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KAPITEL DREI<br />

Südostasien:<br />

Die Khmer<br />

(802–1566)


74<br />

Die Karte zeigt die Ausdehnung des<br />

Khmer-Reiches auf seinem Höhepunkt<br />

unter Jayavarman VII. (reg. 1181–1218)<br />

Vorige Seiten: Zwei der noch erhaltenen<br />

49 Gesichtstürme im Bayon-Tempel in<br />

Angkor Thom, spätes 12. bis frühes<br />

13. Jahrhundert n. u. Z. Die geheimnisvollen<br />

Gesichter blicken in alle vier<br />

Himmelsrichtungen. Ihre Identität ist<br />

unklar, aber bei verschiedenen Interpretationen<br />

wurden Brahma, der Bodhisattva<br />

Avalokiteshvara, Buddha<br />

selbst und der Erbauer des Tempels<br />

Jayavarman VII. genannt.<br />

SÜDOSTASIEN: DIE KHMER<br />

SCHLÜSSELDATEN<br />

um 200–250 Erste Erwähnung von Funan in chinesischen<br />

Dokumenten<br />

514–39 Herrschaft Rudravarmans, des letzten Königs<br />

von Funan und ersten Königs von Zhenla<br />

802 Jayavarman II. wird zum Universal herrscher<br />

(chakravartin) geweiht<br />

877–900 Regierungszeit von Indravarman I. und<br />

Yashovarman I. in Hariharalaya<br />

um 900 Yashovarman I. verlegt die Hauptstadt in die<br />

Region Angkor<br />

921–42 Herrschaft Jayavarmans IV. in Koh Ker<br />

1002–1049 Herrschaft Suryavarmans I. und Erweiterung<br />

des Khmer-Reiches<br />

1050–66 Herrschaft Udayadityavarmans II., Baphuon-<br />

Tempel und Westlicher Baray erbaut<br />

Phimai<br />

Buriram<br />

Wat Phu<br />

Prakhon Chai<br />

Phnom Rung<br />

Preah Vihear<br />

THAILAND<br />

Sdok Kak Thom<br />

Banteay Chmar<br />

PHNOM KULEN<br />

MOUNTAINS Koh Ker<br />

Sisophon<br />

Wat Ek<br />

Banteay Srei<br />

Angkor<br />

Siem Reap<br />

Phnom Bok<br />

Beng Mealea<br />

Bakan<br />

Hariharalaya<br />

Phnom Krom<br />

Sambor Prei Kuk<br />

DANGREK RANGE<br />

CARDAMOM MOUNTAINS<br />

Tonle Sap<br />

Phnom Penh<br />

Prasat Phoum Prasat<br />

Tonle Sap Mekong<br />

Phnom Chisor<br />

Angkor Borei<br />

Ta Keo Phnom Da<br />

Ashram Maha Rosei<br />

Kampot<br />

Phnom Bayang<br />

Oc Eo<br />

Han Chei<br />

VIETNAM<br />

LAOS<br />

Stung Treng<br />

Koh Krieng<br />

Sambor<br />

Kratie<br />

Banteay Prei Nokor<br />

Bassac<br />

1113–1145 Herrschaft Suryavarmans II.,<br />

Bau von Angkor Wat<br />

1177 Champa marschiert in Angkor ein und<br />

tötet den König<br />

1181–1218(?) Herrschaft Jayavarmans VII.; er vertreibt die<br />

Cham aus Angkor und macht den Mahayana-<br />

Buddhismus zur Staatsreligion<br />

1296 Besuch des chinesischen Gesandten Zhou<br />

Daguan; er schreibt einen Bericht über das<br />

Leben in Angkor<br />

1431 Hauptstadt der Khmer von Angkor in die<br />

Region des heutigen Phnom Penh verlegt<br />

1566 Ende der Regierungszeit Ang Chans I., der die<br />

Hauptstadt für einige Jahrzehnte wieder nach<br />

Angkor verlegt hat<br />

Mekong<br />

Sandsteinstatue Hariharas aus dem<br />

Ashram Maha Rosei, Ankor Borei, hergestellt<br />

im frühen 7. Jahrhundert. Die<br />

Gottheit ist zur Hälfte aus Shiva (in der<br />

rechten Hand hält sie einen Dreizack,<br />

eines von Shivas Attributen) und zur<br />

Hälfte aus Vishnu zusammengesetzt<br />

(in der Linken hält sie das chakra oder<br />

die Scheibe, ein Attribut Vishnus).<br />

er Begriff »Khmer-Reich« ruft beim Leser vermutlich nicht sofort ein klares<br />

