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unbedeutende menschen<br />
Kann ich was?<br />
Susanne Lehmann, 44 Jahre, hält sich für unbedeutend. Die Sekretärin<br />
arbeitet in einer niedersächsischen Kleinstadt und ist unfreiwillig Single. Sie schreibt<br />
täglich eigene Texte, die sie selbst „nicht wirklich gut“ findet. Wie diesen.<br />
MMein gebraucht gekauftes Ikea-Regal ist noch aus der alten Serie, heißt<br />
also noch „Expedit“ und nicht „Kallax“. Und das stört mich. Nicht, dass<br />
es „Expedit“ heißt. Es könnte auch „Otto Regenhagel“ oder „Fritz Wilhelm<br />
Friedrich von Mittendrein-Zwetschger“ heißen. Aber es hat andere<br />
Maße. Die alte Serie ist etwa zwei Zentimeter höher und breiter. Das ist<br />
unkritisch, solange das Regal frei steht. Tut es aber nicht. Auf und neben<br />
dem „Expedit“ stehen „Kallaxe“, drei insgesamt. Der Unterschied fällt auf.<br />
Also, klar: mir. Andere würden sagen: Ist doch völlig Regal. Aber mir nicht.<br />
Ich werde mich immer an diesen zwei Zentimetern stören.<br />
Vivienne Westwood, 74, aus London, rät, Bücher zu lesen, Ausstellungen<br />
zu besuchen und sich mit Geschichte zu beschäftigen. Dies sei ihr Erfolgsrezept.<br />
Wer nicht kulturell gebildet sei, könne keine Ideen haben. Das habe<br />
ich gelesen und für gut befunden. Auch wenn es gerade nicht hilft.<br />
Fahre ich zu Ikea und investiere 25 Euro in ein neues, passendes Regal?<br />
Das gerade erstandene habe ich so sehr geschrubbt, dass man es ohne<br />
Probleme weiterverkaufen könnte. Der Dreck auf dem Regal ist weg, nur<br />
die Macken lassen sich nicht wegschrubben, das ist wie bei Menschen<br />
auch. Die Dellen und Schrammen bleiben, da kannste nix machen.<br />
Es ist nicht einfach. Zumindest für mich. Ich bin allein und bleibe es wohl<br />
auch. Mit mir selbst komme ich gut klar und langweile mich nicht. Wenn<br />
ich immer noch fünf Jahre alt wäre, würden meine Eltern nicht ohne<br />
Stolz sagen, dass ich mich schon ganz gut allein beschäftigen kann.<br />
Im Leben gibt es ja auch genug spannende Probleme zu lösen. Zum Beispiel<br />
das mit den Regalen. Aber ich muss auch damit klarkommen, dass<br />
ich allein sterben werde. Das Problem dabei ist, dass es noch nicht so<br />
weit ist. Wenn jetzt einer sagen würde: „Hast noch ein halbes Jahr“, na,<br />
dann wüsste ich ja, dass das Leid und Elend bald ein Ende hätte. Aber<br />
so? Ich baue mir meine eigene Welt, und in der finde ich mich bestens<br />
zurecht. Das ist wahnsinnig mysteriös – ein Habitus, der sehr anziehend<br />
auf Männer wirkt, wie ich feststellen konnte.<br />
Neulich habe ich mir eine Jacke bei Tchibo gekauft. Eine gewöhnliche<br />
braune Strickjacke. Als ich damit zur Kasse ging, sprach die Verkäuferin<br />
einen ihrer Standardsätze: „Die soll’s sein? Sehr gerne. Das ist ja auch<br />
mal was ganz anderes.“ Ach, ist das so?, fragte ich mich. Was soll an<br />
dieser Strickjacke anders sein? Braun, zwei Ärmel, Knöpfe – ich kann da<br />
keine bahnbrechende Neuerfindung erkennen. Wozu auch? Das Prinzip<br />
ist durchaus bewährt. Ich überlege kurz, ob ich das antworte, was mir auf<br />
der Zunge liegt: „Was ganz anderes? Um Himmels willen, dann will ich<br />
die doch nicht! Ich möchte das, was alle anderen haben.“ Dazu könnte<br />
ich eine leichte Atemnot vortäuschen. Tue ich nicht. Aus Sorge um die<br />
Verkäuferin, die dem nicht gewachsen sein könnte.<br />
