Abschlussbericht NRW zweitausend-30
Abschlussbericht NRW zweitausend-30
Abschlussbericht NRW zweitausend-30
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<strong>NRW</strong> ZWEITAUSEND-<strong>30</strong><br />
STARK UND GERECHT!
<strong>NRW</strong> ZWEITAUSEND-<strong>30</strong><br />
STARK UND GERECHT!
INHALT<br />
1<br />
12<br />
16<br />
18<br />
21<br />
IN <strong>NRW</strong> BEGINNT DEUTSCHLANDS ZUKUNFT!<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
GUTE ARBEIT – NEUE ENERGIE – DIGITALE INNOVATIONEN<br />
EUROPAS ZUKUNFTSREGION NR. 1<br />
DAS WIRTSCHAFTSLAND DER ZUKUNFT:<br />
EIN INNOVATIONS- UND BILDUNGSLAND<br />
· Treibhäuser für Wachstum und Beschäftigung: Leitmärkte und Innovationssysteme<br />
· Gesucht und gefunden: die Alfred Krupps des 21. Jahrhunderts<br />
· Von der Kita bis zur Weiterbildung: Bildungspolitik ist Innovationspolitik<br />
25<br />
DAS WISSENSCHAFTSLAND <strong>NRW</strong>:<br />
FORSCHUNG FÜR DEN MENSCHEN – LÖSUNGEN FÜR EIN BESSERES LEBEN<br />
· Wissenschaftliche Antworten auf die großen Herausforderungen<br />
· Wissenschaft für einen erfolgreichen Strukturwandel –<br />
Politik für eine erfolgreiche Wissenschaft<br />
28<br />
AUFBRUCH IN DAS DIGITALE ZEITALTER:<br />
DIE WIRTSCHAFT 4.0 KOMMT AUS <strong>NRW</strong><br />
· Unternehmen aller Branchen, digitalisiert euch!<br />
Innovationspolitik für Handwerk und Mittelstand<br />
· Digitale Infrastruktur: Das Glasfasernetz wird zum Standard<br />
· Made in <strong>NRW</strong>: Datenschutz, Datensicherheit und Datenmündigkeit<br />
· Rohstoff Open Data<br />
· Schutz vor digitaler Monopolmacht und die Standards der Wirtschaft 4.0<br />
· Die Zwillingsschwestern der Datensicherheit: Datenschutz und Datenmündigkeit<br />
34<br />
GUTE ARBEIT IN EINER GERECHTEN UND MENSCHLICHEN ARBEITSWELT!<br />
· Vollbeschäftigung und gute Arbeit für Nordrhein-Westfalen<br />
· Die Zukunft gehört der Mitbestimmung und der Sozialpartnerschaft<br />
· Starke Gewerkschaften und neue Formen der Interessenvertretung<br />
für Arbeitnehmer und Solo-Selbstständige<br />
· Von der Arbeitslosenversicherung zu einer modernen Arbeitsversicherung<br />
· Ein sozialer Arbeitsmarkt gegen Langzeitarbeitslosigkeit<br />
38<br />
NEUE ENERGIE: DER FORTSCHRITTSMOTOR FÜR NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
· Die rote Energiewende: sicher, sauber und bezahlbar<br />
· Der Energiemarkt 3.0 und Unterstützung für Stadtwerke<br />
· Steigerung der Energieeffizienz von Unternehmen und Haushalten<br />
· Moderne Nutzung fossiler Energieträger<br />
· Kaskadennutzung von Rohstoffen
2<br />
44<br />
46<br />
49<br />
DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
BILDUNG, AUFSTIEG UND SOZIALE SICHERHEIT FÜR ALLE MENSCHEN<br />
IN NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
GERECHTIGKEIT BEGINNT MIT CHANCENGLEICHHEIT!<br />
(ABER SIE HÖRT DAMIT NOCH NICHT AUF!)<br />
KEIN KIND ZURÜCKLASSEN!<br />
CHANCENGLEICHHEIT DURCH VORBEUGUNG UND INDIVIDUELLE FÖRDERUNG<br />
· Vorbeugung gelingt durch Kooperation:<br />
ein dichtes Netz kommunaler Präventionsketten für Nordrhein-Westfalen<br />
· Jede Stadt eine Bildungslandschaft! Kommunale Netzwerke<br />
für Bildungsgerechtigkeit<br />
· Löschen, wo es brennt! Je größer die (Bildungs-)Armut,<br />
desto dringender sind Personal und Geld<br />
· Aufsuchen, beraten und helfen!<br />
· Gebührenfreie Bildung: ein soziales Grundrecht und ein Gebot der Fairness<br />
53<br />
DIE SCHULE 20<strong>30</strong>:<br />
HAUPTSTADT EINER OFFENEN BILDUNGSWELT<br />
· Die Schubkraft für ein gelingendes Leben:<br />
umfassende Bildung in einer vernetzten Schule<br />
· Ein Recht auf Ganztag in allen Schulen an jedem Wohnort<br />
· Bildung für das digitale Leben: mündig, frei und sicher durch die Netzwelt<br />
· Eine Schule für die Demokratie – und mehr Demokratie für die Schule<br />
· Bund, Länder und Kommunen: gemeinsam das beste Bildungssystem Europas schaffen!<br />
60<br />
EINE BERUFSAUSBILDUNG FÜR JEDEN JUGENDLICHEN<br />
UND DAS ENDE DER JUGENDARBEITSLOSIGKEIT IN <strong>NRW</strong><br />
· Von der Schule in den Beruf: ohne Brüche, ohne Warteschleifen<br />
· Initiativen gegen den drohenden Fachkräftemangel:<br />
regionale Kooperation für die berufliche Bildung<br />
· Fairness auf dem Ausbildungsmarkt: eine Mindestvergütung für Auszubildende<br />
· Das Ende der Jugendarbeitslosigkeit in <strong>NRW</strong><br />
63<br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>:<br />
DAS ATTRAKTIVSTE HOCHSCHULLAND EUROPAS!<br />
· Attraktive Studienbedingungen und gute Lehre<br />
· Der modernste Hochschulcampus Europas<br />
· <strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: wo Frauen an Hochschulen gleichberechtigt sind
66<br />
FAMILIE LEBEN 20<strong>30</strong>:<br />
ZEIT FÜR KINDER – ZEIT FÜR ELTERN – ZEIT FÜR SELBSTBESTIMMUNG!<br />
· Neue Regeln für mehr Selbstbestimmung<br />
· Wer Flexibilität verlangt, muss auch Flexibilität bieten!<br />
Elemente eines neuen „Normalarbeitsverhältnisses“<br />
· Ein <strong>NRW</strong>-Pakt für Vereinbarkeit<br />
· Vorbilder belohnen! Familienpolitik für kleine und<br />
mittelständische Unternehmen<br />
· Ein fairer Arbeitsmarkt: Frauen verdienen mehr!<br />
· Aktive Väter für mehr Partnerschaftlichkeit fördern:<br />
Bessere Infrastruktur, Familienleistungen und Arbeitskultur!<br />
· Kinderkrankentage für Patchworkfamilien<br />
· Kinderbetreuung von der Kita bis zur Schule:<br />
mehr Angebote, mehr Flexibilität, keine Gebühren!<br />
· Die Vereinbarkeit von Familie, Ausbildung und Studium<br />
· Helfende Hände für Familien: eine Bonuskarte für<br />
haushaltsnahe Dienstleistungen<br />
· Wer pflegt, braucht finanzielle Sicherheit!<br />
· Ein neuer Familienleistungsausgleich:<br />
Auf Kinder kommt es an, nicht auf Trauscheine!<br />
· Vorbild sein! Familienpolitik im öffentlichen Dienst<br />
und in den Kommunen<br />
· Familienpolitik ist kommunale Zeitpolitik:<br />
Bündnisse für Familienzeit!<br />
75<br />
LEBENSQUALITÄT UND SELBSTBESTIMMUNG<br />
IM ALTER<br />
· Gut wohnen im Alter<br />
· Selbstständigkeit bewahren: Zugang zu Hilfsangeboten vereinfachen<br />
· Telemedizin fördern, Digitalisierung nutzen!<br />
· Gebührenfreie Ausbildungs- und Studiengänge für die Pflege<br />
· Mehr Ausbildungsplätze, mehr Durchlässigkeit und bessere Weiterbildung<br />
· Arbeitsbedingungen verbessern. Dialog für gute Arbeit in der Pflege<br />
· Mehr Vollzeit und flexible Pflegeteilzeit<br />
· Gerechte Bezahlung in der Pflege<br />
· Pflege gerecht organisieren<br />
· Ein neuer Personalschlüssel und eine bessere Sozialversicherung<br />
· Robotik und technische Unterstützungssysteme:<br />
Entlastung für das Pflegepersonal und mehr Eigenständigkeit für Pflegebedürftige<br />
· Hospiz- und Palliativversorgung: in Würde Abschied nehmen.
3<br />
82<br />
85<br />
87<br />
HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
SOZIALDEMOKRATISCHE POLITIK FÜR LEBENSWERTE STÄDTE UND GEMEINDEN<br />
WAS BEDEUTET ÖFFENTLICHE LEBENSQUALITÄT?<br />
EINE ANTWORT AUS OBERHAUSEN<br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>:<br />
TRENDS UND HERAUSFORDERUNGEN FÜR STÄDTE UND GEMEINDEN<br />
· Wachsende Städte<br />
· Stadt ist nicht gleich Stadt. Und Land ist nicht gleich Land<br />
· Nordrhein-Westfalen 20<strong>30</strong>: ungeahnte Freiheit – ungezählte<br />
Möglichkeiten – neue Lebensqualität<br />
93<br />
UM HEIMAT MUSS MAN SICH KÜMMERN!<br />
· Öffentliche Investitionen in öffentliche Lebensqualität<br />
· Unser Ziel: sechs Milliarden Euro für die Stadtentwicklung in <strong>NRW</strong><br />
· Zentrale Unterstützung für einzigartige Konzepte<br />
· Vorbeugen ist besser als Reparieren:<br />
Quartiersanalysen als „Frühwarnsystem“ und Erfolgskontrolle<br />
· Neue Standards für die Stadtentwicklung:<br />
Gemeinschaft, Sport und Kultur, Begrünung und Verbraucherschutz<br />
· <strong>NRW</strong> trotzt dem demografischen Wandel – durch Solidarität,<br />
interkommunale Zusammenarbeit und digitale Dienstleistungen<br />
· Eine neue Ära der Kooperation und interkommunalen Zusammenarbeit<br />
· Flächendeckende Breitbandnetze für digitale Dienstleistungen<br />
· Gelebte Solidarität: Dorfläden, Bürgerbusse oder Tauschbörsen<br />
· Modernisierung und Aufwertung von Dorfkernen<br />
101<br />
DER NORMALFALL, KEIN GLÜCKSFALL:<br />
EINE GUTE UND BEZAHLBARE WOHNUNG IN EINER INTAKTEN NACHBARSCHAFT<br />
· Bis zu zwei Millionen Wohnungen für Nordrhein-Westfalen<br />
· Die öffentliche Hand spielt wieder mit:<br />
Investitionen in Neubau und Modernisierung<br />
· Die Renaissance des mietpreisgebundenen Wohnungsbaus<br />
· Neue Flächen für wachsende Städte<br />
· Faire Regeln für faire Mieten<br />
· Gemeinsam leben und wohnen in Nordrhein-Westfalen<br />
104<br />
EINE NEUE STADT FÜR NORDRHEIN-WESTFALEN:<br />
DAS RHEINISCHE REVIER WIRD ZUM WELTWEITEN VORBILD FÜR<br />
ÖFFENTLICHE LEBENSQUALITÄT UND MODERNE STADTENTWICKLUNG
105<br />
SCHNELL, DIGITAL UND FLEXIBEL:<br />
MODERNE MOBILITÄT FÜR JEDEN AN JEDEM ORT!<br />
· Investitionen in das beste Verkehrswegenetz Europas<br />
· Eine neue Infrastruktur für den (Öffentlichen) Nahverkehr in <strong>NRW</strong><br />
· Ein Internet der Mobilität für Nordrhein-Westfalen<br />
· Mobil in <strong>NRW</strong>: ein Land – ein Verkehrsraum – ein Tarifsystem<br />
· Mobilität für Menschen mit Behinderung<br />
108<br />
IN SICHERHEIT LEBEN UND SICH SICHER FÜHLEN:<br />
HART GEGEN KRIMINALITÄT UND HART GEGEN<br />
DIE URSACHEN VON KRIMINALITÄT!<br />
· Eine von uns: die Polizei vor Ort<br />
· Mehr Personal und eine verbesserte Ausstattung für Polizei,<br />
Verfassungsschutz und Justiz<br />
· Konsequent gegen Alltagskriminalität<br />
· Cyberkriminalität bekämpfen!<br />
· Sexuelle Selbstbestimmung schützen!<br />
· Für Sicherheit sorgen: ein attraktiver Beruf!<br />
112<br />
ANPACKEN! MITBESTIMMEN! GEMEINSAM ETWAS ERREICHEN!<br />
EHRENAMTLICHES ENGAGEMENT UND LOKALE DEMOKRATIE<br />
· Demokratie vor Ort: mehr als Wählen und Abstimmen<br />
· Mitbestimmung im Quartier:<br />
Stadtteilmanagement und Stadtteilbudgets<br />
· Lokale Demokratie 20<strong>30</strong>:<br />
Engagement, Alternativen und gesunde Finanzen<br />
· Eine gerechte Aufteilung von Sozialleistungen<br />
· Der Stärkungspakt Stadtfinanzen<br />
· Höhere Zuweisungen aus dem Landeshaushalt<br />
116<br />
EIN LAND DER KULTUR IST EIN LAND DER ZUKUNFT<br />
GEMEINSCHAFT BRAUCHT DIE KÜNSTE UND ORTE DER KULTUR<br />
· Ein flächendeckendes Kulturangebot für <strong>NRW</strong><br />
· Gute Arbeit für Nordrhein-Westfalens Künstlerinnen und Künstler<br />
· Eine Kultur des Miteinanders braucht die Künste und<br />
kulturelle Einrichtungen<br />
· Kultur der Erinnerung pflegen und fortsetzen<br />
· Ein Kulturförderplan für Nordrhein-Westfalen
IN <strong>NRW</strong> BEGINNT<br />
DEUTSCHLANDS<br />
ZUKUNFT!
