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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 3<br />

Hinweise auf die genannten Formen der wechselseitigen Anerkennung. Für die erste Anerkennungsform, die<br />

Hegel mit dem Begriff der Liebe 125 umschreibt, gibt es in Meads Arbeiten offensichtlich keine Entsprechung.<br />

Das Wort ‚Liebe’ verweist bei Hegel auf das Verhältnis von ‚Eltern und Kindern’. Es wird als ein Verhältnis der<br />

‚allgemeinen Wechselwirkung und Bildung <strong>des</strong> Menschen’ beschrieben, in dem sich die Subjekte reziprok als<br />

liebende, emotional bedürftige Wesen anerkennen 126 . Der Anteil der individuellen Persönlichkeit <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong><br />

[wie der Eltern, Hinzufügung MMK], die hier Anerkennung durch andere findet, ist das ‚praktische Gefühl’, das<br />

Angewiesensein <strong>des</strong> Einzelnen auf lebensnotwendige Zuwendungen und Güter. Wie der bisherige Gang der Arbeit<br />

gezeigt hat, könnte das, was Honneth (1992: 151) unter dem Stichwort der emotionalen Zuwendung fasst,<br />

mit dem verglichen werden, was Mead mit den Begriffen ‚parental form’ und ‚sympathetic attitude’ beschreibt.<br />

Honneth findet mit Blick auf die Entstehung <strong>des</strong> Selbst in Meads Arbeiten jedoch die motivationale Grundlage<br />

für diese Anerkennungsform. Um ihre heutige empirische Bedeutung zu belegen, wendet er sich der Psychoanalyse<br />

in Form der Objektbeziehungs<strong>theorie</strong>, insbesondere den Arbeiten Winnicotts zu. Honneth fokussiert in seinen<br />

Ausführungen die Phase der ersten Lebensmonate eines Kin<strong>des</strong>. Diese sei laut Winnicott eine Phase der ‚undifferenzierten<br />

Intersubjektivität’. Mutter und Kind werden hier als Bestandteil eines Handlungskreislaufs wahrgenommen.<br />

Sie sind wechselseitig in ihren Interaktionen aufeinander bezogen. Ohne im Detail auf Honneths Argumente<br />

einzugehen, kann zusammenfassend gesagt werden, dass er den Ursprung der Anerkennungsform der<br />

Liebe in der frühen Kindheit sieht. Er beschränkt sie primär auf die Mutter-Kind-Beziehung. Im Rahmen seiner<br />

Entwicklung muss sich das Kind schrittweise aus dieser Beziehung lösen. Hierbei spielen sogenannte ‚Übergangsobjekte’,<br />

ein von Winnicott geprägtes theoretisches Konzept, eine wichtige Rolle. Honneth setzt die Struktur<br />

<strong>des</strong> Selbst, d.h. das ‚I’ und ‚Me’ in Beziehung zu psychoanalytischen Begrifflichkeiten und assoziiert dabei<br />

das ‚I‘ mit dem Unbewussten. Mit dieser Interpretation verlässt er allerdings den Theorierahmen Meads, <strong>des</strong>sen<br />

Ausgangspunkt das menschliche Handeln in sozialen Situationen ist. Im Rahmen <strong>des</strong> Handlungsprozesses stellen<br />

das ‚I’ und das ‚Me’ zwei Phasen <strong>des</strong>selben dar. Durch vorschnelles Abrücken von Mead versäumt es Honneth<br />

127 , das in diesen Arbeiten angelegte Potenzial überhaupt erst zu entdecken (s. Markell 2007). Der Schlüssel<br />

zum ‚I’ und zum ‚Me’ ist die Fähigkeit <strong>zur</strong> Rollenübernahme. Sie ist fundamental, um jemand Anderen anerkennen<br />

und um überhaupt ein Bewusstsein von sich Selbst entwickeln zu können. Hierbei handelt es sich nicht nur<br />

um ein kognitives, sondern wie hier gezeigt wurde und worauf auch Mitchell (2000: 148f) im Zusammenhang<br />

mit dem Phänomen der Selbsttäuschung hinweist, um ein ‚gefühltes Phänomen’, <strong>des</strong>sen Anfänge in den Lautgebärden<br />

und damit verbundenen emotionalen Erfahrungen liegen (s. Pkt. 3.2.1.1). Die Entwicklung der Fähigkeit<br />

<strong>zur</strong> Rollenübernahme ist die Voraussetzung für den weiteren Spracherwerb und für kooperatives Handeln. Die<br />

Pflege ist die ursprünglichste Form sozialen und somit kooperativen Handelns, mit dem der Mensch konfrontiert<br />

wird. Damit dies möglich ist, ist das Kind auf seine Eltern und andere Bezugspersonen angewiesen. Die Bedeutung,<br />

die in der Psychoanalyse der Mutter zukommt, wird bei Mead relativiert. Er spricht immer von der ‚parental<br />

form’, und schon frühe Arbeiten seiner Studentinnen belegen anschaulich, wie wichtig beide (anwesenden)<br />

Elternteile für die kindliche Entwicklung sind. Wie an verschiedenen Stellen angedeutet, handelt es sich bei der<br />

Eltern-Kind- Beziehung, um eine institutionalisierte Beziehung, in der den Eltern die Aufgabe zukommt, das<br />

Kind für die Welt zu sozialisieren. Hierbei geht es um das Erlernen gemeinsam geteilter Dinge, aber auch um die<br />

Betonung der Einzigartigkeit eines Menschen. Letztere wird u.a. mittels pflegerischer Praktiken wie Körperpflege<br />

(Styling, sich Kleiden etc.) unterstrichen. In diesem Zusammenhang kommt auch der Mechanismus, Andere<br />

anzuerkennen, zum Tragen. Er kann nach Mead in der eigenen Besonderheit gefunden werden. Das Gefühl hierfür<br />

wird u.a. im Kontext pflegerischer Erfahrungen erworben. Um einen anderen Menschen pflegen zu können,<br />

125 Nach Honneth (1992: 33) beschreibt Hegel den Prozess der Etablierung von ersten Sozialverhältnissen zunächst als einen<br />

Vorgang der Herauslösung der Subjekte aus natürlichen Bestimmungen; dieses Anwachsen von ‚Individualität’ vollzieht sich<br />

über zwei Stufen der wechselseitigen Anerkennung, deren Differenzen untereinander sich daran bemessen, welche Dimensionen<br />

der persönlichen Identität auf ihnen jeweils praktisch Bestätigung finden.<br />

126 Unter Liebesverhältnissen will er alle Primärbeziehungen verstanden wissen, „soweit sie nach dem Muster von erotischen<br />

Zweierbeziehungen, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen<br />

bestehen“ (Honneth 1992: 153).<br />

127 Honneth begründet sein Abrücken von Mead in neueren Arbeiten eher nebenbei (s. etwa Honneth 2003, 2005).<br />

146

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