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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 3<br />

verweist das ‚Me’ immer auf das reflektierte Selbst. Über den Mechanismus der Rollenübernahme kann der<br />

Mensch im Rahmen seiner Sozialisation das ‚Me’ bzw. unterschiedliche ‚Me’ entwickeln. Diese ‚Me’ entstehen,<br />

indem der Mensch in unterschiedlichen Gruppen und Kontexten handelt, wobei er jeweils die Haltungen Anderer<br />

übernimmt. Mit Blick auf die selbstbezogene Pflege sind es zunächst die Vorstellungen, Normen, Handlungsweisen<br />

der Eltern und wichtiger Bezugspersonen (s. Pkt. 3.2.2). Bezogen auf die berufliche Pflege übernimmt<br />

die Gesundheits- und Krankenpflegerin die Haltung der LehrerInnen, die sie in der Ausbildung erlebt hat, sowie<br />

die im vermittelten Wissen verkörperten Ideen, die Haltungen <strong>des</strong> Teams, in dem sie arbeitet, sowie die in der<br />

Berufsgruppe verkörperten Vorstellungen, Normen, die Haltungen der Ärzte, der anderen Gesundheitsberufe etc.<br />

Die Übernahme der Haltungen aller Anderen, mit denen sie im Laufe <strong>des</strong> Lebens zu tun hat, konstituiert ihre<br />

‚Me‘s, derer sie sich bewusst ist (MSS: 175; GIG: 218). Über Selbstreflexion bzw. Selbstbeobachtung ist es ihr<br />

möglich, das Selbst als Objekt (als Me) offenzulegen. Aus den Schlussfolgerungen unserer Selbstbeobachtung<br />

kann auf die Aktivitäten und Fähigkeiten <strong>des</strong> ‚I’ geschlossen werden. Das ‚I’ als solches ist nicht fassbar. Das ‚I’<br />

und das ‚Me’ dienen bezogen auf den Menschen und bezogen auf die Gesellschaft unterschiedlichen Funktionen.<br />

Das ‚I’ ist die Quelle von Spontanität, Innovation und schöpferischem Handeln (s. auch Joas 1992a). Es ist die<br />

Quelle unerwarteter, emergenter kreativer Handlungen, die für die Gesellschaft wertvoll und neu, aber auch<br />

nutzlos und schädlich sein können (Baldwin 2002: 117f). Im ‚I’ reagiert der Mensch in Bezug auf die Haltung<br />

der Gesellschaft, organisiert im ‚Me’, je danach wie diese ihm in seiner Erfahrung erscheint. Seine Antwort auf<br />

die organisierte Haltung der Gesellschaft beeinflusst wiederum diese. Laut Aboulafia 79 (1993: 151) können wir<br />

uns diesen Sachverhalt wie folgt vorstellen. Viele unserer Erfahrungen erfolgen in einem ‚in-betweenness’ systemischer<br />

Transformationen, was Mead als Sozialität 80 bezeichnet. Dieses ‚in-betweenness’ ist zugleich der<br />

Raum, wo Neues entstehen kann. So kann sich eine Gesundheits- und KrankenpflegerIn in Bezug auf eine bestimmte<br />

pflegerische Situation etwa überlegen, wie sie diese angehen möchte. In Gedanken spielt sie die Situation<br />

durch, indem sie sich aus der Sicht derer sieht, die ihr ein berufliches Selbst vermitteln (also <strong>des</strong> Pflegeteams,<br />

der Berufsgruppe, der Gesellschaft). In Gedanken reagiert sie auf jene, die in ihrem beruflichen ‚Me’ zum Ausdruck<br />

kommen. Ihre tatsächliche Handlung aber, ausgedrückt im ‚I’, bleibt ungewiss und kann erst im nachhinein<br />

in Form eines Gedächnisbil<strong>des</strong> und darüber als Teil <strong>des</strong> ‚Me’ bewertet werden. Das ‚I’ in seiner Beziehung<br />

zwischen dem ‚I’ und dem ‚Me’ ist etwas, das auf die soziale Situation reagiert, die in der Erfahrung <strong>des</strong><br />

Menschen vorhanden ist. Es reagiert auf die von ihm unterstellten Antworten der Anderen in dieser Situation.<br />

Diese sind ihm in der Erfahrung gegenwärtig, wohingegen ihm seine tatsächliche Reaktion nicht präsent ist. Genau<br />

hierin besteht die Freiheit oder auch Initiative <strong>des</strong> ‚I’. In einer sozialen Situation, sind wir in der Lage,<br />

selbstbewusst zu handeln. Wie oben angedeutet, wissen wir aber immer erst im Nachhinein, wie die Handlung<br />

tatsächlich ausfällt (MSS: 178, GIG: 221). Das ‚I’ ist zukunftsgerichtet, etwas, was dem ‚Me’ nicht gegeben ist.<br />

Das ‚I’ und das ‚Me’ sind zwei getrennte Phasen im Handlungsprozess, auch wenn sie als Teile <strong>des</strong> Ganzen zusammengehören.<br />

Das ‚Me’ ruft eine bestimmte Art <strong>des</strong> ‚I’ hervor, um die in der Situation gegebenen Verpflichtungen<br />

z.B. der Pflege erfüllen zu können. Das ‚I’ unterscheidet sich von dem, was die Situation selbst erfordert.<br />

‚I’ und ‚Me’ sind nicht gleich (MSS: 178; GIG: 221).<br />

Unsere Verhaltensannahmen beim Handeln sind nach Mead immer Konstruktionen, die auf begrenztem Wissen<br />

basieren und die uns aufgrund von neuen Erfahrungen zu einer Rekonstruktion unserer aufgrund vergangener<br />

und zukünftiger Ereignisse gemachten Vorstellungen führen können (MSS: 177; GIG: 220; Baldwin 2002: 117).<br />

Der anhaltende Dialog zwischen dem ‚I’ und dem ‚Me’ in Form symbolvermittelter Kommunikation und Rollenübernahme<br />

im Handeln oder im inneren Dialog ist die Basis für eine Veränderung. Mead ist sich jedoch darüber<br />

im Klaren, dass sich grundlegende Haltungen nur graduell verändern und dass kein Mensch die ganze Ge-<br />

79 Martin (2006: 71) stellt den gleichen Sachverhalt folgendermaßen dar: Es gibt 1. ein Me, das basierend auf den Perspektiven<br />

Anderer aus vergangenen Erfahrungen besteht, und es gibt 2. ein I, das auf das Me und die gegenwärtige Situation im<br />

Sinne einer vorgestellten Zukunft reagiert, in der das Me ein restrukturiertes ist. Meads Unterscheidung zwischen I und Me<br />

verweist auf die Zeitlichkeit und Sozialität, auf denen die Handlungsfähigkeit (agency) beruht.<br />

80 Mead führt diese Gedanken ausführlich in dem Buch PA aus.<br />

117

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