Wenn ich was ganz anderes sehen möchte, sehe ich fern. Dort erfährt<br />
man zum Beispiel, dass es in Jerusalem Schabbat-Gois gibt – Helfer,<br />
die den Menschen in Israel am Schabbat helfen. Und die brauchen sie<br />
auch. Der Schabbat beginnt jeden Freitagabend und dauert 24 Stunden.<br />
Während dieser Zeit darf man weder arbeiten noch einen Lichtschalter<br />
bedienen. Macht man versehentlich das Licht an, und es ist Schabbat,<br />
dann darf man es nicht wieder ausmachen. Dafür muss dann der Schabbat-Goi<br />
kommen. Genau genommen darf man den auch nicht bitten,<br />
das zu tun, was er doch bitte tun möge – er muss es von selbst erkennen.<br />
Voraussetzung für einen solchen Schabbat-Goi ist, dass er selbst kein<br />
Jude ist. Ihm beibringen, was er wissen muss, damit er seinen Job tun<br />
kann, das muss man vor dem Schabbat erledigen. Denn am Schabbat darf<br />
man ja nicht arbeiten. Wohl aber duschen. Ein Mann in dem Bericht,<br />
den ich gestern gesehen habe, hat geduscht und dabei versehentlich das<br />
warme Wasser angedreht. Ein Schabbat-Goi musste her, um das warme<br />
Wasser wieder abzustellen. Außerdem wurde eine Frau gezeigt, die einen<br />
Schabbat-Goi zu Hilfe rufen musste, weil sie das Licht in ihrem Kühlschrank<br />
angelassen hatte. Nun war die Kühlschranktür offen, das Licht<br />
an, und sie durfte die Tür nicht wieder schließen. Denn damit würde sie<br />
ja ein weiteres Mal die Regeln des Schabbat brechen. Ein Teufelskreis.<br />
Die Absurditäten des Lebens findet man auch, wenn man nicht danach<br />
sucht. Gestern um halb sieben war Herr Otto bei mir, ein Mann in<br />
den Sechzigern, ehemaliger Kunstdozent an Hochschulen. Ich hätte<br />
mich gerne mit ihm unterhalten, aber er war da, um CD-Regale abzuholen,<br />
und nicht, um mir Kunstgeschichte beizubringen. Schade<br />
eigentlich. Meine CD-Regale sind verkauft – die freigelegte weiße Wand<br />
kann wieder atmen. Nun könnte das Zimmer allerdings wieder etwas<br />
Farbe vertragen.<br />
Apropos Farben. Herr Otto hatte unterschiedlich farbige Schuhe an. Auf<br />
seine Schuhe hätte ich gar nicht geachtet, wenn er sie nicht ausgezogen<br />
hätte, um auf den Stuhl zu turnen, um das Regal von der Wand zu<br />
schrauben. Schlichte glattlederne Herrenschuhe, der eine in einem warmen<br />
Braunton, der andere in einem hellen Beigeton. Gleiche Farbfamilie,<br />
aber total unterschiedlich. Es war nicht so, dass einer der Schuhe zu lange<br />
in der Sonne gestanden hätte, sie waren durchaus vorsätzlich so gestaltet.<br />
Ich fragte ihn, ob er die Schuhe so gekauft oder ob er zwei Paar baugleiche<br />
Modelle in unterschiedlichen Farben erworben hätte und diese dann<br />
untereinander ausgetauscht. Nein, er hat sie so gekauft.<br />
Ich finde das gut. Warum sollen Schuhe immer gleich aussehen, nur weil<br />
sie ein Paar sind? Bei Menschen erwartet man das ja auch nicht, obwohl<br />
Menschenpaare sich mit der Zeit optisch einander durchaus angleichen.<br />
Gleiche Regenjacken, identische Armbanduhren. Falls diese Schuhidee<br />
noch kein neuer Trend ist, sollte ich vielleicht damit anfangen.<br />
Wie Frau Westwood schon sagte, versuche ich die Welt zu verstehen,<br />
um die eigenen Ideen zu verwirklichen. Und ich weiß nicht, was<br />
schwieriger ist.|<br />
Hältst auch du dich für unbedeutend?<br />
Wir möchten dir das Gegenteil beweisen.<br />
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