12<br />
IN <strong>NRW</strong> BEGINNT DEUTSCHLANDS ZUKUNFT<br />
Einleitung<br />
IN <strong>NRW</strong> BEGINNT<br />
DEUTSCHLANDS ZUKUNFT<br />
Nordrhein-Westfalen ist weit mehr als nur<br />
das einwohnerreichste Bundesland. Viel mehr!<br />
Wäre <strong>NRW</strong> ein unabhängiger Staat, fände man es unter den stärksten Ländern<br />
der Europäischen Union: als Volkswirtschaft, als Wissenschaftsland und als Zentrum<br />
europäischer Kunst und Kultur. Zusammen mit der Industrie erwirtschaften<br />
unsere kleinen und mittleren Unternehmen ein Bruttoinlandsprodukt von über<br />
600 Milliarden Euro. Jeder vierte deutsche Weltmarktführer kommt aus <strong>NRW</strong>.<br />
Nirgendwo gibt es mehr Museen, Theater oder Sportvereine. In keinem Land gibt es<br />
mehr Universitäten, Fachhochschulen und Forschungseinrichtungen. Und auch das ist<br />
Nordrhein-Westfalen: ein Einwanderungs- und Integrationsland, seit über 100 Jahren.<br />
N<br />
ordrhein-Westfalen ist ein Land mit<br />
großen Stärken und vielen Erfolgen.<br />
Es ist aber auch ein Land sozialer<br />
und ökonomischer Unterschiede.<br />
Es gibt Städte, die wachsen, und<br />
Städte, die schrumpfen. Es gibt ländliche Räume,<br />
die prosperieren, und ländliche Räume, deren<br />
Einwohnerzahlen sinken. Boom-Regionen mit<br />
Vollbeschäftigung grenzen an strukturschwache<br />
Regionen, die gegen Langzeitarbeitslosigkeit und<br />
soziale Ungleichheit zu kämpfen haben.<br />
Die Aufgaben der Landespolitik liegen somit<br />
auf der Hand: Die wirtschaftlichen und sozialen<br />
Gegensätze in Nordrhein-Westfalen müssen<br />
entschärft und schließlich überwunden werden.<br />
Das wird gelingen, wenn Politik, Wirtschaft und<br />
Gesellschaft in <strong>NRW</strong> die großen wirtschaftlichen<br />
und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer<br />
Zeit gemeinsam zu meistern verstehen.<br />
Mehr noch: Ob Deutschland vor diesen Herausforderungen<br />
bestehen kann, wird sich in seinem<br />
größten Bundesland, seinem wichtigsten<br />
Wirtschaftsstandort und seinem Energieland Nr. 1<br />
entscheiden. In Nordrhein-Westfalen entscheidet<br />
sich, ob die Energiewende ein Erfolg wird und ob<br />
die Ära der digitalen Ökonomie zu einer Ära der<br />
deutschen Wirtschaft.<br />
Wenn wir trotz des demografischen Wandels<br />
auch in Zukunft über ausreichend Fachkräfte für<br />
Innovation, Qualität und Ingenieurskunst verfügen<br />
wollen, dann müssen wir dort ein leistungsstarkes<br />
und gerechtes Bildungssystem schaffen,<br />
wo die meisten Kinder und Jugendlichen aufwachsen:<br />
bei uns in <strong>NRW</strong>!<br />
Wenn Deutschland ein erfolgreiches Integrationsland<br />
werden soll, dann muss Integration dort<br />
gelingen, wo mehr Menschen mit Migrationshintergrund<br />
leben, als andere Bundesländer Einwohner<br />
haben: in Nordrhein-Westfalen.<br />
Und auch das: Die Zukunft der Kommunen –<br />
ihre Lebensqualität und ihre Handlungsfähigkeit –<br />
entscheidet sich nicht in den schönen Dörfern<br />
Bayerns. Sie entscheidet sich in den Metropolregionen<br />
an Rhein und Ruhr und ihrem ländlichen<br />
Umland.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Einleitung 13<br />
Mit anderen Worten: In <strong>NRW</strong> entscheidet sich<br />
Deutschlands Zukunft.<br />
Wie soll diese Zukunft aussehen? Wie wollen wir<br />
in <strong>NRW</strong> im Jahr 20<strong>30</strong> leben, arbeiten und wirtschaften?<br />
Was müssen wir heute in die Wege<br />
leiten, damit Nordrhein-Westfalen in 15 Jahren –<br />
trotz der oben genannten Herausforderungen –<br />
ein starkes und gerechtes Land ist? Das sind die<br />
Leitfragen des Programms „<strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong>“<br />
der SPD-Landtagsfraktion. Wir entwickeln ein<br />
Zukunftsbild für Nordrhein-Westfalen, das uns in<br />
den kommenden Jahren als Kompass für unsere<br />
parlamentarische Arbeit dienen wird. Es wird<br />
deutlich machen, welche Werte unser Handeln<br />
leiten, welche konkreten Ziele wir uns für Nordrhein-Westfalen<br />
setzen und welche Wege wir<br />
beschreiten wollen, um sie zu erreichen.<br />
WOFÜR WIR STEHEN<br />
Unser Leitbild für Nordrhein-Westfalen ist eine<br />
Gesellschaft, in der die Aussicht auf sozialen Aufstieg<br />
weitaus realistischer ist als die Angst vor<br />
dem Abstieg. Wohlstand und soziale Sicherheit<br />
sind die Regel, Armut und exorbitanter Reichtum<br />
eine Ausnahme. Hier gilt das Prinzip echter Leistungsgerechtigkeit:<br />
Ungleiche Einkommen und<br />
Vermögen beruhen auf unterschiedlichen Leistungen<br />
und Talenten, nicht aber auf Privilegien<br />
für wenige.<br />
Ungleichheiten sind nur dann zu rechtfertigen,<br />
wenn sie sich zum Vorteil aller Menschen in einer<br />
Gesellschaft auswirken. Wenn alle von ihr profitieren,<br />
kann Ungleichheit gerechter als Gleichheit<br />
sein – aber eben nur dann.<br />
Wir wissen, dass Länder, die soziale Ungleichheit<br />
begrenzen, größeren wirtschaftlichen Erfolg<br />
haben. Hier ist die Arbeitslosigkeit geringer und<br />
es gibt weniger Kriminalität. Die Menschen sind<br />
gesünder, gebildeter und auch zufriedener. Und<br />
doch ist der Zweck eines modernen Sozialstaates<br />
nicht in erster Linie, Reichtum umzuverteilen.<br />
Sein Zweck ist es, jedem Menschen soziale Rechte<br />
zu verleihen und Zugang zu öffentlichen (Dienst-)<br />
Leistungen zu verschaffen, die es ihm ermöglichen,<br />
ein selbstbestimmtes Leben zu führen.<br />
Selbstbestimmung ist die Fähigkeit, das Leben<br />
in die eigenen Hände zu nehmen. Selbstbestimmung<br />
ist die höchste Form der Freiheit. Selbstbestimmung<br />
bedeutet etwas ganz anderes als jene<br />
kalte „Eigenverantwortung“, die das Leben von<br />
Menschen allein der Logik des Marktes unterwirft.<br />
Wer jedes Risiko fürchten muss, weil jeder<br />
Fehler und jedes Unglück zu einer existentiellen<br />
Bedrohung wird, kann weder flexibel sein noch<br />
seine individuellen Möglichkeiten nutzen. Selbstbestimmung<br />
ist nur dann möglich, wenn es ausreichend<br />
soziale Sicherheit gibt, die es erlaubt,<br />
etwas zu wagen und Initiative zu ergreifen. Selbstbestimmung<br />
gibt es nur durch Solidarität in einer<br />
sozialen Demokratie. Solidarität verschafft allen<br />
Menschen Freiräume, die sie sich nicht einfach<br />
kaufen können. Sie verleiht jedem Menschen die<br />
Kraft, das Beste aus seinen Talenten und Fähigkeiten<br />
zu machen. Wem das Leben aus den Händen<br />
gleitet, der erhält eine zweite oder dritte Chance.<br />
Die Zeit der „Privat-vor-Staat“-Ideologie ist abgelaufen.<br />
Wir wollen eine starke öffentliche Hand,<br />
die schützt und stützt, die anschiebt und im Notfall<br />
auch auffängt.<br />
Unser Leitbild für Nordrhein-Westfalen ist eine inklusive<br />
Gesellschaft – eine Gesellschaft für alle –,<br />
in der jeder Mensch Anteil am gesellschaftlichen<br />
Fortschritt in unserem Land hat, an seinen wirtschaftlichen<br />
Erfolgen, seinem lebendigen Kulturleben<br />
und seinen demokratischen Mitbestimmungsrechten.<br />
Anders als die Mehrheit zu sein –<br />
sei es aufgrund von körperlichen Handicaps,<br />
einer Migrationsgeschichte oder einer sexuellen<br />
Orientierung – ist kein Grund für Entsagung und<br />
schon gar keine Rechtfertigung für Ausgrenzung.<br />
Die inklusive Gesellschaft beginnt in Kita und<br />
Schule und hört in der Arbeitswelt noch nicht auf.<br />
Eine Politik für gesellschaftliche Integration und<br />
Inklusion ist keine Politik für Minderheiten. Von
14 IN <strong>NRW</strong> BEGINNT DEUTSCHLANDS ZUKUNFT Einleitung<br />
Barrierefreiheit und Bildungsgerechtigkeit, von<br />
Vielfalt und Toleranz profitieren alle Menschen<br />
in Nordrhein-Westfalen – ökonomisch, kulturell<br />
und politisch.<br />