Bild hervor. Er denkt nicht wie beim »Römischen Reich« an ein bestimmtes<br />

Territorium und Eroberungen, oder beim »Britischen Reich« vielleicht an ein<br />

bestimmtes Rechtssystem, an die Infrastruktur der Kolonialverwaltung oder an die<br />

Sprache. Im Westen kennt man oft nur den Namen der Hauptstadt und des religiösen<br />

Zentrums der Khmer: Angkor. 1 D<br />

Und doch stand Angkor im Zentrum eines Staates,<br />

dessen südkambodschanische Wurzeln bis ins 6. Jahrhundert und noch weiter zurückreichten<br />

und der im Zentrum einer Zivilisation stand, die sich bis zum 12. Jahrhundert<br />

über einen Großteil des südostasiatischen Festlands ausgebreitet hatte.<br />

Gründeten die Khmer ein Reich? Auf jeden Fall haben ihre Kultur und ihre Sprache<br />

eine 2000-jährige Kontinuität und waren mehrere Jahrhunderte in einem größeren<br />

Gebiet vorherrschend. Dieses erstreckte sich über den Nordosten des modernen<br />

Thailand, einen Großteil des Mekongdeltas in Vietnam und über den Süden von Laos.<br />

Kunst und Architektur zeugen von der Vorherrschaft der Khmer in diesen Regionen.<br />

Ihre Herrschaft wurde oft durch familiäre Verbindungen etabliert. Anders war die Beziehung<br />

zu einem Teil Zentralvietnams namens Champa. Die Khmer beherrschten es<br />

gelegentlich, aber das Kräftegleichgewicht verschob sich laufend, und es kam immer<br />

wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen.<br />

Das wichtigste Erbe der Khmer sind ihre Kunst und Architektur, die uns an Orten<br />

wie Angkor Wat auch heute noch in Erstaunen versetzt. Die Monumente und Skulpturen<br />

der Khmer verliehen ihrer Auffassung von Königtum materiellen Ausdruck,<br />

nach der das Recht des Königs zu herrschen auf seiner sichtbaren Beziehung zu den<br />

Göttern beruhte. Die an diesen Stätten erhaltenen Reliefs und Inschriften sind eine unserer<br />

Hauptinformationsquellen. Andere schriftliche Zeugnisse aus ihrem Reich sind<br />

nicht erhalten, wenn man von chinesischen Reiseberichten absieht.<br />

Eine weitere bemerkenswerte Leistung der Khmer war ihr meisterlicher Umgang<br />

mit den Wasserressourcen. Schon sehr früh gruben sie Kanäle, die viele Orte mit den<br />

wichtigsten Flussläufen und Seen verbanden und sowohl als Transportwege dienten als<br />

auch Wasser für Bewässerung und Rituale lieferten. Sie leiteten Flüsse um (der Fluss<br />

Siem ist fast gänzlich von Menschen gemacht) und gruben gewaltige Staubecken, sogenannte<br />

baray. Den mehr als acht Kilometer langen Westlichen Baray gibt es heute noch.<br />

Der Schoß des Reiches: die frühen Jahrhunderte<br />

Der älteste schriftliche Bericht über Kambodscha wurde im 3. Jahrhundert von chinesischen<br />

Gesandten 2 verfasst. Sie berichteten über eine Agrargesellschaft mit ummauerten<br />

Palästen und Dörfern, die sich gut auf Metallbearbeitung verstand und eine ähnliche<br />

Schrift wie die Inder hatte. Die Chinesen nannten das Land, das im südlichsten Teil<br />

des heutigen Vietnam am unteren Mekongdelta lag, Funan. Wir wissen nicht, wie es<br />

die Khmer selbst damals bezeichneten. Ihre Herrscher erhielten den Titel fan. Im Jahr<br />

243 n. u. Z. schickte der Herrscher Fan Chan als Geschenk Tänzer und lokale Güter an<br />

den chinesischen Hof, was auf einen bilateralen Austausch schließen lässt.<br />

Die Hauptstadt Funans war vermutlich Angkor Borei in der Provinz Takeo in der<br />

Nähe des heiligen Berges Phnom Da. Angkor Borei war eine recht große Stadt, die<br />

durch ein Netz von Kanälen und Flüssen mit einem Hafen verbunden war. In Oc Eo<br />

wurden Gegenstände ausgegraben, die auf Verbindungen mit Indien und China und<br />

sogar mit dem Römischen Reich schließen lassen. Der Seehandel war die Grundlage<br />

