisch<br />

gleichberechtigten Interaktionspartners zu besitzen, führt zu einem Verlust an Selbstachtung.<br />

Der dritte Missachtungstyp, die Erniedrigung, bezieht sich negativ auf den sozialen Wert von Einzelnen oder<br />

Gruppen. Hierbei geht es um die Selbstverwirklichung <strong>des</strong> Menschen. Diese kann durch den Status, den er/sie in<br />

einer Gesellschaft innehat und die seinen/ihren Leistungen zugesprochen wird, deutlich eingeschränkt sein. Eine<br />

negative Bewertung geht in der Regel mit einer Degradierung einher, was in der Folge zu einem Verlust der<br />

Selbstschätzung führt. Mit der Verweigerung der Anerkennung einer bestimmten Form der Selbstverwirklichung<br />

wird der betroffenen Person der Boden entzogen, sich selber als ein in ihren charakteristischen Eigenschaften<br />

und Fähigkeiten geschätztes Wesen verstehen zu können. Ihr fehlt die soziale Zustimmung anderer, auf<br />

die der Mensch hierbei angewiesen ist.<br />

Das Selbst, Selbstkonzept oder Körperbild <strong>des</strong> jeweiligen Menschen wird durch die Erfahrung der beschriebenen<br />

Missachtungsformen in seinem jeweiligen Kern nachhaltig berührt. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen<br />

für den Einzelnen werden allgemein als Metaphern <strong>des</strong> Verfalls <strong>des</strong> menschlichen Körpers beschrieben. Sie verweisen<br />

sowohl auf physische wie auf psychische Aspekte (Honneth 1992: 219). Wie die Erörterung unter Pkt<br />

3.4.2 gezeigt haben, ist ‚Anerkennung’ im pragmatistisch/feministischen Diskurs ein zentrales Thema. Hierbei<br />

geht es vor allem um die Anerkennung eines Kontinuums von Erfahrung, von Wissen, von Werten und Praxis.<br />

Diese sind in einen spezifischen Sinnzusammenhang oder auch Kontext eingebunden. Letzterer ist eine Funktion<br />

der Erfahrung, deren Dynamiken nicht länger ignoriert werden dürfen (s. Seigfried 1996: 260). Pflegerisches<br />

Handeln und die Möglichkeiten <strong>des</strong>selben müssen aus diesem Blickwinkel betrachtet und verstanden werden. Im<br />

institutionellen Kontext kann die berufliche/professionelle Pflege, auch wenn es viele Menschen zu versorgen<br />

130<br />

Die Folter als deren Extremform führt dazu, dass das über die emotionale Zuwendung erworbene Vertrauen <strong>des</strong> Menschen<br />

in die autonome Koordinierung <strong>des</strong> eigenen Körpers nachhaltig verletzt wird.<br />

149

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