In Nordrhein-Westfalen leben vier Millionen Menschen,<br />
deren Familien seit 1950 nach Deutschland<br />
eingewandert sind. Als Bürgerinnen und Bürger<br />
gehören sie alle zu diesem Land, ganz gleich ob<br />
sie glauben oder nicht glauben, ob sie Christen,<br />
Juden, Muslime oder Agnostiker sind. Wir in Nordrhein-Westfalen<br />
wissen, wie Integration gelingen<br />
und woran sie scheitern kann. Integration gelingt<br />
durch Bildung, Chancengleichheit und gute Arbeit.<br />
Und sie verlangt nach gemeinsamen politischen<br />
Grundwerten.<br />
Nordrhein-Westfalen ist seit jeher ein weltoffenes<br />
und tolerantes Land. Integration verlangt<br />
nicht, dass wir unsere Werte in Frage stellen oder<br />
relativieren. Wir sind stolz auf unsere politische<br />
Kultur der Liberalität und Toleranz. Individuelle<br />
Freiheit und Selbstbestimmung kombiniert mit<br />
Demokratie, Solidarität und Gerechtigkeit sind<br />
die stärksten und attraktivsten Ideen, die je in<br />
eine politische Ordnung gegossen wurden. Wir<br />
werden das Recht auf individuelle Selbstbestimmung<br />
eines jeden Menschen verteidigen, wenn es<br />
durch Rassismus oder religiösen Fanatismus bedroht<br />
wird. In Nordrhein-Westfalen können alle<br />
Demokraten beweisen, dass die offene Gesellschaft<br />
und ihr demokratischer Rechts- und Sozialstaat<br />
stärker, gerechter und erfolgreicher sind als<br />
alles, was die Feinde der offenen Gesellschaft zu<br />
bieten haben. Aufstieg, Sicherheit und Selbstbestimmung<br />
sind für alle möglich, die sich anstrengen<br />
– für Einwanderer und für Einheimische.<br />
Was Menschen unterscheidet, muss sie noch<br />
lange nicht trennen. Im Gegenteil: Vielfalt<br />
macht uns stärker. Unsere gemeinsame Zukunft<br />
zählt, nicht unsere Herkunft.<br />
WAS WIR ERREICHEN WOLLEN<br />
Wir sind der festen Überzeugung, dass technologische<br />
und wirtschaftliche Innovationen die<br />
Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt<br />
sind. Sie führen zu Produktivitätsgewinnen, die in<br />
Wohlstandsgewinne für alle verwandelt werden<br />
können. Immer mehr Menschen erhalten dann<br />
immer bessere Güter, die ein selbstbestimmtes<br />
Leben ermöglichen: Einkommen und soziale<br />
Sicherheit, Wissen und Bildung, Gesundheit,<br />
Mobilität und Energie. Wir setzen auf Fortschritt<br />
und die traditionellen Stärken Nordrhein-Westfalens.<br />
Einst war Nordrhein-Westfalen ein Pionierland<br />
der Industrialisierung. Jetzt wird es zu einem<br />
Pionierland digitaler Produktionsprozesse, neuer<br />
Dienstleistungssektoren und effizienter Energietechnologien.<br />
Bis 20<strong>30</strong> wird <strong>NRW</strong> die Innovationsregion<br />
Nr. 1 in Europa sein. Wir werden<br />
Wachstum, Vollbeschäftigung und Wohlstand in<br />
alle Regionen unseres Landes bringen. Es ist nicht<br />
zuletzt seine Tradition als Land der Sozialpartnerschaft,<br />
die <strong>NRW</strong> zu einem Kraftwerk für gute<br />
Arbeit, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche<br />
Innovationen machen wird.<br />
Nordrhein-Westfalen ist das Stammland der<br />
christlichen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung.<br />
Wir wollen ihr Versprechen der Solidarität<br />
wieder einlösen, und zwar mit einer<br />
neuen Bildungs-, Sozial- und Familienpolitik. Wir<br />
errichten einen neuen Sozialstaat. Er wartet nicht<br />
mehr auf soziale Missstände und Ungerechtigkeiten,<br />
die er im Nachhinein zu reparieren oder zu<br />
lindern versucht. Er bekämpft sie an der Wurzel<br />
und verhindert, dass sie das Leben eines Menschen<br />
einschnüren und nicht mehr freigeben.<br />
Nordrhein-Westfalen ist das Land der Städte<br />
und Regionen, die Identität verleihen und ihren<br />
Menschen Heimat sind. Trotz des demografischen<br />
Wandels oder ökonomischer Strukturschwächen<br />
kann jeder Ort Heimat sein, bleiben oder wieder<br />
werden. Es ist unsere feste Überzeugung, dass
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Einleitung<br />
15<br />
man Stadtteile, Dörfer und Quartiere nicht mit<br />
ihren Problemen alleinlassen darf. Hier sind<br />
Menschen zuhause. Ihre Heimat beginnt vor der<br />
Haustür und sie haben ein Recht darauf, dass<br />
man sich um ihre Heimat kümmert. Wo erforderlich,<br />
werden wir Stadtteile sanieren. Wo es einen<br />
Trend zu stetig steigenden Mieten gibt, werden<br />
wir ihn brechen. Wir sind entschlossen, allen<br />
Städten und Gemeinden zu gesunden Finanzen<br />
zu verhelfen.<br />
<strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong> – unser Zukunftsbild für<br />
Nordrhein-Westfalen – ist ein Land, das wirtschaftlich<br />
und technologisch zur Spitzengruppe<br />
der Welt gehört. Die Produktivitätsfortschritte<br />
der digitalen Ökonomie werden in Kaufkraft für<br />
alle verwandelt. Es ist ein Land, in dem die Mitte<br />
wieder wächst, weil es Vollbeschäftigung gibt<br />
und eine vorbeugende Bildungs- und Sozialpolitik<br />
für sozialen Aufstieg sorgt. Das Bildungssystem<br />
bietet ausreichend viele Plätze in hervorragenden<br />
Kitas, Schulen und Hochschulen –<br />
gebührenfrei.<br />
Es ist ein Land mit lebenswerten Städten, Gemeinden<br />
und Quartieren. Gute und bezahlbare<br />
Wohnungen in intakten Nachbarschaften sind<br />
wieder der Normalfall, nicht mehr ein Glücksfall.<br />
Es ist ein Land, in dem jeder Ort Heimat sein<br />
kann, weil er genügend Lebensqualität für ein<br />
selbstbestimmtes Leben bietet.<br />
In Nordrhein-Westfalen entscheidet sich<br />
Deutschlands Zukunft.<br />
Mehr noch: Im besten Sinne beginnt sie hier<br />
auch.<br />
Kein Kind wird zurückgelassen. Mutter zu sein,<br />
ist für eine alleinerziehende Köchin kein Armutsrisiko<br />
und für eine alleinerziehende Akademikerin<br />
kein Karrierehindernis mehr.<br />
Es ist ein Land, in dem die vielfältigen Lebensentwürfe<br />
und Familienmodelle seiner Bürgerinnen<br />
und Bürger nicht mehr an überkommenen Regeln,<br />
Leistungsanreizen oder sozialen Unsicher heiten<br />
scheitern. Wir schaffen Freiräume für ein selbstbestimmtes<br />
Leben und sichern es ab. Junge<br />
Eltern müssen sich nicht mehr fragen, wie viel<br />
Familienzeit ihr Job erlaubt. Stattdessen werden<br />
sie gefragt, wie sich ihr Job an ihre Vorstellungen<br />
von einem gelungenen Familien- und Arbeitsleben<br />
anpassen lässt.
1<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong>
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
GUTE ARBEIT – NEUE ENERGIE – DIGITALE INNOVATIONEN<br />
Bis 20<strong>30</strong> wird Nordrhein-Westfalen die Innovationsregion Nr. 1 in Europa<br />
sein. Wir werden Wachstum, Vollbeschäftigung und Wohlstand in alle<br />
Regionen unseres Landes bringen.<br />
Wir investieren in die Mobilität von Menschen, Gütern und Daten. Wir fördern<br />
Forschung und Technologieentwicklung auf allen Wissens gebieten<br />
und Leitmärkten, die für zukünftiges Wachstum, für Vollbeschäftigung<br />
und gesellschaftlichen Fortschritt von herausragender Bedeutung sind.<br />
Wir vernetzen Wirtschaft und Wissenschaft, damit besonders kleine und<br />
mittelständische Unternehmen mit neuen Technologien innovative und<br />
marktreife Produkte und Dienstleistungen entwickeln können.<br />
Wir setzen auf eine rote Energiewende und nutzen sie als Motor für<br />
Innovationen und Fortschritt. Virtuelle Kraftwerke und intelligente<br />
Stromnetze werden alle Energieverbraucher und Energieerzeuger vernetzen.<br />
Energie wird sicher, sauber und bezahlbar sein.<br />
Wir werden die sozialen Rechte und Grundwerte der sozialen Marktwirtschaft<br />
in das Zeitalter der digitalen Wissensökonomie überführen.<br />
Nordrhein-Westfalen wird 20<strong>30</strong> ein Kraftwerk für gute Arbeit, soziale<br />
Gerechtigkeit und wirtschaftliche Innovationen sein.