SÜDOSTASIEN: DIE KHMER<br />

75


76<br />

Sandsteinstatue der Göttin Durga aus<br />

Sambor Prei Kuk. Durga ist mit den<br />

Kräften vieler Götter ausgestattet,<br />

damit sie den Büffeldämon Mahisha<br />

besiegen kann. Die Skulptur hat die<br />

die für den Stil von Sambor Prei Kuk<br />

typische naturalistische Grazie.<br />

SÜDOSTASIEN: DIE KHMER<br />

für den Wohlstand Funans, aber ab Mitte des 6. Jahrhunderts wurden Umschlaghäfen<br />

wie Oc Eo nicht mehr angelaufen, weil die Schiffe nun hochseetüchtig waren und nicht<br />

mehr an der Küste entlangfahren mussten.<br />

Der Niedergang von Funan findet in chinesischen Berichten aus dem 7. Jahrhundert<br />

seinen Niederschlag, wo es heißt, Funan sei von dem Krieger Chitrasena erobert<br />

worden, einem früheren Vasallen Funans, der aus einem Staat stammte, den die Chinesen<br />

Zhenla nannten. 3 Lokale Inschriften in Sanskrit und Khmer lassen vermuten,<br />

dass es familiäre Verbindungen zwischen den Herrschern von Funan und Zhenla gab.<br />

Laut den Chinesen war Rudravarman der letzte König von Funan, aber in einer Inschrift<br />

von 667 n. u. Z. wird derselbe Rudravarman als Vorgänger von Bhavavarman<br />

und anderen Königen von Zhenla erwähnt. 4 Wahrscheinlicher ist deshalb, dass Zhenlas<br />

Aufstieg nicht durch die Eroberung Funans erfolgte, sondern sich das geografische<br />

Machtzentrum auf eine Stadt im Inland verlagerte, wo der landwirtschaftliche Reichtum<br />

den Niedergang des Seehandels ausglich.<br />

Schriftliche Zeugnisse über die familiären Beziehungen zwischen dem Gebiet von<br />

Funan und dem weiter nördlich gelegenen von Zhenla (mit der heutigen Tempelanlage<br />

Sambor Prei Kuk als Zentrum) werden durch Ähnlichkeiten der Kunst beider Regionen,<br />

insbesondere ihrer Bildhauerei, untermauert. Die Spiritualität und der Naturalismus<br />

eines Krishna-Bildes auf dem Phnom Da, das den Gott zeigt, wie er den Berg<br />

Govardhana emporhebt, um Bauern vor einem vernichtenden Gewitter zu schützen,<br />

mit dem sie der Gott Indra strafen will, hat eine ganz ähnliche Ästhetik wie einer der<br />

bemerkenswertesten Kunstschätze Kambodschas: ein Bild der Göttin Durga in einem<br />

Heiligtum des dem frühen 7. Jahrhundert bei Sambor Prei Kuk. Es zeigt die Göttin, wie<br />

sie den Büffeldämon Mahisha tötet, und ist, genau wie die Werke auf dem Phnom Da,<br />

ein Produkt der dynamischen Bildhauerkunst, der Khmer. 5<br />

Die Architektur sowohl in Funan als auch in Zhenla war bemerkenswert raffiniert.<br />

In Angkor Borei ist außer den Ruinen zahlreicher Backsteingebäude nicht mehr viel<br />

erhalten, aber in der Nähe, auf dem Phnom Da, steht der Ashram Maha Rosei. Dieser<br />

kleine Tempel besteht aus Basaltstein, der offenbar aus der einzigen kambodschanische<br />

Lagerstätte in der Provinz Kratie weit im Norden herbeigeschafft wurde. Der<br />

Transport einer so großen Menge schwerer Steine über eine weite Strecke und auf<br />

einen steilen Berg spricht für ein hohes Niveau an sozialer und technischer Organisation.<br />

Die Einpassung der Steinblöcke und die harmonische Struktur der Mauern, der<br />

Giebelfelder und des Daches zeugen von einer weit entwickelten Baukunst.<br />

In Sambor Prei Kuk sind von insgesamt 257 identifizierten Bauwerken noch mehrere<br />

Dutzend Heiligtümer der frühen Khmer erhalten. Sie lassen sich in drei Hauptgruppen<br />

von Monumenten einteilen (die als nördlich, zentral und südlich bezeichnet<br />

werden) und bildeten den Kern der Hauptstadt Mahendravarmans I. (reg. 600–616)<br />

und seines Sohns Ishanavarman (reg. 616?–637/638), die die Stadt Ishanapura nannten.<br />

Die meisten Tempel sind aus Backsteinen. Viele Gebäude sind quadratisch, manche<br />

auch rechteckig. Eine besonders interessante Gruppe besteht aus achteckigen Tempeln,<br />

einer Form, die es nur in dieser Region gibt. 6<br />

Ein typisches Merkmal der vielen architektonischen Schätze in Sambor Prei Kuk<br />

sind die raffinierten Reliefs von Miniaturgebäuden auf den Außenwänden der Sakralbauten,<br />

die einen guten Eindruck vermitteln, wie die Architektur in ihrer Blütezeit<br />

wohl einmal ausgesehen hat. Sie sind bevölkert von Königen, Göttern, Wächtern und<br />

