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zur theorie des pflegehandelns - E-LIB - Universität Bremen

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Vorwort<br />

damals nur vereinzelt vorliegenden Forschungsergebnisse nur schwer einschätzen5 . Der Transfer <strong>des</strong> RLT-<br />

Modells in die Praxis fand nicht im Vakuum, sondern in einem sozial vorstrukturierten Raum statt. Er betraf<br />

Menschen, die über Vorstellungen dazu verfügten, was Pflege sein und wie ihre berufliche Rolle aussehen sollte.<br />

Die inhaltliche Neuausrichtung der Pflege und die gleichzeitige Einführung eines methodischen und arztunabhängigen<br />

Vorgehens rüttelten nicht nur am Selbstverständnis der Pflegekräfte, sie stellten auch die bestehenden<br />

Arbeitsbeziehungen zwischen Medizin und Pflege <strong>zur</strong> Disposition. Bei meiner Arbeit stieß ich auf mancherlei<br />

Widersprüche. Einerseits wollten die Pflegekräfte die Pflege verändern und identifizierten sich teils begeistert,<br />

teils zögerlich mit den in der Pflegeöffentlichkeit und in ihrem Krankenhaus diskutierten Begriffen wie patientenorientierte<br />

Pflege, Pflegeprozess u.a.m. Andererseits schreckten sie im beruflichen Alltag immer wieder davor<br />

<strong>zur</strong>ück, die in der innerbetrieblichen Fortbildung erarbeiteten Erkenntnisse umzusetzen. Sie brachten hierfür<br />

sowohl objektive wie subjektive Gründe vor. Das widersprüchliche Verhalten der Pflegekräfte stellte mich vor<br />

die Frage, wie ein solches Verhalten erklärt werden könnte. Die von mir beobachteten Verhaltensweisen werden<br />

in der Literatur (s. hierzu z.B. Menzies 1974, Bridges 2003) u.a. mit ‚Widerstand’, ‚Angst’ oder mit verschiedenen<br />

Formen der ‚Abwehr’, aber auch mit dem Phänomen <strong>des</strong> ‚Theorie-Praxis-Gap‘ erklärt. Die zahlreichen Beispiele,<br />

die mir die Pflegekräfte während der Fortbildung lieferten, und die Verhaltensweisen, die ich bei der<br />

praktischen Umsetzung, d.h. beim Transfer der vermittelten Inhalte und Fertigkeiten/Fähigkeiten beobachten<br />

konnte, verwiesen mich jedoch immer wieder auf die Vorstellungen der Pflegekräfte von der Pflege selbst und<br />

von ihrer Rolle als Pflegekräfte sowie auf ihre Selbsteinschätzung und die Bewertung der eigenen Arbeit. Hierbei<br />

war auffallend, dass die Pflegekräfte gerne die Ärzte als die ‚Verhinderer‘ neuer Ideen in der Pflege darstellten6<br />

. Nicht nur das Selbstverständnis der Pflegekräfte, auch das Verhältnis von Medizin und Pflege war ins<br />

Wanken geraten. Je nachdem, wie dieses Verhältnis gedeutet wurde, wurde auch der Handlungsspielraum der<br />

Pflegekräfte anders wahrgenommen und von dem vermittelten Wissen anders Gebrauch gemacht. Insgesamt<br />

erforderten die Erfahrungen eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem, was Pflege ist oder sein könnte,<br />

die rückblickend mit den Worten von Anselm Strauss (1993) als Arbeit an der ‚beruflichen Identität’ der Pflegekräfte<br />

bzw. an ihrem ‚Selbst‘ und an ihrem beruflichen ‚Selbstkonzept‘ bezeichnet werden kann.<br />

Um mich den beobachteten Verhaltensweisen aus einer theoretischen Perspektive zu nähern, schien mir der<br />

Begriff <strong>des</strong> (Arbeits-)Bewusstseins7 zu vage, weshalb ich in der Literatur nach einem genaueren theoretischen<br />

Begriff suchte. Diesen habe ich in dem Begriff <strong>des</strong> Selbstkonzepts8 gefunden. Er ist für mehrere Wissenschaftsdisziplinen<br />

von zentraler Bedeutung. Ein anderer, in diesem Zusammenhang wichtiger Begriff ist das Selbst.<br />

Allerdings stellte ich fest, dass der Inhalt dieser Begriffe von Disziplin zu Disziplin variiert bzw. dass jeweils nur<br />

bestimmte Aspekte im Vordergrund stehen (s. Mead 1934/1967, Joas 1992a, Strauss 1993, Abels 1998, 2006,<br />

Greve 2000, Schachinger 2002, Mummendey 2006). Da beide Begriffe im RLT-Modell implizit enthalten sind,<br />

ohne von Roper et al. weiter untersucht worden zu sein, interessierte mich, welche Bedeutung die Begriffe für<br />

5 Siehe auch die Europäische Studie der WHO (1987) ‚People’s Needs for Nursing Care’.<br />

6 So drängten die Pflegekräfte die Ärzte bildlich gesprochen gerne in die Rolle <strong>des</strong> Königs/der Königin, deren Anweisungen<br />

sie wie ergebene Untertanen befolgten. Ein andere mögliche Interpretation der von mir beobachteten Verhaltensweise bietet<br />

die von Forsyth/McKenzie (2006: 209f) zitierte Beschreibung der Unzufriedenheit australischer Pflegekräfte von Bryan<br />

Turner. Diese wird in einem ‚Vokabular <strong>des</strong> Klagens’ zum Ausdruck gebracht, <strong>des</strong>sen Funktion er darin sieht, dass es einerseits<br />

die Pflegekräfte als Berufsgruppe zusammenhält, indem sie hierüber ihren Beitrag <strong>zur</strong> Patientenversorgung darstellen<br />

konnten, und ihnen andererseits half, den relativen Beitrag der Ärzte <strong>zur</strong> Patientenversorgung zu reduzieren und zu entwerten.<br />

Diese Strategie war in den Augen Turners eine Strategie der Inaktivität. Statt die Frustrationen der Pflegekräfte so zu<br />

kanalisieren, dass sie zu Reformen führten, trug die Strategie zu einer kollektiven Katharsis bei, die zu einer momentanen<br />

Entlastung der aufgestauten Emotionen und Frustrationen führte.<br />

7 Zu diesem Thema hatte ich im Rahmen meiner soziologischen Diplomarbeit eine empirische Untersuchung durchgeführt (s.<br />

Mischo-Kelling 1985).<br />

8 In der sozialwissenschaftlichen Literatur finden sich viele Hinweise, dass ein Zusammenhang zwischen der Arbeit, die ein<br />

Mensch ausübt, und dem Self-Image bzw. Selbstkonzept besteht (s. Beck et al. 1980, Frey/Haußer 1987; Daheim/Schönbauer<br />

1993, Strauss 1997, Heinz 1995, für die Pflege: Napiwotzky 1998, Piechotta 2000; Müller 2001, Klement 2006).<br />

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