18<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Europas Zukunftsregion Nr. 1<br />
EUROPAS ZUKUNFTSREGION NR. 1<br />
Mitten in Europas Zukunftsregion Nr. 1 leuchtet des nachts<br />
ein weltbekanntes Bauwerk.<br />
Es ist aber nicht der Eiffelturm, auch nicht der Tower of London. Es ist<br />
der Kölner Dom. Und die „European Region of the Future“ ist Nordrhein-Westfalen.<br />
Alle zwei Jahre lässt das Foreign<br />
Direct Investment Magazine (fDi)<br />
– Tochter der britischen Financial<br />
Times und renommiertes Fachblatt<br />
der Londoner City – Wirtschaftswissenschaftler<br />
die ökonomischen Zukunftsaussichten<br />
aller europäischen Städte und Regionen<br />
untersuchen. Ihre Kriterien sind investitionsstarke<br />
Industrien und Handelsunternehmen,<br />
ausländische Direktinvestitionen, der Zustand<br />
der Infrastruktur, ausgebaute Breitbandnetze,<br />
Qualität von Wissenschaft und Forschung, gut<br />
ausgebildete Fachkräfte sowie die Wirtschaftsfreundlichkeit<br />
der Politik. Auch die Lebensqualität<br />
vor Ort zählt zu den Vergleichskriterien.<br />
Schließlich wollen Investoren sicher sein, dass sie<br />
begehrte Fachkräfte aus der ganzen Welt an den<br />
Ort ihrer Investitionen locken können.<br />
» <strong>NRW</strong> IST DAS<br />
INNOVATIONS-<br />
ZENTRUM DES<br />
KONTINENTS «<br />
Unterm Strich gab es 2016 wieder den gleichen<br />
Sieger wie schon 2014: Nordrhein-Westfalen<br />
hat die Île-de-<br />
France (Großraum Paris), Südostengland<br />
(Großraum London),<br />
Baden-Württemberg und Bayern<br />
auf die Plätze verwiesen. <strong>NRW</strong><br />
punktet mit seinem innovativen<br />
Mittelstand und seinen investitionsstarken<br />
Industrien, insbesondere aus der Logistik-,<br />
Gesundheits- und Pharmaindustrie. Über<br />
800 mittelständische Weltmarktführer, die<br />
„Hidden Champions“, haben ihren Sitz in <strong>NRW</strong>.<br />
Hier gibt es die dichteste Hochschullandschaft<br />
Europas, ein duales Ausbildungssystem von Weltruf<br />
und mehr hochqualifizierte Fachkräfte als<br />
irgendwo sonst in Europa. Auch bei den Patentanmeldungen<br />
ist Nordrhein-Westfalen der europäische<br />
Rekordhalter. Mit über 18.000 Patenten<br />
zwischen 2003 und 2014 ist Nordrhein-Westfalen<br />
das Innovationszentrum des Kontinents.<br />
Unser Land erhält jedes Jahr die höchsten ausländischen<br />
Direktinvestitionen und die zweithöchsten<br />
in der EU. Die fDi-Experten loben die<br />
ausgezeichnete Infrastruktur, insbesondere das am<br />
besten ausgebaute Breitbandnetz in Deutschland.<br />
Die Handelswege von China nach Europa, die<br />
„neuen Seidenstraßen“ und die wahrscheinlich<br />
wichtigsten Wirtschaftsrouten des 21. Jahrhunderts,<br />
führen nach Duisburg. Der „Lifestyle“ seiner<br />
Menschen gilt den Experten als Ausweis gehobener<br />
Lebensqualität. Der Service für Neuansiedlungen<br />
von Unternehmen in Düsseldorf steht –<br />
Pars pro Toto – für die Wirtschaftsfreundlichkeit<br />
des Landes.<br />
Das fDi-Ranking verrät viel über<br />
die Stärken unseres Landes. Wichtiger<br />
noch: Es zeigt uns, worin wir<br />
in <strong>NRW</strong> investieren müssen, um<br />
stark zu bleiben und noch stärker<br />
zu werden: in unsere Infrastruktur,<br />
insbesondere den weiteren Ausbau<br />
der Breitbandnetze, aber vor allem in Bildung,<br />
Wissenschaft und Forschung. Und genau für<br />
diese Investitionen hat die SPD-Fraktion in enger<br />
Zusammenarbeit mit der Landesregierung in<br />
den letzten Jahren gesorgt. Mit Erfolg: Seit<br />
2010 sind in <strong>NRW</strong> 600.000 sozialversicherungspflichtige<br />
Arbeitsplätze entstanden. Im Ruhrgebiet<br />
gibt es heute wieder genauso viele<br />
Erwerbstätige wie zu den Glanzzeiten von Kohle
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Europas Zukunftsregion Nr. 1 19<br />
und Stahl. Die Jugendarbeitslosigkeit ist um<br />
14 Prozentpunkte gesunken. Die Arbeitslosigkeit<br />
insgesamt war im Sommer 2016 so niedrig wie<br />
seit 23 Jahren nicht mehr.<br />
Gleichwohl wissen wir auch, dass der rasante<br />
Strukturwandel der letzten Jahrzehnte in einigen<br />
Regionen unseres Landes wirtschaftliche Strukturschwächen<br />
hinterlassen hat. Und wir wissen<br />
um die sozialen Probleme, die die betroffenen<br />
Kommunen noch immer belasten: (Bildungs-)<br />
Armut, Langzeitarbeitslosigkeit und soziale<br />
Ungleichheit. Dabei verläuft die Trennungslinie<br />
zwischen Licht und Schatten nicht nur entlang<br />
regionaler Grenzen, sondern oft quer durch<br />
unsere Städte und Gemeinden.<br />
Bis 20<strong>30</strong> werden wir Schritt für Schritt diese<br />
Gegensätze überwinden. Politik, Unternehmen<br />
und Gewerkschaften müssen die großen Herausforderungen<br />
unserer Zeit gemeinsam angehen:<br />
den globalen Konkurrenzdruck, die Ausbildung<br />
einer digitalen Wissensökonomie, den demografischen<br />
Wandel und die Gestaltung der Energiewende.<br />
Gemeinsam werden wir Ziele erreichen,<br />
die für jeden allein unerreichbar wären. Wo <strong>NRW</strong><br />
stark ist, wird es noch stärker werden. Wo es noch<br />
Strukturschwächen gibt, werden wir eine neue<br />
wirtschaftliche Dynamik entfachen. Wir werden<br />
Wachstum, Vollbeschäftigung und Wohlstand in<br />
alle Regionen unseres Landes bringen.<br />
TOP EUROPEAN REGIONS OF THE FUTURE<br />
REGION<br />
1. North Rhine-Westphalia<br />
2. Île-de-France<br />
3. South East England<br />
4. Baden-Württemberg<br />
5. Dublin Region<br />
6. Canton of Zug<br />
7. Bavaria<br />
8. Central Federal District<br />
9. Scotland<br />
1o. Uusimaa<br />
11. Stockholm County<br />
12. East of England<br />
13. Hessen<br />
14. Canton of Zurich<br />
15. North-Holland<br />
COUNTRY<br />
Germany<br />
France<br />
UK<br />
Germany<br />
Ireland<br />
Switzerland<br />
Germany<br />
Russia<br />
UK<br />
Finland<br />
Sweden<br />
UK<br />
Germany<br />
Switzerland<br />
Netherlands<br />
» AS THE LEADING<br />
ECONOMIC LOCATION IN<br />
GERMANY WITH MARKET<br />
POTENTIAL FOR<br />
INNOVATION IN EUROPE,<br />
WE ARE A MAGNET FOR<br />
INTERNATIONAL INVESTORS.<br />
SOME 18,ooo INTERNATIONAL<br />
COMPANIES ARE BASED<br />
IN NORTH RHINE-<br />
WESTPHALIA -- AND WE<br />
ARE READY FOR MORE! «<br />
Garrelt Duin, Minister of Economic Affairs,<br />
Energy and Industry, North Rhine-Westphalia
20<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Europas Zukunftsregion Nr. 1<br />
Nordrhein-Westfalen ist seit der industriellen<br />
Gründerzeit ein Innovationsland. Damit wurde<br />
die Grundlage für Wertschöpfung und Wohlstand<br />
gelegt. Auch im Zeitalter der digitalen Wissensökonomie<br />
wird <strong>NRW</strong> ein Innovationsland sein.<br />
Ein Innovationsland verlangt nach einem modernen<br />
Staat, der offensiv in Bildung, Wissenschaft,<br />
Forschung und Infrastruktur investiert. Diese<br />
öffentlichen Investitionen sorgen für wirtschaftliche<br />
Dynamik, gesellschaftlichen Fortschritt und<br />
soziale Gerechtigkeit. Sie sind durch nichts zu<br />
ersetzen. Erst öffentliche Investitionen bestellen<br />
das Feld, auf dem sich freies Unternehmertum<br />
entfalten kann, gute Arbeitsplätze entstehen und<br />
schließlich Gewinne und auskömmliche Einkommen<br />
geerntet werden.<br />
Wir investieren in die Mobilität von Menschen,<br />
Gütern und Daten. Wir fördern Forschung und<br />
Technologieentwicklung auf allen Wissensgebieten<br />
und Leitmärkten, die für zukünftiges Wachstum,<br />
für Vollbeschäftigung und gesellschaftlichen<br />
Fortschritt von herausragender Bedeutung sind.<br />
Wir vernetzen Wirtschaft und Wissenschaft,<br />
damit insbesondere kleine und mittelständische<br />
Unternehmen mit neuen Technologien innovative<br />
und marktreife Produkte und Dienstleistungen<br />
entwickeln können. Wir setzen auf das private<br />
Unternehmertum und werden Existenzgründungen<br />
anschieben und absichern. Wir werden 20<strong>30</strong><br />
das Gründerland Deutschlands sein.<br />
Die vielleicht größte Herausforderung der nächsten<br />
Jahre besteht darin, die Prinzipien und Regeln<br />
der sozialen Marktwirtschaft in das Zeitalter der<br />
digitalen Ökonomie zu überführen – in Nordrhein-Westfalen,<br />
in Deutschland und darüber<br />
hinaus. Ohne Regeln gibt es keine Rechte, weder<br />
für Unternehmen noch für Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer. Unternehmen haben ein<br />
Recht auf fairen Wettbewerb, auf den Schutz<br />
ihrer Urheberrechte und auf den Schutz vor digitaler<br />
Monopolmacht. Arbeitnehmerinnen und<br />
Arbeitnehmer – und auch Solo-Selbstständige –<br />
haben ein Recht auf gute Arbeit, ein Recht auf<br />
Weiterbildung, auf gerechte Bezahlung und<br />
soziale Sicherheit.<br />
Eine moderne und vorausschauende Wirtschaftspolitik<br />
setzt auf die Kraft der Sozialpartnerschaft.<br />
Sie gehört zu den Markenzeichen des Rheinischen<br />
Kapitalismus in Nordrhein-Westfalen. Sie war<br />
eine Voraussetzung für den Erfolg des Modells<br />
Deutschland, und sie wird einer der Gründe sein,<br />
warum die besten Produkte der Industrie 4.0 die<br />
Aufschrift „Made in Germany“ tragen werden.<br />
Nur durch eine enge Sozialpartnerschaft wird es<br />
uns gelingen, die Wirtschaft 4.0 um eine menschliche<br />
Arbeitswelt 4.0 zu erweitern.<br />
Die Unternehmen und Beschäftigten in Nordrhein-Westfalen<br />
können optimistisch in die<br />
Zukunft blicken. Wir werden dafür sorgen, dass<br />
aus den glänzenden Zukunftsaussichten schon<br />
bald eine glänzende Gegenwart wird: durch Vollbeschäftigung,<br />
gute Arbeit und soziale Sicherheit<br />
für alle Menschen in <strong>NRW</strong>.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Das Wirtschaftsland der Zukunft: ein Innovations- und Bildungsland 21<br />
DAS WIRTSCHAFTSLAND<br />
DER ZUKUNFT: EIN INNOVATIONS-<br />
UND BILDUNGSLAND<br />
Am Anfang steht eine Idee:<br />
Räder für Eisenbahnen könnten viel stabiler sein, wenn man sie aus einem einzigen<br />
Stück Stahl herstellt, anstatt sie aus gebogenen Stäben zusammenzuschweißen. Die<br />
Idee funktioniert. Als Alfred Krupp 1853 ein Patent für ein nahtloses und bruchsicheres<br />
Eisenbahnrad anmeldet, beginnt nicht nur die Geschichte eines der erfolgreichsten<br />
Unternehmen Deutschlands. Seine Idee wird zu einem Produkt, das Eisenbahnen<br />
und Stahlerzeugnissen – die Hightechprodukte des 19. Jahrhunderts – einen neuen<br />