Der kleine Basalttempel Ashram Maha<br />

Rosei, frühes 7. Jahrhundert. Die<br />

Außenmauern des Tempels mit den<br />

drei zurückweichenden Scheinstockwerken<br />

umschließen ein Heiligtum, in<br />

dem die auf S. 75 abgebildete Statue<br />

Hariharas stand.<br />

Dienern, die oft in lebensnaher Haltung dargestellt sind und ahnen lassen, wie die Gesellschaft<br />

der Khmer aufgebaut war. Fragmente der Stuckverkleidung, die einst das<br />

ganze Bauwerk bedeckte, sind an manchen Stellen erhalten.<br />

Die Kunst von Angkor Borei und Ishanapura ist zwar sehr eindrucksvoll, aber die<br />

Staaten, in denen sie entstand, hatten sich noch nicht so weit ausgedehnt, dass man sie<br />

als Imperien klassifizieren könnte. Dasselbe gilt auch für den Staat von Ishanavarmans<br />

Sohn Bhavavarman II. Erst in der Zeit von Jayavarman I. zwischen 655 und 657 gibt es<br />

Hinweise, dass sich die Macht des Staatswesens über die Region der Hauptstadt hinaus<br />

erstreckte. Die Lage von Jayavarmans Hauptstadt ist unbekannt, aber sie könnte Purandarapura<br />

oder Indrapura geheißen haben. 7 Inschriften lassen vermuten, dass die<br />

Gründung und Verschmelzung religiöser Stiftungen (die Land besaßen und deshalb<br />

wirtschaftlich und territorial von Bedeutung waren) nun nicht mehr lokal, sondern<br />

zentral kontrolliert wurde. Zum ersten Mal beinhalten Inschriften Flüche gegen die<br />

Missachtung königlicher Erlasse und erwähnen Aufgaben von Gefolgsleuten des Königs,<br />

die auf eine wachsende Komplexität der Verwaltung hindeuten. Ab dem 8. Jahrhundert<br />

wird pon durch mratan ersetzt, einen Rang, der verliehen wird. Die Macht der<br />

Stammesführer wurde zugunsten eines stärkeren Führers zurückgeschraubt.<br />

SÜDOSTASIEN: DIE KHMER<br />

77


78<br />

SÜDOSTASIEN: DIE KHMER<br />

Jayavarman starb vermutlich im Jahr 681, seine Tochter Jayadevi folgte ihm nach.<br />

Der genaue Zeitpunkt ihrer Thronbesteigung ist unbekannt, aber die erste Inschrift,<br />

auf der sie genannt wird, stammt von 713, als sie bereits 32 Jahre regiert hatte. Alle Inschriften<br />

aus ihrer Regierungszeit wurden in der Region des heutigen Angkor gefunden,<br />

wo sich vermutlich ihre Hauptstadt befand. Für die Zeit nach 713 kann auf mehrere<br />

Zentren geschlossen werden. Zu ihren Herrschern gehört eine Reihe von Monarchen<br />

in Sambhupura, (in der Provinz Kratie am Mekong), darunter drei Frauen. 8<br />

Diese Dynastie dürfte spätestens ab Mitte des 8. Jahrhunderts unabhängig gewesen<br />

sein. Ihr Gebiet lag günstig, um von Handel mit dem fruchtbaren Hinterland des Mekong<br />

zu profitieren. Inschriften beweisen, dass die Dynastie das ganze Gebiet von der<br />

Region Stung Treng im Norden bis hinunter ins Deltagebiet dominierte.<br />

Eine weitere herrschende Gruppe bestand aus Königen, deren Namen das Suffix -<br />

ditya (»Sonne«) und nicht -varman (geschützt durch) hatten. Sie regierten in Bhavapura.<br />

Weitere erwähnte Königreiche waren Dhruvapura, Vyadhapura und Indrapura.<br />

Außer der Bhavavarman- und Jayadevi-Linie scheint es noch 17 weitere Herrscherhäuser<br />

gegeben zu haben. Ihre Vielfalt und ihre Verteilung beweisen, dass Kambodscha<br />

noch kein zentral regiertes Reich war.<br />

Religion und kulturelle Einflüsse Indiens<br />

Ab dem 5. Jahrhundert enthalten die Namen der Könige und Häuptlinge indisches Vokabular,<br />

und es werden Suffixe wie varman verwendet. 9 Vermutlich fand die Übertragung<br />

ursprünglich durch Händler der Inder und der Khmer statt, die in beiden Regionen<br />

aktiv waren. Es gibt keine Hinweise auf permanente indische Siedlungen im Gebiet<br />

der Khmer. Die Inschriften lassen auf Veränderungen in den Nachfolge- und Erbschaftsregeln<br />

schließen. Sie deuten zusammen mit dem Vokabular für Regierungsgeschäfte<br />

darauf hin, dass die Khmer eine indische Sozialstruktur übernahmen.<br />

Die Position des Pon hatte mehr mit moralischer Autorität als mit der Herrschaft<br />

