09.12.2012 Aufrufe

zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Kapitel 3<br />

weiter zu sehen, dass Meads Vorstellung vom Selbst und den Anderen keine hierarchische oder vertikale Beziehung<br />

ist. Es geht ihm um Partizipation und Inklusion und weniger um Dominanz und Exklusion (s. auch Aboulafia<br />

1993, 2001). Unter Bezugnahme auf die soziale Hervorbringung von Sprache und Gedanken hat Mead immer<br />

wieder betont, dass Männer und Frauen ihre Welten so strukturieren, dass die Unterschiede zwischen den<br />

Geschlechtern als kontinuierlich erscheinen. Dies muss aber nicht sein. Ihnen steht auch die Möglichkeit offen,<br />

bestehende Verhältnisse zu verändern. Wie schon erwähnt, setzte er sich selbst aktiv für die Veränderung tradioneller<br />

Geschlechterrollen 82 ein (s. Deegan 1988: 209ff). Laut Deegan (2008: 307ff) ist Mead sich der unterschiedlichen<br />

Rollen in institutionalisierten Handlungssituationen wie zwischen Pflegekraft und Patient (oder<br />

zwischen Arbeitergebern und Arbeitnehmern) durchaus bewusst, wie auch <strong>des</strong> Umstands, dass das Zusammenwirken<br />

dieser aufeinander bezogenen Rollen/Funktionen nicht nur harmonisch verläuft, sondern aufgrund unterschiedlicher<br />

Interessen auch konflikthaft sein kann 83 .<br />

Was für ein Selbst wir sind, erfahren wir im Wesentlichen über das ‚Me’ als der Organisation der Menschen und<br />

Gruppen, mit denen wir uns umgeben. Unser Selbst entsteht innerhalb der Beziehungen, die wir mit den Menschen<br />

im Laufe unseres Lebens eingehen. Wir werden uns unseres Selbst einmal bewusst als Tochter, als<br />

Schwester, als Mitglied <strong>des</strong> Sportvereins X, als Angestellte <strong>des</strong> Krankenhauses Y, Bürgerin der Stadt Z etc., zum<br />

anderen aber auch vom Standpunkt <strong>des</strong> reflexiven Denkens. Die größte Gemeinschaft, in die der Mensch eintauchen<br />

kann, ist die der Gedankenwelt (s. MSS: 200; GIG 244). Wer man ist und wer man sein könnte, wird demnach<br />

durch die sozialen Beziehungen, sozialen Gruppen oder auch Welten, in denen man sich bewegt, mit bestimmt.<br />

Dieses ist mit Blick auf die verschiedenen Formen <strong>des</strong> pflegerischen Handelns wichtig, da das Beziehungsnetz<br />

und die sozialen Welten den Möglichkeitsraum für die pflegende und die zu pflegende Person bilden,<br />

ihr jeweiliges Handeln begrenzen, es aber auch zu Innovationen anregen können. Entwicklungsprozesse in der<br />

Pflege 84 im privaten wie im öffentlichen Raum müssen demnach im Kontext dieser Beziehungen und sozialen<br />

Welten gesehen werden. Hier finden kontinuierlich Veränderungen statt, die nicht nur durch die Reaktionen <strong>des</strong><br />

‚Me‘, sondern durch die <strong>des</strong> ‚I‘ ausgelöst werden (MSS 202; GIG: 246). Die damit einhergehenden Veränderungen<br />

treten in der Erfahrung jedoch erst auf, wenn eine Reaktion hierauf stattgefunden hat. Erst wenn wir etwas<br />

ausgesprochen haben, erkennen wir das bestimmte Selbst, das etwas auf diese bestimmte Art gesagt hat. Wir<br />

werden uns einer Sache erst dann bewusst, wenn wir die Sache getan haben 85 .<br />

Über das ‚Me’ sind wir in der Lage, unser Handeln selbst zu steuern und zu kontrollieren, insofern es unserem<br />

Handeln gewisse Grenzen setzt und ihm einen Rahmen gibt. Dieses wiederum ermöglicht dem ‚I‘ das ‚Me’ als<br />

Mittel für das jeweilige Handeln oder Vorhaben zu nutzen. Beim impulsiven Handeln oder in emotional stress-<br />

82<br />

Dieser Umstand findet bspw. bei der Interpretation <strong>des</strong> Meadschen Werks durch Ingrid Jungwirth (2007) keinerlei Würdigung.<br />

Sie unterstellt, dass er die Geschlechterdifferenz <strong>zur</strong> Bedingung der menschlichen Gesellschaft macht. Dies ist mit<br />

Blick auf die biologische Reproduktion zwar richtig, trifft aber mit Blick auf die gesellschaftlichen Rollen der Geschlechter<br />

so m.E. nicht zu.<br />

83<br />

Meads Vorstellungen wurden nicht von allen Repräsentanten <strong>des</strong> Amerikanischen Pragmatismus wie etwa Park und Burgess<br />

geteilt (s. Deegan 1988: 241). In der ‚Internet Encyclopedia of Philosophy’ (www.iep.utm.edu/m/mead.htm) wird von<br />

George Cronk (2005) hervorgehoben, dass Meads Beschreibung sozialer Beziehungen Hinweise auf die Beziehung gibt, die<br />

in einer Gesellschaft zwischen Konsens und Konflikt besteht. Hiernach geht es weniger um die Entscheidung zwischen einem<br />

Konsens- oder Konfliktmodell, sondern vielmehr um die Beschreibung, welche Funktion Konsens und Konflikt im<br />

menschlichen Leben zugewiesen wird. Grundsätzlich lassen sich aus Meads Beschreibungen zwei Modelle ableiten. Sie sollen<br />

an dieser Stelle lediglich erwähnt werden: (1) Intra-Gruppen Konsens – Extra-Gruppen Konflikt; (2) Intra-Gruppen-<br />

Konflikt – Extra-Gruppen-Konsens. Beide Modelle können hilfreich bei der Analyse institutioneller pflegerischer Entwicklungsprozesse<br />

sein (s. auch Deegan 2008). Athens (2002: 30ff) bemängelt dass Meads Vorstellungen menschlichen Handelns<br />

sich primär auf das Prinzip der Sozialität beruft. Es fehle hingegen das Prinzip der Herrschaft, ein Aspekt <strong>des</strong> Handelns, der<br />

inbesondere in komplexen und institutionalisierten Handlungsformen zum Tragen komme. Beide Prinzipien gehörten zusammen,<br />

wobei insbesondere das Prinzip der Herrschaft in komplexen, institutionalisiertem Handeln überwiege.<br />

84<br />

Als Beispiel kann hier etwa das Aufkommen pflegetheoretischer Ansätze angeführt werden oder all die Entwicklungen, die<br />

in der Pflegewissenschaft und in der Berufsgruppe stattgefunden haben und stattfinden.<br />

85<br />

Laut Mead (MSS: 204; GIG: 248) stecken in jedem Menschen Möglichkeiten. Diese Energien sind die Möglichkeiten <strong>des</strong><br />

Selbst, die über unsere eigene unmittelbare Präsentation hinausweisen. Wir wissen nicht, was diese sind. Sie sind in gewisser<br />

Weise die faszinierendsten Inhalte, über die wir nachdenken können, soweit wir sie erfassen.<br />

119

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!