Entwicklungsschub verleiht. Es beginnt die Geschichte der Hochindustrialisierung<br />
des Ruhrgebiets. Das Silicon Valley des 19. und 20. Jahrhunderts ist ein Iron Valley,<br />
und es liegt im späteren Nordrhein-Westfalen.<br />
Die technologischen Innovationen<br />
der Industrialisierung lösen eine<br />
ökonomische Revolution aus, die<br />
schließlich in politischen, sozialen<br />
und gesellschaftlichen Umwälzungen<br />
mündet. Die Industrialisierung schafft mit<br />
ihren enormen Produktivitätssteigerungen die<br />
Voraussetzungen für gesellschaftlichen Fortschritt<br />
und für den modernen<br />
Sozialstaat: Immer mehr Menschen<br />
erhalten Zugang zu immer<br />
mehr materiellen und immateriellen<br />
Gütern, die ihnen ein besseres<br />
Leben ermöglichen: Einkommen<br />
und soziale Sicherheit, Wissen und<br />
Bildung, Gesundheit und Mobilität<br />
und schließlich auch politische<br />
Mündigkeit und Demokratie.<br />
Gewiss, der gesellschaftliche Fortschritt folgte<br />
den technologischen und wirtschaftlichen Innovationen<br />
nicht auf dem Fuße. Er musste erst von<br />
der Arbeiterbewegung erkämpft und verteidigt<br />
werden (und daran hat sich bis heute nichts<br />
» MODERNE<br />
WIRTSCHAFTS-<br />
POLITIK MUSS<br />
IMMER AUCH<br />
INNOVA TIONS-<br />
POLITIK SEIN «<br />
geändert). Gleichwohl zeigt uns die Geschichte,<br />
dass Wachstum und Wohlstand, soziale Gerechtigkeit<br />
und Sicherheit maßgeblich von technologischen,<br />
wirtschaftlichen und sozialen Innovationen<br />
abhängig sind. Was schon in der Mitte des<br />
19. Jahrhunderts galt, gilt heute umso mehr: In<br />
einer Zeit, in der Ideen und Wissen die gleiche<br />
Bedeutung zukommt wie Rohstoffen, wenn nicht<br />
gar eine größere, muss moderne<br />
Wirtschaftspolitik immer auch<br />
Innovationspolitik sein.<br />
Innovationspolitik schafft einen<br />
Lebens- und Wachstumsraum für<br />
neue Produkte und Geschäftsmodelle.<br />
Sie hofft nicht einfach<br />
nur auf die Gründung von Startups,<br />
sie fördert sie gezielt. Innovationspolitik<br />
investiert in unabhängige Wissenschaft<br />
und Forschung und vernetzt sie mit<br />
Gründerinnen und Gründern sowie den etablierten<br />
Unternehmen des Mittelstands und des<br />
Handwerks. Sie setzt auf zukunftsweisende<br />
Leitmärkte und sorgt für eine moderne (und
22<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Das Wirtschaftsland der Zukunft: ein Innovations- und Bildungsland<br />
digitale!) Infrastruktur. Die Voraussetzung für<br />
eine starke Wirtschaft ist freilich immer ein herausragendes<br />
Bildungssystem. Bildung ist die<br />
Muttererde, aus der starke Unternehmen, gute<br />
Arbeitsplätze und gesellschaftlicher Fortschritt<br />
emporwachsen. Innovationspolitik investiert in<br />
Kitas, Schulen und Hochschulen, damit es auch<br />
20<strong>30</strong> noch genügend Fachkräfte gibt, die neue<br />
Ideen und Geschäftsmodelle auch umsetzen und<br />
weiterentwickeln können. Das Bildungssystem<br />
in <strong>NRW</strong> wird 20<strong>30</strong> nicht nur für individuelle Bildungserfolge<br />
sorgen, sondern auch für Bildungsgerechtigkeit<br />
und echte Chancengleichheit.<br />
i<br />
LEITMÄRKTE FÜR <strong>NRW</strong><br />
Maschinen- und Anlagenbau und Produktionstechnik<br />
Neue Werkstoffe<br />
Mobilität und Logistik<br />
Informations- und Kommunikationswirtschaft<br />
Energie- und Umweltwirtschaft<br />
Medien und Kreativwirtschaft<br />
Gesundheit und Lifescience<br />
Nicht zuletzt: Ein Lebens- und Wachstumsraum<br />
für erfolgreiche Produkte und Geschäftsmodelle<br />
muss immer auch ein Ort für soziale Innovationen<br />
sein. Dazu zählen gleiche Aufstiegschancen<br />
für Frauen und Männer, neue Arbeitszeitmodelle<br />
für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, neue<br />
Modelle für die soziale Absicherung und die Interessenvertretung<br />
von Arbeitnehmern in neuen<br />
Wissensberufen. Darüber hinaus geht es auch<br />
um Innovationen für mehr Lebensqualität in<br />
unseren Städten und Gemeinden. Denn sie sind<br />
genauso wenig nur „Standorte“ wie ihre Einwohner<br />
nur „Fachkräfte“. Sie sind Menschen, die<br />
ein Zuhause in lebenswerten Gemeinden wollen.<br />
Bei uns in <strong>NRW</strong> werden sie ein Zuhause finden.<br />
TREIBHÄUSER FÜR WACHSTUM<br />
UND BESCHÄFTIGUNG: LEITMÄRKTE UND<br />
INNOVATIONSSYSTEME<br />
Unser Weg zur Vollbeschäftigung führt über<br />
eine Leitmarktstrategie und über regionale<br />
Innovationssysteme. Leitmärkte sind die großen<br />
Wachstumsfelder der Zukunft, weil hier<br />
Produkte und Dienstleistungen zur Bewältigung<br />
der großen gesellschaftlichen Herausforderungen<br />
entwickelt und verkauft werden.<br />
Diese Herausforderungen sind der demografische<br />
Wandel, Klima- und Umweltschutz,<br />
die zunehmende Urbanisierung, Fragen der<br />
Mobilität und eine sichere Energieversorgung.<br />
Die wachsende Nachfrage nach entsprechenden<br />
Produkten und Dienstleistungen regt zu technischen<br />
und sozialen Innovationen an, die auf<br />
Leitmärkten umgesetzt werden. Leitmärkte überlagern<br />
Branchengrenzen und führen zu branchenübergreifendem<br />
Transfer von Wissen und Technologien.<br />
Eine Leitmarktstrategie kom biniert<br />
ebendiese Leitmärkte mit den eigenen wirtschaftlichen<br />
Stärken und Standortvorteilen. Für<br />
Nordrhein-Westfalen lassen sich acht Leitmärkte<br />
identifizieren, auf die sich unsere Wirtschaftsund<br />
Innovationspolitik konzentrieren wird.<br />
Die Leitmarktstrategie geht mit einer aktiven<br />
Innovationspolitik einher. Ihre Aufgabe ist es zunächst,<br />
leistungsstarke Schulen, Hochschulen und<br />
Forschungseinrichtungen zu finanzieren. Wissenschaft<br />
und Forschung an staatlich finanzierten<br />
Institutionen müssen frei und unabhängig<br />
sein. Sie sind allein dem Allgemeinwohl und<br />
dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichtet.<br />
Aber ihre Forschungsleistungen haben auch<br />
einen großen wirtschaftlichen Wert. Das gilt<br />
sowohl für die Grundlagenforschung als auch für<br />
eine anwendungsorientierte Wissenschaft. Ihre<br />
Erkenntnisse – und seien es nur wissenschaftliche<br />
Rand- und Nebenprodukte – sind Initialzündungen,<br />
für neue Ideen, Produkte und Geschäftsmodelle.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Das Wirtschaftsland der Zukunft: ein Innovations- und Bildungsland<br />
23<br />
Durch die Finanzierung seiner Hochschulen und<br />
Wissenschaftseinrichtungen übernimmt der<br />
Innovationsstaat das Risiko teurer Forschungsprojekte,<br />
von denen niemand weiß, ob sie neue<br />
Erkenntnisse bringen oder ob und wann diese<br />
Erkenntnisse praktische Folgen haben werden.<br />
Die Freiheit ergebnisoffener Wissenschaft können<br />
sich Privatunternehmen nicht leisten. Aber<br />
sie können und sollen von ihren Erkenntnissen<br />
profitieren, indem sie von kreativen und findigen<br />
Unternehmerinnen und Gründern aufgegriffen<br />
und in neue Produkte verwandelt werden.<br />
Nichts zeigt die ökonomische Kraft kluger Innovationspolitik<br />
besser als die Entstehungsgeschichte<br />
eines kleinen Geräts, das unser Alltagsleben<br />
in den letzten zehn Jahren stärker<br />
verändert hat als jede andere Technologie. Die<br />
Rede ist vom iPhone. Alle Technologien, die<br />
dieses „Smartphone“ intelligent machen, sind<br />
einst mit Hilfe staatlicher Wissenschaftsförderung<br />
entwickelt worden: Internet, GPS,<br />
Touchscreen oder Spracherkennung. Keine dieser<br />
Technologien wurde von Apple erfunden.<br />
Die Genialität des Steve Jobs und seiner Ingenieure<br />
bestand darin, das enorme Potential<br />
dieser Technologien zu erkennen, sie zusammenzufügen,<br />
weiterzuentwickeln, kinderleicht<br />
bedienbar zu machen und dann auch noch<br />
elegant aussehen zu lassen. Das war eine große<br />
Leistung, keine Frage. Aber sie wurde nur möglich,<br />
weil es zuvor öffentlich finanzierte Grundlagen-<br />
und Anwendungsforschung gegeben<br />
hatte, die mutige Unternehmerinnen und Unternehmer<br />
nutzen konnten.<br />
Wir wollen, dass die „iPhones“ des Maschinenbaus,<br />
der Logistik oder der Energiewirtschaft<br />
aus <strong>NRW</strong> kommen. Deshalb werden wir Nordrhein-Westfalen<br />
zum Vorbild für regionale Innovationssysteme<br />
machen. Wissenschaftliche Innovationen<br />
aus <strong>NRW</strong> werden noch schneller und in<br />
deutlich höherer Anzahl zu einer wirtschaftlichen<br />
Wertschöpfung in <strong>NRW</strong> führen. Innovationssysteme<br />
zeichnen sich durch eine enge Vernetzung<br />
und Kooperation von Unternehmen,<br />
Hochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen,<br />
Kommunen, Politik und Zivilgesellschaft<br />
aus. Hier zirkulieren Ideen und hier<br />
wird Wissen ausgetauscht. Universitäre Patentverbünde<br />
und Patentscouts gehören ebenso zu<br />
diesen Innovationssystemen wie die Förderung<br />
von Studierenden, Wissenschaftlerinnen und<br />
Wissenschaftlern, die mit einer neuen Idee neue<br />
Unternehmen gründen. Diese Netzwerke sind<br />
offen und international vernetzt, aber sie nutzen<br />
eben auch die Vorteile räumlicher Nähe. Einen<br />
hohen Stellenwert hat die Kooperation von Wissenschaftlern<br />
mit kleinen und mittelständischen<br />
Unternehmen. Wir öffnen ihnen mit zugeschnittenen<br />
Förderprogrammen den Zugang zu Wissenschaft<br />
und Forschung.<br />
Durch den gegenseitigen Wissens- und Erfahrungsaustausch<br />
ist <strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong> der deutsche<br />
Innovationsstandort. Leitmärkte und Innovationssysteme<br />
haben sich als Treibhäuser für<br />
Wachstum und Beschäftigung erwiesen. Hier ist<br />
die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft<br />
gelebte Praxis. Die einstigen Berührungsängste<br />
von einigen kleinen und mittleren Unternehmen<br />
spielen keine Rolle mehr, die Gesellschaft<br />
profitiert mehr denn je von wissenschaftlicher<br />
Forschung. Zudem wird <strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong> der Standort<br />
in Deutschland sein, der die bürokratischen<br />
Hürden bei der Vergabe von Fördermitteln für<br />
kleine und mittelständische Unternehmen derart<br />
eingeebnet hat, dass er ein Vorbild für ganz<br />
Deutschland geworden ist.<br />
GESUCHT UND GEFUNDEN:<br />
DIE ALFRED KRUPPS DES 21. JAHRHUNDERTS<br />