über ein Territorium zu tun, und aus den Inschriften geht hervor, dass der Rang und<br />

die Verwaltung des Landes nicht auf einen Sohn des Pon, sondern auf einen Schwestersohn<br />

überging. Solche matrilineare Vererbungsmuster sind typisch für viele südostasiatische<br />

Gesellschaften und prägten vermutlich auch die Nachfolgeregelung der Könige<br />

von Funan. Selbst in der angkorianischen Periode (von Anfang des 9. bis Mitte des<br />

15. Jahrhunderts) wurde der Thron nur selten vom Vater an den ältesten Sohn vererbt,<br />

häufig ging er an einen Neffen und manchmal auch an einen jüngeren Sohn. 10 Es wird<br />

die Ansicht vertreten (siehe Anmerkung 4), dass es mit wachsendem Wohlstand und<br />

der Konsolidierung größerer Territorien für Stammesführer vorteilhaft gewesen sein<br />

könnte, patrilineare Vererbungsmuster aus Indien einzuführen, damit sie Macht und<br />

Reichtum auf ihre direkten Nachkommen vererben konnten. Außer der Einführung<br />

einer männlich dominierten gesellschaftlichen Rangordnung ist auch die Verwendung<br />

von Sanskrit in vielen schriftlichen Zeugnissen auf den indischen Einfluss zurückzuführen.<br />

Auch in der Bildhauerei waren indische Vorbilder wirksam. Die Statuen auf<br />

dem Phnom Da und im Sambor Prei Kuk mit ihren ovalen Gesichtern, ihren feinen<br />

Gesichtszügen und ihrem eleganten Hüftschwung (tribangha) sind von der Ästhetik<br />

des Gupta-Reiches beeinflusst. In der Architektur wurde der indische heilige Turm<br />

oder shikhara übernommen. Vor allem jedoch wurde die Religion der Khmer durch<br />

Indien um Buddhismus und Brahmanismus bereichert.<br />

Diese Sandsteinstatue Vishnus aus<br />

dem Prasat Krabei Krap auf dem<br />

Phnom Kulen stammt aus der ersten<br />

Hälfte des 9. Jahrhunderts. Seine vier<br />

Attribute Kugel, Scheibe, Muschel und<br />

Keule sind erhalten. Die hohe Mitra ist<br />

typisch für den Kulen-Stil. Die starre<br />

Haltung verkörpert die wachsenden<br />

Strenge der Periode.<br />

Damit im Zusammenhang stehen Ursprungsmythen, in denen gemeinsame Elemente<br />

einheimischer und indischer Glaubensstrukturen erkennbar sind, insbesondere<br />

die Schlange (naga) als Herrscherin des Wassers und der Unterwelt und der Berg als<br />

Heimat der Götter – Gemeinsamkeiten, die vielleicht eine Erklärung für die Koexistenz<br />

beider Kulturen sind. Eine Legende berichtet von der Ankunft des Inders Kaundinya,<br />

der seinen Traum verwirklichte, in das Reich der Khmer zu segeln. Er schießt<br />

einen Pfeil in das Schiff der Königin, der Tochter des Naga-Königs. Sie heiraten, und<br />

ihr Vater trinkt das Meer über ihrem Reichsgebiet aus und schafft dadurch das Land<br />

der Kambus, ein Wort für »Kambodschaner«, das erstmals in einer Inschrift des<br />

Cham-Volkes von 817 verwendet wird, während die Khmer es erst in der Regierungszeit<br />

Indravarmans I. (877–889) erstmals gebrauchen. Es ist natürlich der Wortstamm<br />

des modernen »Kambodscha«. In der noch erhaltenen Khmer-Version der Ursprungslegende<br />

ist der Kok-Thlok-Baum der Nabel des Königreichs. 11 In ihrem Mythos, der<br />

über die Entstehung ihres Landes aus einem See berichtet, ist die Verschmelzung der<br />

landgestützten indischen Kultur mit ihrer wassergestützten Kultur enthalten.<br />

Wie auch immer die indische Kultur nach Kambodscha gelangte, sie wurde jedenfalls<br />

gründlich absorbiert: Die Inschriften auf Sanskrit haben ein hohes literarisches<br />

und epigrafisches Niveau. Tatsächlich übersetzten zwei Mönche aus Funan im frühen<br />

