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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Kapitel 3<br />

sprachlich auch als ‚sich an seine Stelle versetzen’ (Mead, ebenda) genannt wird. Die Basis hierfür liefert die in<br />

der menschlichen Natur vorhandene ‚Kind-Eltern-Haltung’. Instinktiv übernimmt das Kind die elterliche Haltung<br />

als Antwort auf seine eigne kindliche Haltung. Dies ist eine Tendenz, die nicht immer offen erscheint (s.<br />

ISS: 59). Beim ‚Mitfühlen’ handelt es sich um eine ausschließlich menschliche Handlungsweise, die gekennzeichnet<br />

ist durch die Potenzierung der Selbststimulierung zu einer Handlung, in der man antwortet wie ein Anderer.<br />

Bei der Entwicklung dieser Handlungsweise kommt der vokalen Geste 47 eine zentrale Rolle zu. Sie bietet<br />

die Basis für die Entwicklung von Mitfühlen. Die vokale Geste macht es möglich, dass der Mensch auf sich<br />

selbst reagieren kann. Die Antworten auf diese Stimulation geben dem Kind das Material, aus dem es andere<br />

Selbste bildet. Wenn es diese aufgebaut hat, verfügt es über Selbste, die aus dem gleichen Stoff wie es selbst<br />

sind und die gleiche Tendenz zu antworten haben (s. ISS: 59).<br />

Frühe Ansätze der Fähigkeit <strong>zur</strong> Rollenübernahme sind demnach beim Säugling zu beobachten, wenn er „bewusst<br />

die Aufmerksamkeit Anderer erregt und sich der Einwirkungen Anderer eher bewusst ist als der Wirkung<br />

seiner selbst“ (GA I: 243, Mead 1913: 375). In seinen Arbeiten beschreibt Mead zwei kindliche Spielformen (s.<br />

Joas 1992b: 253), die für die Entwicklung <strong>des</strong> Menschen und für die Ausbildung der Fähigkeit <strong>zur</strong> Rollenübernahme<br />

essentiell sind: das Spiel (play) und das organisierte Spiel bzw. der Wettkampf (game). Die damit verbundenen<br />

Entwicklungsschritte werden häufig in Analogie zu anderen Entwicklungs<strong>theorie</strong>n (etwa Freud,<br />

Erikson) im Sinne eines Phasenmodells beschrieben. So können nach Lin<strong>des</strong>mith et al. (1999: 236) die Schritte<br />

<strong>zur</strong> Ausbildung der eigenen Persönlichkeit als vorbereitende, interaktionale und partizipatorische Phase bezeichnet<br />

werden. Sie relativieren diese Aussage insofern, als sie betonen, dass das Selbst nach Ende der Kindheit nicht<br />

etwas Fixes ist, sondern während <strong>des</strong> ganzen Lebens Veränderungen ausgesetzt bleibt (ebenda 1999: 313ff).<br />

Charon (2001: 74f) hingegen nennt vier soziale Phasen: die vorbereitende Phase, die <strong>des</strong> Spiels, die <strong>des</strong> Wettkampfs<br />

(game) und schließlich die der Referenzgruppe. Deegan (2001b: liv) äußert sich kritisch zu der Vorstellung<br />

von Phasenmodellen. Sie hebt hervor, dass die Phase <strong>des</strong> Spiels, die einige Jahre anhält, mit dem Übergang<br />

in die Phase <strong>des</strong> Wettkampfs nicht einfach abgeschlossen ist. Vielmehr sei das Spiel von fundamentaler Bedeutung<br />

für das gesamte spätere Leben (s. auch Joas 1989: xix). Es ist grundlegend für die Entwicklung aller Aspekte<br />

<strong>des</strong> Selbst: Bewusstsein, Geist, Intelligenz, signifikante Symbole und menschliche Interaktion. Dieser Umstand<br />

kann bei der Vorstellung der Entwicklung <strong>des</strong> Selbst im Sinne eines Phasenmodells und der entsprechend<br />

stattfindenden Ausbildung der Fähigkeit <strong>zur</strong> Rollenübernahme leicht zugedeckt werden. Jeder Mensch muss diese<br />

Entwicklungsschritte 48 im Sinne eines Lernprozesses, Sozialisation genannt, durchlaufen. Hierbei haben alle<br />

grundsätzlich das Potenzial, sich im Lebensprozess weiterzuentwickeln. Der Mensch ist historisch in der Gesellschaft<br />

verortet, in der er lebt. Mit Blick auf die Herausbildung einer Fähigkeit zum pflegerischen Handeln muss<br />

demnach der Entwicklung der Fähigkeit <strong>zur</strong> Rollenübernahme sowie der Entwicklung der mitfühlenden (sympathetic)<br />

Haltung Aufmerksamkeit geschenkt werden.<br />

3.2.2.2 Zum SICH HERAUSBILDENDEN SPIEL (PLAY) UND ORGANISIERTEM SPIEL (GAME)<br />

Menschliches Handeln wie das kindliche Spiel ist immer in soziale Prozesse eingebunden. Es geht stets mit Interaktionen<br />

einher, also mit der wechselseitigen Beeinflussung <strong>des</strong> Handelns von min<strong>des</strong>tens zwei Menschen.<br />

Strauss (1993: 22) betont, dass die an der Interaktion Beteiligten nicht real vorhanden sein müssen, sie können<br />

abwesend, tot, lediglich in der Phantasie <strong>des</strong> Handelnden vorhanden sein und etwa wichtige Autoritäten repräsentieren.<br />

Die gemeinsame Sprache, nonverbal wie verbal, ermöglicht es dem Menschen, sich während seines<br />

Handelns in die die Rolle <strong>des</strong> Anderen hineinzuversetzen und das entsprechende Wissen für den Handlungsverlauf<br />

und die sich aus ihm ergebenden Folgen zu berücksichtigen. Im kindlichen Rollenspiel findet genau dieses<br />

statt. So setzen sich Kinder in ihrem Spiel mit den in ihrer Phantasie geschaffenen Spielgefährten, also mit un-<br />

47<br />

Erst die vokale Geste schafft aufgrund <strong>des</strong> ‚identischen’ Stimulus die Voraussetzung für Imitation.<br />

48<br />

Diese Entwicklungsphasen können als Anhaltspunkte dienen. Sie verlaufen aber nicht linear, sondern eher spiralförmig,<br />

d.h. sie sind mit Vorwärts- und Rückwärtsentwicklungen im Prozess der Konstruktion und Rekonstruktion der eigenen Persönlichkeit<br />

und <strong>des</strong> Selbst verbunden.<br />

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