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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 3<br />

auch auf moralische Fragen an. Dieser Aspekt ist für das pflegerische Handeln von herausragender Bedeutung.<br />

Wenn Mead von der Anwendung der experiementellen Methode auf die Probleme der Ethik spricht, dann meint<br />

er, dass die Lösung moralischer Probleme kreative intellektuelle Leistungen und die Berücksichtigung aller in<br />

der Situation relevanten Werte erfordert. Joas (1992b: 298f) schreibt:<br />

„Wo Lösungswege unaufhebbar riskant sind, ist Moral ohne Sachwissen unmöglich; wo bloße Gesinnungsethik<br />

überwunden ist, gehört die experimentelle Reflexion über die Folgen der eigenen Handlungsalternativen<br />

zum innersten Kern der Moralität. Bloß guter Wille ohne Bemühung um das erforderliche Können ist<br />

umsonst und moralisch nicht wertvoll. Mit der Forderung nach ‚Berücksichtigung aller Werte’, die Mead<br />

mit der Forderung an den Wissenschaftler nach ‚Berücksichtigung aller Tatsachen’ parallelisiert, ist über die<br />

Dimension der Kreativität <strong>des</strong> Handelns hinaus die Dimension der Intersubjektivität angezielt, […]. Eine<br />

pragmatische Ethik stellt sich […] in die Situation <strong>des</strong> Handelnden hinein, dem die Vermittlung zwischen<br />

den Werten und den situativen Gegebenheiten als ‚praktisches’ Problem aufgegeben ist. Da in Meads Handlungskonzeptionen<br />

Zwecksetzungen nicht vor der Situation und unabhängig von ihr stattfinden, ist sie mit<br />

der Existenz verfügbarer Mittel verschränkt.“<br />

Moralischer Fortschritt erfordert einen dialektischen Prozess, in dem kreative Selbste neue moralische Synthesen<br />

angesichts wiederkehrender moralischer Konflikte entwickeln. Ausgangspunkt ist ein moralisches Bewusstsein<br />

einer Situation, in der alte Bedeutungen und Verhaltensmuster als inadäquat empfunden werden. Die Situation<br />

und die widerstreitenden Werte werden untersucht und es wird versucht, eine moralische Interpretation oder Arbeitshypothesen<br />

zu formulieren, die die Menschen befähigt, erfolgreich mit der Gesamtsituation umzugehen (s.<br />

Cook 1993: 120, 128). Hierbei kann die Lösung moralischer Konflikte auf unterschiedliche Weise erfolgen. Ein<br />

Ansatz besteht darin, dass ein Problem angegangen wird, indem alte Bedeutungen/Sinn auf das in Frage stehende<br />

Problem schlussfolgend bezogen werden oder indem auf ‚wohlbekannte Reize mit genau angepassten Gewohnheiten’<br />

reagiert wird (s. SW: 90; GA II: 367). Ein anderer Ansatz besteht in der Suche nach neuen Bedeutungen<br />

(s. Carreira da Silva 2008: 98f). Bezogen auf die Pflege hieße dieses, dass wir die Möglichkeit haben, die Pflege<br />

und damit verbundene Fragen inklusive ethischer weiterhin einseitig durch die Brille der Krankheit/Medizin zu<br />

betrachten. Es steht uns aber ebenso frei, nach Wegen anderer Erklärungen für das soziale Phänomen Pflege zu<br />

suchen. Nach Mead sind die Beurteilungen von Fakten, Werten, Mitteln und Zielen durchweg Hypothesen. Keine<br />

dieser Beurteilungen ist unfehlbar oder absolut. Alle sind für eine Reformulierung oder Rekonstruktion offen.<br />

Weiter führt für ihn die Anwendung der experimentellen Methode nicht automatisch zu befriedigenden Lösungen.<br />

Sie erfordert neben Flexibilität und Vorstellungsvermögen (Ideenreichtum) eine unvoreingenommene Einschätzung<br />

aller in einer problematischen Situation miteinander in Konflikt stehenden Ziele oder Werte. Dieses<br />

Vorgehen schreibt nicht vor, welche Hypothesen übernommen werden sollten. Es besteht aber darauf, dass jede<br />

akzeptable Hypothese alle involvierten Fakten in Betracht ziehen muss. Dies sei nicht leicht (Cook, 1993: 163,<br />

Carreira da Silva 2008: 192). Diese Gedanken werden von Micah Hester (2001) auf den Bereich der Medizinethik<br />

bezogen. Er unterstreicht die Notwendigkeit, die Situation eines Patienten umfassend zu betrachten, um<br />

zu intelligenten Lösungen zu gelangen. Die Klärung moralischer Fragestellungen ist i.d.R. konfliktträchtig, sie<br />

fordert den Einzelnen wie die Gruppe/Gesellschaft heraus 104 . Mead geht es bei ethischen Fragenstellungen, die<br />

immer auf ein konkretes Problem bezogen sind, das auch über die <strong>zur</strong> Disposition stehenden Werte entscheidet,<br />

um die Bestimmung der in der spezifischen Situation jeweils vorliegenden Interessen. Diese sollten unparteiisch<br />

beurteilt werden. In diesem Zusammenhang gilt es, Selbstsucht als Folge eines ‚verengten’ anstelle eines ‚erweiterten’<br />

Selbst zu überwinden: Ausgehend davon, dass das Selbst durch die gesellschaftlichen Beziehung konstituiert<br />

wird, schreibt er (MSS: 388; GIG: 439f):<br />

104<br />

Dieses wird von Mead durchaus gesehen, wenn er immer wieder auf dem Prinzip beharrt, dass alle Konfliktparteien in der<br />

Lage sein sollten, ihre Sicht <strong>des</strong> Problems darzulegen und dieses aus der Sicht <strong>des</strong> generalisierten Anderen, d.h. der Gruppe,<br />

der Gemeinde, <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> etc. zu betrachten. Gefordert ist eine Rekonstruktion <strong>des</strong> in Frage stehenden Problems, in dem eine<br />

neue Situation unter Berücksichtigung aller <strong>zur</strong> Verfügung stehenden Perspektiven hergestellt wird. Dies führt auch zu einer<br />

Rekonstruktion <strong>des</strong> Selbst der handelnden Personen. Deegan (2008: 4) betont, dass Mead sich im Gegensatz zu einer weit<br />

verbreiteten Auffassung intensiv mit der Analyse von Konflikt und Kooperation sowie ihres Zusammenhangs mit Demokratie,<br />

sozialer Rekonstruktion und internationalen Beziehungen auseinandergesetzt hat.<br />

132

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