6. Jahrhundert sogar Sanskrit-Texte für chinesische Kaiser der Liang-Dynastie.<br />

Chakravartin, der universale Monarch: das frühe 9. Jahrhundert<br />

Über das 8. Jahrhundert existieren kaum schriftliche Zeugnisse: Nur 16 Inschriften<br />

sind erhalten. Dies verführte Historiker zu der Annahme, dass es sich um eine Zeit<br />

des Verfalls handelte, doch die Blüte von Architektur und Bildhauerkunst spricht<br />

eine andere Sprache. Tempel wie der Prasat Wat Kompong Preah und der Prasat<br />

Phoum Prasat übertreffen an Größe und künstlerischem Reichtum frühere Bauten.<br />

Ak Yum, ein in den 1930er jahren an der südwestlichen Ecke des Westlichen<br />

Baray ausgegrabener Tempel aus dem 11. Jahrhundert, ist ein Prototyp für den Höhepunkt<br />

der Khmer-Architektur: den Tempelberg. Auch die Statuen, insbesondere die<br />

lebensnahen Frauenstatuen aus der Provinz Kratie, 12 sprechen gegen die Theorie von<br />

einer Periode des Niedergangs. Die Informationsknappheit setzt sich im 9. Jahrhundert<br />

fort, und für den Zeitraum nach 791, einer Periode gewaltiger Veränderungen, ist<br />

bis auf eine Ausnahme (siehe Anmerkung 8) 80 Jahre keine Inschrift erhalten. Informationen<br />

über diesen Zeitraum finden sich nur retrospektiv in den Inschriften aus der<br />

angkorianischen Periode. Die informativste stammt aus dem Sdok Kak Thom, einem<br />

Tempel, der heute nahe der kambodschanischen Grenze in Thailand liegt. Sie wurde<br />

1052 durch eine Familie von Priestern verfasst, die dem Herrscher der Khmer seit über<br />

250 Jahren diente. 13 Der Gründer der Familie Shivakaivalya kam aus Aninditapura<br />

und erhielt Land durch den König von Bhavapura. Die Region (alle erwähnten Stätten<br />

liegen in der Umgebung der Tempelanlage Banteay Prei Nokor in der heutigen Provinz<br />

Kompong Cham) war vermutlich auch die Heimat von Jayavarman II., der aus Vyadhapura<br />

kam und eine neue Königsdynastie gründete. In dem Khmer-Text heißt es:<br />

Seine Majestät Parameshvara [postumer Name: Jayavarman II.] wurde kamraten<br />

jagat ta raja auf dem Mahendraparvata und machte [die Familie Shivakaivalya] zu<br />

permanenten Priestern des Gottes. 14<br />

SÜDOSTASIEN: DIE KHMER<br />

79


80<br />

SÜDOSTASIEN: DIE KHMER<br />

Die wörtliche Bedeutung von kamraten jagat ta raja lautet »Herr, der der Herrscher<br />

der Welt ist«, eine Wendung, die in Sanskrit mit devaraja übersetzt wird. Der Begriff<br />

kann sich auf einen Linga [Phallus, der den Gott Shiva symbolisiert], auf eine Statue<br />

oder auf eine Heilige Flamme beziehen. Worum es sich hier genau handelt, wissen wir<br />

nicht; trotzdem erfolgte Deutungsversuche sind umstritten. 15 Der König schwor, dass<br />

»niemand außerhalb der Familie jemals als Priester dieses Gottes dienen werde«. Der<br />

Schwur wurde 250 Jahre gehalten, wobei das Amt des Oberpriesters immer an einen<br />

Schwestersohn vererbt wurde. »...Seine Majestät begann auf dem Mahendraparvata zu<br />

regieren« 16 , wo der Brahmane Hiranyadama Shivakaivalya magische Riten lehrte.<br />

Durch die Verlesung tantrischer Texte etablierte er Jayavarman als chakravartin oder<br />

Universalherrscher. Die Zeremonie auf dem Mahendraparvata (Phnom Kulen) bedeutete<br />

den Höhepunkt von Jayavarmans Status, aber sie war kein plötzlicher Aufstieg zur<br />

Macht, sondern Folge einer ganzen Reihe sorgfältig geplanter Schritte, die vermutlich<br />

um 770 begannen. Der Bericht über Shivakaivalyas Ortswechsel, der dem König<br />

immer folgte, wenn dieser die Hauptstadt verlegte, lässt darauf schließen, dass der<br />

König gezielt sein Territorium erweiterte. Bei jedem Umzug wurde er von einem ganzen<br />

Gefolge seiner Beamten und ihrer Angehörigen begleitet. Gebiete, in denen er auf<br />