Wir warten nicht länger auf die Alfred Krupps<br />
des 21. Jahrhunderts. Wir werden sie gezielt<br />
suchen und fördern. Im Innovationsland <strong>NRW</strong><br />
wird es eine neue Gründerzeit geben. <strong>NRW</strong> wird<br />
zum Gründerland Nr. 1. Denn wir werden für eine<br />
neue Gründerkultur werben und den Wagemut<br />
für einen Sprung in die Selbstständigkeit unterstützen<br />
und sozial besser absichern. In Gründer-
24 KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Das Wirtschaftsland der Zukunft: ein Innovations- und Bildungsland<br />
zentren werden Start-ups auch durch Coachings<br />
und Beratung bei steuer- oder arbeitsrechtlichen<br />
Fragen und in Genehmigungsverfahren unterstützt.<br />
Antrags- und Genehmigungsverfahren<br />
werden vereinfacht, für Gründer überflüssige<br />
Berichts- und Informationspflichten entfallen.<br />
Erfahrenere (IT-)Unternehmer sollen verstärkt<br />
als „Gründungspaten“ gewonnen werden – auch<br />
für Unternehmen in den kreativen Branchen<br />
oder Lifestyle-orientierte handwerksähnliche<br />
Betriebe. Eine Förderung der Machbarkeitserprobung<br />
bereits vor dem eigentlichen Projektantrag<br />
senkt Hürden. Diese Förderung muss insbesondere<br />
auch dem Aufbau, Management und der<br />
Pflege von Open-Source-Projekten zukommen,<br />
deren Bedeutung für Alltagsleben und auch<br />
Wirtschaft zunimmt.<br />
VON DER KITA BIS ZUR WEITERBILDUNG:<br />
BILDUNGSPOLITIK IST INNOVATIONSPOLITIK<br />
Weil Wirtschaftskraft mehr denn je Innovationskraft<br />
voraussetzt, müssen wir dafür sorgen, dass<br />
es in Zukunft – und dem demografischen Wandel<br />
zum Trotz – noch ausreichend arbeitende Menschen<br />
gibt, die für Innovationen sorgen, – seien<br />
es Arbeitnehmer oder Selbstständige. Dass noch<br />
immer die soziale Herkunft über den Bildungserfolg<br />
entscheidet, ist also nicht nur eine Ungerechtigkeit,<br />
es ist auch eine unverantwortliche<br />
Verschwendung von Talenten und Chancen.<br />
Eine vorbeugende Bildungs- und Sozialpolitik ist<br />
immer auch eine kluge Wirtschafts- und Innovationspolitik.<br />
Sie beginnt mit frühkindlicher<br />
Bildung und hört mit dem Hochschulabschluss<br />
noch nicht auf. Wir werden uns auf Bundesebene<br />
für ein Recht auf Weiterbildung und berufliche<br />
Qualifikation für alle Arbeitnehmerinnen und<br />
Arbeitnehmer einsetzen.<br />
Fort- und Weiterbildungen werden sich in<br />
Zukunft stärker an individuellen Qualifizierungsbedürfnissen<br />
und den biografischen Profilen der<br />
Beschäftigten ausrichten, weniger an oft nur vage<br />
spezifizierten Bedürfnissen des aktuellen Arbeitgebers<br />
oder der gerade tagesaktuellen Förderkulisse.<br />
Wir unterstützen den Vorschlag der IG Metall<br />
für einen „Tarifvertrag Qualifizierung“.<br />
Zur Stärkung der lebenslangen Weiterbildung<br />
und des Interesses an neuen Entwicklungen<br />
benötigt die Wissensgesellschaft einen garantierten<br />
stabil verfügbaren, sozial gerechten und<br />
„netzneutralen“ Internetzugang, der so selbstverständlich<br />
sein soll wie ein Post- und Telefonanschluss.<br />
Deshalb werden wir uns für flexible<br />
Weiterbildungsregelungen, insbesondere in Bezug<br />
auf technologische Entwicklungen und<br />
„digitale“ Kompetenzen, einsetzen.<br />
Mit jedem Kind, das wir nicht zurücklassen,<br />
gewinnt unsere Wirtschaft einen Facharbeiter,<br />
eine Ingenieurin oder einen mutigen Unternehmensgründer<br />
mehr. Mit jedem Schulabbruch,<br />
den wir vermeiden, mit jedem jungen Menschen,<br />
dem wir zu einem höheren Bildungsabschluss<br />
verhelfen, und mit jedem Elternteil, dem wir die<br />
Vereinbarung von Familie und Beruf erleichtern,<br />
wird Nordrhein-Westfalen nicht nur gerechter,<br />
sondern auch wirtschaftlich stärker!
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Das Wissenschaftsland <strong>NRW</strong>: Forschung für den Menschen – Lösungen für ein besseres Leben 25<br />
DAS WISSENSCHAFTSLAND <strong>NRW</strong>:<br />
FORSCHUNG FÜR DEN MENSCHEN –<br />
LÖSUNGEN FÜR EIN BESSERES LEBEN<br />
Wir stehen für Innovation, Fortschritt und Internationalität.<br />
Dabei ist immer der Mensch im Mittelpunkt. Wir setzen uns für ein modernes Wissenschaftssystem<br />
ein, das im Dienst des Gemeinwohls steht. Dafür verbindet sozialdemokratische<br />
Innovationspolitik den leistungsstarken Wissenschaftsstandort <strong>NRW</strong> mit den<br />
unterschiedlichen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Lebensentwürfen der Menschen.<br />
Es geht um spürbare Verbesserungen der Lebenswelt – um Fortschritt, der bei den<br />
Menschen ankommt.<br />
<strong>NRW</strong> hat im Jahr 20<strong>30</strong> die dichteste<br />
Wissenschaftslandschaft und eine<br />
Nähe von Wissenschaft und Gesellschaft,<br />
die in Deutschland und<br />
Europa ihresgleichen sucht: Nirgend<br />
wo sonst trifft eine so dichte Wissenschaftslandschaft<br />
auf ein so dichtes Verkehrsnetz, eine<br />
so hohe Bevölkerungsdichte, eine so stark industriell<br />
geprägte Wirtschaft, eine so große gesellschaftliche<br />
Vielfalt und zugleich eine so zentrale<br />
Lage in Europa.<br />
Diese Investitionen lohnen sich: Indem Herausforderungen<br />
unmittelbar erkannt und erforscht,<br />
Lösungen probiert und Anwendungen umgesetzt<br />
werden können, wird diese Innovationskraft zum<br />
Eckpfeiler einer prosperierenden und wachsenden<br />
Wirtschaft, die viele neue, attraktive Arbeitsplätze<br />
in unserem Land schafft. Außerdem entstehen<br />
in diesem „Living Lab“ <strong>NRW</strong>, das aktiv von<br />
uns gefordert und gefördert wird, entscheidende<br />
Beiträge zur Bewältigung der großen gesellschaftlichen<br />
Herausforderungen.<br />
Diese Voraussetzungen nutzen<br />
wir und machen <strong>NRW</strong> zum innovativsten<br />
Wissenschaftsstandort<br />
in Europa. Dabei nutzen wir auch<br />
eine deutliche Steigerung der Ansiedlung<br />
außeruniversitärer Forschungsinstitute<br />
in unserem Land.<br />
Unser Ziel ist es, dass möglichst<br />
viele Innovationen der Zukunft<br />
und die Ideen für die Gesellschaft<br />
im Jahr 20<strong>30</strong> von den Forscherinnen<br />
und Forschern in <strong>NRW</strong> entwickelt werden.<br />
Dafür setzen wir auf eine innovative und vernetzte<br />
Wissenschaftslandschaft, moderne Hochschulcampus<br />
und ein kreatives Forschungsumfeld für<br />
die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.<br />
» INNOVATIONS-<br />
KRAFT WIRD<br />
ZUM ECKPFEILER<br />
EINER PROSPE-<br />
RIERENDEN UND<br />
WACHSENDEN<br />
WIRTSCHAFT«<br />
Im Fokus stehen für uns sowohl<br />
eine starke Grundlagenforschung<br />
als Basis für wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse als auch die mit ihr<br />
verschmelzende anwendungsorientierte<br />
Forschung. Gelebte Transund<br />
Interdisziplinarität wird zur<br />
großen Stärke des Standorts <strong>NRW</strong><br />
und zu einem entscheidenden<br />
Element für die schnelle und<br />
unmittelbare Anwendung von<br />
Forschungsergebnissen in der Praxis. Ein weiterer<br />
Aspekt ist die Stärkung der Fachhochschulen, die<br />
wir weiter ausbauen werden. Sie haben einen<br />
besonders kurzen Draht zur Wirtschaft und können<br />
Lösungen somit oft schnell umsetzen.
26<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Das Wissenschaftsland <strong>NRW</strong>: Forschung für den Menschen – Lösungen für ein besseres Leben<br />
WISSENSCHAFTLICHE ANTWORTEN AUF<br />
DIE GROSSEN HERAUSFORDERUNGEN<br />
Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen<br />
sind bereits jetzt zentraler Bestandteil der<br />
Arbeit der Wissenschaftslandschaft <strong>NRW</strong>. Klimawandel<br />
und Erderwärmung verlangen nach<br />
neuen nachhaltigen Lösungen für den Energieverbrauch<br />
oder die Nutzung von Rohstoffen. Die<br />
Entwicklung nachhaltiger Lebensstile ist eine<br />
Voraussetzung für die Bewältigung von Bevölkerungszuwachs<br />
und Wanderungsbewegungen<br />
auf der Erde.<br />
Die SPD-Landtagsfraktion fühlt sich bei der<br />
Beantwortung der großen weltweiten Herausforderungen<br />
unserer Zeit dem Erbe Willy Brandts<br />
und dem Wert der Einen Welt verpflichtet.<br />
Gerade junge Menschen erwarten, dass Wissenschaft<br />
und Forschung sich diesen Herausforderungen<br />
stellen. Die Wissenschaftslandschaft in<br />
<strong>NRW</strong> leistet 20<strong>30</strong> interdisziplinär und vernetzt<br />
herausragende Arbeit und begreift die Arbeit an<br />
der Lösung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen<br />
als eine ihrer zentralen Fragestellungen.<br />
Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag<br />
zur Zukunftssicherung des Standortes <strong>NRW</strong>. So<br />
ist beispielhaft der Cluster Energie- und Speicherforschung<br />
international sichtbar und prägt die<br />
Wahrnehmung des Landes in der Ära der auslaufenden<br />
Nutzung der Kohle als Primärbrennstoff.<br />
WISSENSCHAFT FÜR EINEN ERFOLGREICHEN<br />
STRUKTURWANDEL – POLITIK FÜR EINE ERFOLG-<br />
REICHE WISSENSCHAFT<br />
<strong>NRW</strong> ist das Land in Europa, in dem erfolgreicher<br />
Strukturwandel besichtigt werden kann.<br />
Die gewonnene Expertise der vergangenen Jahrzehnte<br />
zeigt, dass die Ansiedlung und die Etablierung<br />
von Hochschulen und außeruniversitären<br />
Forschungsinstituten entscheidend sind für die<br />
Bewältigung des Strukturwandels. Dabei ist für<br />
viele Menschen in unserem Land Strukturwandel<br />
immer noch mit der Bewältigung der Krise<br />
der Montanindustrien verbunden. 20<strong>30</strong> werden<br />
wir aber bereits die Folgen des digitalen Strukturwandels<br />
nachhaltig erleben. Unsere Antwort auf<br />
die damit verbundenen Fragestellungen ist eng<br />
mit dem Ausbau und der nachhaltigen Sicherung<br />
der Wissenschaftslandschaft in <strong>NRW</strong> verbunden.<br />
Wir werden deshalb die Wissenschaftslandschaft<br />
in <strong>NRW</strong> nachhaltig sichern.<br />
<strong>NRW</strong> führt den eingeschlagenen Kurs fort und<br />
setzt voll auf Bildung, Wissenschaft und Forschung.<br />
Auch finanziell. Trotz der Notwendigkeit<br />
der Haushaltskonsolidierung werden wir<br />
hier nicht sparen: Ausgaben für Bildung, Wissenschaft<br />
und Forschung sind essentiell wichtig<br />
für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes und<br />
werden deshalb ausnahmslos als Investitionen<br />