Inschriften als König genannt wird umfassen Purvadisha (wahrscheinlich im Nordwesten)<br />

und Sambhupura, wo er anscheinend seine letzte oder vorletzte Königin heiratete.<br />

17 Auf diese Weise dehnte er seinen Herrschaftsbereich vom Mekongbecken nach<br />

Norden aus. »Dann gründete seine Majestät die Stadt Amarendrapura.« Dies geschah<br />

in einem fruchtbaren landwirtschaftlichen Gebiet im Nordwesten mit Flussverbindungen<br />

zum Golf von Siam, jenseits des heutigen Battambang, wo auch schon Ishanavarman<br />

I. und Jayavarman I. residiert hatten. Durch diese schrittweise Expansion und<br />

die Konsolidierung der Vorstöße seiner Vorgänger errang Jayavarman II. die Herrschaft<br />

über ein größeres Gebiet als das heutige Kambodscha.<br />

Indem er den Ort seiner Weihe Mahendraparvata (»den Berg Indras«) nennen ließ,<br />

beschwor er die Macht und Heiligkeit des Berggipfels herauf, den der höchste Gott des<br />

brahmanischen Pantheons bewohnt. Die Symbolik des Berges war wahrscheinlich<br />

wichtiger als seine territoriale Bedeutung: Obwohl auf dem Phnom Kulen Flüsse entspringen,<br />

war die Wasserversorgung auf seiner Hochfläche vermutlich ein Problem,<br />

und die Hauptstadt wurde schon bald wieder nach Hariharalaya zurückverlegt. Jayavarman<br />

II. starb dort wahrscheinlich 850, Nachfolger wurde sein Sohn Jayavarman III.<br />

Hariharalaya: Die Konsolidierung der Macht im 9. Jahrhundert<br />

Jayavarman II. wurde von späteren Königen als Musterbeispiel eines Herrschers und<br />

wahrer Gründer des Reiches gepriesen. In Bezug auf dessen Erweiterung gehörte er<br />

zweifellos zu den effektivsten Herrschern, aber im Gegensatz zu den meisten seiner<br />

Vorgänger und Nachfolger hinterließ er kaum materielle Zeugnisse seiner Herrschaft.<br />

Abgesehen von einer möglichen Ausnahme18 , gibt es nicht einen Tempel und nicht<br />

eine Statue, die sicher auf seine Zeit datiert werden könnte. Rührt dies daher, dass er<br />

mit der Expansion des Reiches zu beschäftigt war und in jeder Hauptstadt zu kurz verweilte,<br />

um Denkmäler oder Inschriften hervorzubringen? Bedurfte seine kompetente<br />

Regierung keiner materiellen Requisiten? Wie auch immer, von der beträchtlichen Anzahl<br />

der Bauwerke und Stauen auf dem Phnom Kulen, die aus dem 9. Jahrhundert<br />

stammen, kann jedenfalls keine mit ihm in Verbindung gebracht werden.<br />

Prasat Thma Dap, Phnom Kulen, Siem<br />

Reap. Der mit (teilweise erhaltenem)<br />

Stuck verkleidete Backsteintempel mit<br />

den zurückweichenden Scheinstockwerken,<br />

hat seinen Eingang im Osten<br />

und drei falsche Türen auf den anderen<br />

Seiten. Die kunstvoll gearbeiteten<br />

Reliefs, die seine Kolonetten, Türstürze,<br />

Giebelfelder, Mauern und Gesimse<br />

schmücken, sind außerordentlich gut<br />

erhalten. Er wurde Mitte des 9. Jahrhunderts<br />

erbaut.<br />

Nur wenig ist über den 877 verstorbenen Jayavarman III. überliefert. Er trägt den<br />

postumen Namen Vishnuloka und war damit einer der wenigen Könige in der Geschichte<br />

der Khmer, die Vishnu als ihren Schutzgott wählten. Daraus ergibt sich ein Hinweis<br />

auf die Datierung der Tempel aus dem 9. Jahrhundert auf dem Phnom Kulen/Mahendraparvata.<br />

Viele enthalten nämlich Vishnu-Statuen, die sich deutlich von Shiva-<br />

Phalli (oder den späteren anthropomorphen Figuren) unterscheiden, die sonst in den<br />

Tempeln der Khmer vorherrschend sind. 19 Die von Vishnu abgeleitete Bezeichnung lässt<br />

vermuten, dass Jayavarman III. sie aufstellen ließ, und der bauliche Reichtum der Tempel<br />

deutet auf die Konsolidierung und Stabilität seines Reiches hin. Außerdem behielt<br />

Phnom Kulen vermutlich seine symbolische Bedeutung, und der König wählte ihn als<br />

Stätte für seine Sakralbauten, obwohl er wieder in Hariharalaya residierte.<br />

SÜDOSTASIEN: DIE KHMER<br />

81


82<br />

Die Inschrift im Sdok Kak Thom, Poipet,<br />

West-Thailand, 1052. Die auf einer<br />

Tempelstele befindliche Inschrift ist<br />

eine der ergiebigsten historischen<br />

Quellen über die Khmer. Sie erzählt die<br />

Geschichte der Familie Shivakaivalya,<br />

deren Mitglieder den Khmer-Königen<br />

von 802 bis 1052 als Oberpriester<br />

dienten.<br />

SÜDOSTASIEN: DIE KHMER<br />

Bei der Thronbesteigung Indravarmans I. (reg. 877–889) spielte wieder einmal die<br />

matrilineare Abstammung eine Rolle: seine Mutter war mit der Frau Jayavarmans II.<br />

verwandt. In der Inschrift im Sdok Kak Thom heißt es:<br />

Während der Herrschaft von Seiner Majestät Ishvaraloka [postumer Name Indravarmans<br />

I.] war der ... kamraten jagat ta raja ... in Hariharalaya ... Vamashiva, der<br />

Großneffe von Shivakaivalya, war der Lehrer des Königs. 20<br />

Vamashiva war nicht der Oberpriester des kamraten jagat ta raja, sondern dessen Bruder,<br />

was darauf hindeutet, dass die Familie Shivakaivalya nicht nur den religiösen Beschützer<br />

des devaraja, sondern auch den Guru des künftigen Königs stellte. Die wachsende<br />

Wichtigkeit dieses Clans deutet auf die wachsende Komplexität des Hofes und<br />

der Hierarchie der Regierungsbeamten hin.<br />

Bei seiner Thronbesteigung im Jahr 877 schwor Indravarman: »In fünf Tagen nach<br />

dem heutigen, werde ich mit dem Graben beginnen.« 21 Damit könnte der Bau des Indratataka<br />

gemeint sein, des ersten der riesigen Staubecken, die die Khmer-Monarchen<br />

schufen, oder auch einer der beiden unter Indravarman erbauten Tempel Preah Ko<br />

und Bakong, vielleicht aber auch alle drei Bauwerke. Die drei Bauten waren für spätere<br />

Könige wichtige Präzedenzfälle, zu deren Aufgaben Verbesserung öffentlicher Einrichtungen<br />

wie Teiche und Kanäle, der Bau eines Tempels für die Vorfahren und der Bau<br />

eines Staatstempels (in der Regel eines Tempelbergs) gehörten. Umfang und Komplexität<br />

der Bauwerke Indravarmans deuten auf technische und organisatorische Fähigkeiten<br />

hin, über die nur ein ausgereiftes Staatswesen verfügt.<br />

Die Gründungsstele des Preah Ko verzeichnet nach einer Huldigung Shivas das<br />

Datum von Indravarmans Thronbesteigung und seinen Stammbaum, beschreibt seine<br />

königlichen Besitztümer und vergleicht ihn mit mehreren Gottheiten. 22 Strophe 28<br />

nennt das Datum (879/880), an dem die sechs Türme des Preah Ko jeweils ihrer<br />

Der Tempel Preah Ko in Roluos, Siem<br />

Reap, gebaut 879. Die sechs Backsteintürme<br />

des Tempels stehen auf einer<br />

gemeinsamen Sandsteinplattform. Die<br />

vorderen drei sind männlichen Gottheiten<br />

und den männlichen Vorfahren<br />

Indravarmans I. geweiht, die hinteren<br />

drei Göttinnen und Vorfahrinnen. Die<br />

raffinierten Fensterstürze, Kollonetten<br />

und Giebelfelder waren einst stuckverziert<br />

und bemalt.<br />

Gottheit geweiht wurden: Die drei vorderen Türme sind einem Gott, die drei hinteren<br />

einer Göttin geweiht. Die Inschriften auf einigen ihrer Türstürze identifizieren die<br />

Gottheit im Turm und bringen sie mit je einem von Indravarmans Vorfahren in<br />

Zusammenhang.<br />

Die Inschrift auf der Rückseite der Preah-Ko-Stele wurde 893 von Indravarmans<br />

Sohn Yashovarman I. verfasst und beschreibt Gaben für die Gottheiten in zweien der<br />

Türme. Der Backsteintempel wurde während des Baus durch Sandsteinelemente ergänzt.<br />

23 Die Qualität der Bautechnik, die edlen Steinmetzarbeiten und die Komplexität<br />

der Ikonografie markieren ein neues Niveau des kambodschanischen Tempelbaus<br />

und zeigen die wachsende Macht und Zuversicht des Königreichs.<br />

SÜDOSTASIEN: DIE KHMER<br />

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