betrachtet, die von den Regelungen einer Schuldenbremse<br />
ausgenommen sind.<br />
Wir wirken jedoch auch darauf hin, dass die Rahmenbedingungen<br />
für die Finanzierung dieser<br />
Zukunftsfelder besser werden: Bund und Länder<br />
werden sich auf eine Finanzarchitektur einigen,<br />
die der Bedeutung der Wissenschaft für die<br />
Zukunft unseres Landes gerecht wird. Dies muss<br />
auch die dauerhafte Fortführung der bestehenden<br />
Pakte und eine insgesamt verstetigte Beteiligung<br />
des Bundes an der Finanzierung der Hochschulen<br />
bedeuten. Darüber hinaus wirken wir auf<br />
eine stärker innovationsorientierte Ausrichtung<br />
des EU-Haushalts hin und intensivieren unsere<br />
Unterstützung für die Akteure aus <strong>NRW</strong> bei der<br />
Beantragung europäischer Forschungsförderung.<br />
Neben dem weiteren Ausbau und der Modernisierung<br />
der bestehenden Infrastruktur für Wissenschaft<br />
und Forschung werden wir im Bereich<br />
Bildung und somit auch im Bereich der Hochschulen<br />
investieren. Diese Investitionen stärken<br />
die Zukunftsfähigkeit und Innovationskraft<br />
<strong>NRW</strong>s und tragen dazu bei, dass wir die besonderen<br />
Chancen, die sich aus der intelligenten<br />
Vernetzung von Wissenschaft und der besonderen<br />
Wirtschaftsstruktur unseres Landes ergeben,<br />
nutzen. <strong>NRW</strong> ist ein Industrieland – und wir sind<br />
fest davon überzeugt, dass die Industrie auch
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Das Wissenschaftsland <strong>NRW</strong>: Forschung für den Menschen – Lösungen für ein besseres Leben 27<br />
20<strong>30</strong> noch zentral für <strong>NRW</strong> ist. Durch gezielte,<br />
staatlich finanzierte Programme treibt das Land<br />
die Innovationsfähigkeit und -geschwindigkeit<br />
der gesamten Gesellschaft voran. Die enge Verknüpfung<br />
von Wissenschaft und Gesellschaft<br />
und eine innovationsstarke Wirtschaft sind für<br />
uns die besten Mittel, um den Strukturwandel<br />
unseres Landes zu gestalten und zum Erfolg zu<br />
bringen.<br />
Weil unsere Innovationsstärke in erster Linie auf<br />
den Leistungen der Menschen in <strong>NRW</strong> beruht,<br />
gehören gute Arbeitsbedingungen für Wissenschaftlerinnen<br />
und Wissenschaftler und ein<br />
modernes Wissenschaftssystem für uns untrennbar<br />
zusammen. Ein zentraler Aspekt zum Ausbau<br />
der Innovationskraft unseres Landes ist zudem<br />
die Stärkung von Frauen in der Wissenschaft, die<br />
aktuell noch unterrepräsentiert, deren Fähigkeiten<br />
für einen erfolgreichen Wissenschaftsstandort<br />
aber unverzichtbar sind.<br />
INDUSTRIE 4.0<br />
Intelligente Fabrik<br />
Virtuelles Kraftwerk<br />
GUTE ARBEIT<br />
DIGITALISIERUNG<br />
ENERGIEWENDE<br />
Internet der Dinge<br />
RESSOURCENÖKONOMIE<br />
Fernwärme und<br />
Reststoffnutzung
28<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Aufbruch in das digitale Zeitalter: Die Wirtschaft 4.0 kommt aus <strong>NRW</strong><br />
AUFBRUCH IN DAS DIGITALE ZEITALTER:<br />
DIE WIRTSCHAFT 4.0 KOMMT AUS <strong>NRW</strong><br />
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts treten wir mit der Digitalisierung<br />
in die vierte Phase der Industrialisierung.<br />
Ihre neue Qualität besteht in einer vielfachen intelligenten Vernetzung<br />
von Maschinen, Produkten und Daten. Sie führt zu immensen<br />
Produktivitätssteigerungen – manche Schätzungen gehen von <strong>30</strong> Prozent<br />
und mehr in den kommenden 10 bis 15 Jahren aus.<br />
D<br />
iese Produktivitätssteigerungen<br />
beruhen vor allem auf der Vernetzung<br />
sogenannter intelligenter<br />
Maschinen: Die Maschine bestellt<br />
sich selbst den gerade geforderten<br />
Typ eines Rohlings und tauscht sich selbstständig<br />
mit anderen Maschinen oder Lagersystemen<br />
über verfügbare Kapazitäten aus. Der Rohling<br />
wiederum sagt der Maschine, wie er bearbeitet<br />
werden will. Das Endprodukt sendet kontinuierlich<br />
Daten über seine Verwendung an seinen Hersteller<br />
zurück, damit dieser das Produkt kontinuierlich<br />
anpassen und verbessern kann.<br />
Die „intelligente Fabrik“ verbindet schließlich die<br />
Effizienz der Massenproduktion mit der Qualität<br />
einer individuellen Maßanfertigung. Dabei ist<br />
nicht einmal sicher, ob eine Fabrik in jedem Fall<br />
noch gebraucht wird. Denn der 3D-Druck macht<br />
oft eine physische Lieferung überflüssig. Es<br />
reicht eine über das Netz bereitgestellte „Druckanleitung“<br />
samt Betriebs- und Wartungssoftware<br />
bzw. softwaregesteuerter Betriebs- und<br />
Wartungsdienstleistung.<br />
Handwerker müssen Ersatzteile nicht mehr bestellen,<br />
sondern können Produktionsanleitungen<br />
aus dem Internet verwenden und durch ihren<br />
3D-Drucker selbst herstellen. Auf ihren Datenbrillen<br />
erhalten sie zudem die visualisierten Einbauanleitungen.<br />
Auf Internetplattformen vernetzen sich verschiedene<br />
Soft- und Hardwareanbieter, Produktionsund<br />
Dienstleistungsanbieter, um Wissen und<br />
Kapazitäten zu bündeln und um ihren Kunden<br />
maßgeschneiderte Produkte anbieten zu können.<br />
Gerade kleine und mittlere Unternehmen können<br />
so ihren Vertrieb auf die ganze Welt ausweiten.<br />
Produkte werden aber immer seltener gekauft.<br />
Ihre Nutzung wird über Internetplattformen als<br />
Dienstleistung nachgefragt und bezahlt.<br />
Kurzum: Das „Internet der Dinge“ und der 3D-<br />
Druck bringen neue Geschäftsmodelle hervor.<br />
Neue Zuliefer- und Dienstleistungssektoren entstehen.<br />
Die Grenzen zwischen der virtuellen und<br />
der realen Welt verschwimmen genauso wie die<br />
Grenzen zwischen dem Industriesektor und dem<br />
Dienstleistungssektor. Das sind nur einige Beispiele<br />
einer digitalisierten Ökonomie.<br />
Egal wie wir diese neuen Produktionssysteme<br />
nennen wollen – „Industrie 4.0“, „Internet der<br />
Dinge“ oder wie die Amerikaner „Industrial Internet“<br />
–, ihre weitreichenden Folgen lassen sich<br />
schon allein daran ablesen, dass oft nur von<br />
Maschinen die Rede ist, aber nicht von Menschen.<br />
Muss uns das Sorgen bereiten? Ist das eine<br />
Bedrohung, auch und gerade für Arbeitsplätze in<br />
Nordrhein-Westfalen, dem Industrieland Nr. 1 in<br />
Deutschland und Europa? Was bleibt von unserer
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Aufbruch in das digitale Zeitalter: Die Wirtschaft 4.0 kommt aus <strong>NRW</strong> 29<br />
Privatsphäre, wenn Alltagsgegenstände unseren<br />
Lebenswandel auswerten oder unsere zwischenmenschlichen<br />
Kontakte aufzeichnen? Und was<br />
wird aus unserer Selbstbestimmung, was bleibt<br />
von unserer Kreativität, sollten Maschinen das<br />
Handeln von Arbeitnehmern und Konsumenten<br />
kontrollieren und dirigieren?<br />
i<br />
INDUSTRIE 4 .o UND WIRTSCHAFT 4.o<br />
Die Digitalisierung wird als vierte Phase der Industrialisierung<br />
bezeichnet: die Industrie 4.0.<br />
Die erste Phase begann mit der Erfindung der Dampfmaschine<br />
im 18. Jahrhundert, die die Arbeitskraft von<br />
Menschen und Tieren durch die Kraft der Maschinen<br />
ersetzte. Die explosionsartige Produktivitätssteigerung<br />
der standardisierten Fließband- und Massenproduktion<br />
markierte Anfang des 20. Jahrhunderts den Beginn<br />
der zweiten Phase. Sie wurde in den 1970er Jahren durch<br />
die dritte Phase abgelöst: Automatisierung durch Computer,<br />
Roboter und EDV. Die neue Qualität der Industrie 4.0<br />
sind ihre intelligente Vernetzung über das Internet und<br />
die Auswertung riesiger Datenmengen („Big Data“).<br />
Gemeint ist<br />
1. die intelligente Vernetzung von Maschinen untereinander,<br />
2. die Vernetzung der Maschinen mit ihrer Umwelt durch<br />
Sensoren und Antriebselemente,<br />
3. die Vernetzung der physischen Maschinenwelt mit der<br />
virtuellen Datenwelt des Internets,<br />
4. die intelligente Vernetzung der Maschinen mit ihren im<br />
Gebrauch befindlichen Produkten.<br />
Weil diese Vernetzungen völlig neue Geschäftsmodelle<br />
hervorbringen und die gesamte Wirtschaft, auch Handwerk,<br />
Handel und Dienstleistungen betreffen, spricht man auch<br />
von der Wirtschaft 4.0.<br />
Die Digitalisierung ist also nicht nur eine Frage<br />
der Technologie und der Technologiepolitik. Sie ist<br />
auch eine Herausforderung für die Wirtschafts-,<br />
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, nicht zuletzt<br />
die Bildung und die Bürgerrechte. Wir sind davon<br />
überzeugt, dass die Chancen weit größer als<br />
die Risiken sind und dass die Vorteile der digitalen<br />
Ökonomie ihre Nachteile weit übertreffen.<br />
Vorausgesetzt, wir sind willens und fähig, die<br />
digitale Ökonomie politisch zu gestalten und<br />
für gesellschaftlichen Fortschritt zu nutzen. Wir<br />
müssen die Digitalisierung nicht über uns ergehen<br />
lassen. Wir können sie gestalten und wir<br />
wollen sie gestalten!<br />
Die Geschichte der Industrialisierung zeigt, dass<br />
das möglich ist. Die Antworten auf die politischen<br />
und sozialen Fragen ihrer ersten Phasen<br />
in Deutschland waren die Demokratie und der<br />
Sozialstaat, die betriebliche Mitbestimmung und<br />
das progressive Steuersystem. Erst durch diese<br />
politischen Innovationen wurden die brutalen<br />
Auswüchse des Industriekapitalismus zurückgeschnitten,<br />
seine immensen Produktivitätsgewinne<br />
in Wohlstandsgewinne für alle transformiert<br />
und schließlich der Nutzen technologischer<br />
Innovationen für alle Bürgerinnen und Bürger<br />
zugänglich und erschwinglich.<br />
Das ist die Blaupause für sozialdemokratische<br />
Politik im digitalen Zeitalter. Wir können die<br />
neuen technologischen Möglichkeiten und die<br />
enormen Produktivitätssteigerungen der Digitalisierung<br />
in Wohlstand und in ein besseres Leben<br />
für alle Menschen verwandeln. Tatsächlich werden<br />
die Produktivitätssteigerungen nur die Lücke<br />
verkleinern, die sich bis 20<strong>30</strong> zwischen dem Bedarf<br />
an Arbeitskräften und dem Angebot auftun<br />
wird. Wissenschaftliche Studien gehen davon<br />
aus, dass 20<strong>30</strong> zwei Millionen Arbeitskräfte in<br />
Deutschland fehlen werden. Um trotzdem unsere<br />
Wirtschaftskraft zu erhalten, brauchen wir erstens<br />
ein besseres und gerechteres Bildungssystem,<br />
zweitens bessere Chancen für Frauen im Arbeitsleben<br />
und drittens ein Einwanderungsgesetz.
<strong>30</strong><br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Aufbruch in das digitale Zeitalter: Die Wirtschaft 4.0 kommt aus <strong>NRW</strong><br />
Die große politische Aufgabe der Gegenwart<br />
besteht darin, die Prinzipien, Grundwerte und<br />
Regeln der sozialen Marktwirtschaft in die Ära<br />
der digitalen Wissensökonomie zu überführen.<br />
Der Sozialstaat und die Errungenschaften der<br />
Gewerkschaftsbewegung sind keine Artefakte<br />
einer vergangenen Zeit, sondern die Fundamente<br />
für Wachstum, Wohlstand und Gerechtigkeit im<br />
21. Jahrhundert. Was wir verhindern wollen, ist<br />
die – oft durch das Adjektiv „kreativ“ oder schlicht<br />
durch das englische Wort „disruption“ getarnte –<br />
Zerstörung von sozialen Rechten,<br />
sozialen Sicherheiten, Verbraucher-<br />
und Bürgerrechten.<br />
Im Gegenzug werden wir unsere<br />
Unternehmen durch eine gezielte<br />
Innovationspolitik dabei unterstützen,<br />
zu Weltmarktführern<br />
digitaler Produktionsprozesse,<br />
Dienstleistungen und Produkte<br />
zu werden. Wir werden Initiativen<br />
für Datenschutz und Datensicherheit<br />
auf den Weg bringen und unsere Unternehmen<br />
vor digitaler Monopolmacht schützen.<br />
Digi tale Diaspora wird es 20<strong>30</strong> in <strong>NRW</strong> nicht mehr<br />
geben. An jedem Ort werden Breitbandleitungen<br />
zur Verfügung stehen. Die Übertragungsraten von<br />
Glasfaserkabeln werden der Standard sein.<br />
UNTERNEHMEN ALLER BRANCHEN,<br />
DIGITALISIERT EUCH! INNOVATIONSPOLITIK<br />
FÜR HANDWERK UND MITTELSTAND<br />
Die vielen hundert Weltmarktführer im produzierenden<br />
Gewerbe aus Nordrhein-Westfalen<br />
haben eine ausgezeichnete Ausgangsposition,<br />
um die Ära der digitalen Ökonomie zu ihrer Ära<br />
zu machen. Das gilt im Übrigen auch für den<br />
Handel und das Handwerk. Auch das Handwerk<br />
ist eine Innovationskraft! Doch noch zögern viele<br />
Unternehmen, wenn es um die Erschließung der<br />
neuen Technologien der Industrie und Wirtschaft<br />
4.0 geht. Es fehlt kleineren und mittleren Unternehmen<br />
noch zu oft das Wissen um die Potenziale<br />
des „Internets der Dinge“. Und selbst wenn<br />
» MITTELSTAND<br />
UND HANDWERK<br />
WERDEN WICHTIGE<br />
PARTNER<br />
REGIONALER<br />
INNOVATIONS-<br />
SYSTEME SEIN «<br />
es vorhanden ist, gibt es zu oft keinen Zugang<br />
zu diesen Technologien. Hier schlummert das<br />
Potenzial. Wissenschaftliche Studien, die ansonsten<br />
die Stärken und Chancen unseres Landes<br />
belegen, weisen nach: Bei 70 Prozent der kleinen<br />
und mittleren Unternehmen spielt die Digitalisierung<br />
derzeit nur eine geringe Rolle.<br />
Das muss sich ändern: Wir werden Mittelstandsund<br />
Handwerksinitiativen auf den Weg bringen,<br />
die unseren kleinen und mittleren Unternehmen<br />
Zugang zu den neuen Technologien<br />
verschaffen. Mittelstand<br />
und Handwerk werden wichtige<br />
Partner regionaler Innovationssysteme<br />
in Nordrhein-Westfalen<br />
sein. Es muss zudem mehr Unterstützung<br />
für unseren Mittelstand<br />
auch auf dem Feld der<br />
Online-Vermarktung geben. Eine<br />
die Vermarktung und Kundenkommunikation<br />
erleichternde,<br />
zeitgemäße online-Präsenz von<br />
Mittelständlern und Innovationsnetzwerken aus<br />
<strong>NRW</strong> muss zum Standard werden. Mit Pilotprojekten<br />
werden wir gemeinsame Vermarktungsplattformen<br />
unterstützen.<br />
Generell gilt: Unternehmen aller Branchen, digitalisiert<br />
euch! Aber macht das zusammen mit<br />
euren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern!<br />
Die Erfahrung zeigt: Unternehmen, die ihre Beschäftigten<br />
beim Übergang in die digitale Ökonomie<br />
einbinden und zu Rate ziehen, werden<br />
die enormen Möglichkeiten technologischer<br />
Innova tionen schneller und besser für sich nutzen<br />
können als jene, die glauben, darauf verzichten zu<br />
können.<br />
DIGITALE INFRASTRUKTUR:<br />
DAS GLASFASERNETZ WIRD ZUM STANDARD<br />
Für das Glasfasernetz müssen klare Geschwindigkeits-<br />
und Stabilitätsziele für die Jahre bis<br />
2020 und 20<strong>30</strong> aufgestellt und gegenfinanziert<br />
werden, wo sich der Breitbandausbau für die
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Aufbruch in das digitale Zeitalter: Die Wirtschaft 4.0 kommt aus <strong>NRW</strong> 31<br />
Anbieter nicht rechnet; etwa mit Hilfe von Breitbandbürgerfonds,<br />
so sich tragfähige Modelle<br />
anbieten. Die Einführung der nächsten und übernächsten<br />
Mobilfunkgenerationen muss durch<br />
Forschungsförderung unterstützt werden. Ein<br />
diskriminierungsfreier Internetzugang und Netzneutralität<br />
auch für die Anbieter von Online-Angeboten<br />
müssen als wichtige Aufgabe der Daseinsvorsorge<br />
aufgefasst und geschützt werden.<br />
MADE IN <strong>NRW</strong>: DATENSCHUTZ, DATENSICHER-<br />
HEIT UND DATENMÜNDIGKEIT<br />
Ein Grund für die digitale Zurückhaltung vieler<br />
Unternehmen ist die mangelnde Datensicherheit.<br />
Der Raub von Daten kann ein existentielles<br />
Risiko sein. Auf der anderen Seite entscheiden<br />
Daten – ihr Austausch, ihre Erhebung und Verarbeitung<br />
– heute mehr denn je überwirtschaftlichen<br />
Erfolg. Big Data, also die Verwertung großer<br />
Datenmengen, ist das Rückgrat aller neuen<br />
Geschäftsmodelle und treibt die Entwicklung<br />
jener Technologien und Produkte voran, die unser<br />
Leben verbessern und gesellschaftlichen Fortschritt<br />
versprechen.<br />
Aber dieses Versprechen wird nur dann eingelöst<br />
werden, wenn Daten nicht nur erhoben und ausgewertet,<br />
sondern auch geschützt werden können.<br />
Wenn das nicht der Fall ist, werden unsere<br />
Unternehmen nicht investieren und ihre Wachstumschancen<br />
nicht nutzen können. Cyberspionage<br />
muss, insbesondere im Falle der Industriespionage,<br />
strenger geahndet werden und nach<br />
auch vollstreckbaren Sanktionsformen gegen<br />
ausländische Regierungen muss gesucht werden.<br />
Außerdem wird digitaler Eigentumsschutz<br />
alltägliche Praxis werden müssen. Gleichzeitig<br />
benötigen wir einen gesetzlichen Schutz für<br />
Whistleblower, die Schaden von der Allgemeinheit<br />
abwenden helfen oder durch ihre Veröffentlichungen<br />
demokratische/freiheitsrechtliche Interessen<br />
schützen.<br />
Gegenstand der staatlichen Forschungsförderung<br />
müssen in Zukunft mehr als bisher die<br />
Datensicherheit und der Datenschutz sein.<br />
Wir werden die Entwicklung einer effektiven<br />
Datensicherheitstechnologie fördern, die alle<br />
Unternehmen nutzen und anbieten können,<br />
nicht nur die Big Player der Szene. Des gleichen<br />
Schutzes bedürfen Nutzerkonten, Kundenkonten<br />
und soziale Profile von Privatpersonen.<br />
Cloud-Dienste made in <strong>NRW</strong> sind genauso zu<br />
fördern wie Firewalls, vertrauenswürdige Verschlüsselungsverfahren<br />
oder ein konkurrenzstarker<br />
Virenschutz. Möglicherweise werden<br />
wir neben dem freien Internet auch gesicherte<br />
und separierte Netze brauchen, die kritische<br />
Kommunikation sichern. All das sind Innovationen,<br />
die von Firmen in <strong>NRW</strong> entwickelt, vermarktet<br />
und einem Bundes- oder Landesamt für digitale<br />
Sicherheit zertifiziert werden können. In <strong>NRW</strong><br />
gibt es bereits Forschungseinrichtungen wie das<br />
Horst Görtz Institut für IT-Sicherheit in Bochum.<br />
Kurzum: Eine digitale Sicherheitsindustrie, die<br />
Wissensbestände, Projekte und die Kommunikation<br />
unserer Wirtschaftsunternehmen effektiv<br />
schützt, wird ein Eckpfeiler des Innovationslandes<br />
Nordrhein-Westfalen sein.<br />
ROHSTOFF OPEN DATA<br />
Wir werden die digitale Bereitstellung von offenen<br />
Daten (nicht von privaten Daten) stärker vorantreiben<br />
und streben eine möglichst flächendeckende<br />
Veröffentlichung behördlicher Daten –<br />
insbesondere auch der von den Kommunen ans<br />
Land gemeldeten Daten – über das Landesportal<br />
Open.<strong>NRW</strong> an. Open Data bietet die Chance, dass<br />
sich neue Geschäftsmodelle und Anwendungen<br />
entwickeln, die wirtschaftlichen Nutzen für <strong>NRW</strong><br />
bringen. Daten sind ein Produktionsrohstoff. Bei<br />
Open Data kann hier sogar der Staat zum Rohstoffgeber<br />
für Wertschöpfungen Dritter werden.<br />
Auch wollen wir, dass verstärkt Software mit<br />
freiem Quellcode eingesetzt wird. Zusätzliche<br />
Wettbewerbe und sogenannte Hack-Days sollen<br />
Programmiererinnen und Programmierer dazu<br />
ermuntern, aus diesen Daten nützliche Anwendungen<br />
für die Allgemeinheit zu erstellen.
32<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Aufbruch in das digitale Zeitalter: Die Wirtschaft 4.0 kommt aus <strong>NRW</strong><br />
SCHUTZ VOR DIGITALER MONOPOLMACHT<br />
UND DIE STANDARDS DER WIRTSCHAFT 4.0<br />
„Stellen Sie sich vor, Sie leben im Jahr 1913 und<br />
die Post, die Telefongesellschaft, die Stadtbibliothek,<br />
die Druckereien, die Vermessungsbehörde,<br />
die Kinos und die Landkartenhersteller befinden<br />
sich alle in der Hand eines undurchsichtigen<br />
Unternehmens, das der Öffentlichkeit keinerlei<br />
Rechen schaft schuldig ist“, schreibt Rebecca Solnit<br />
über Googles Monopolmacht. „Wenn Sie ein<br />
Jahrhundert nach vorn springen, dann ist heute<br />
im Internet mehr oder weniger genau das der<br />
Fall.“ „Wäre er heute am Leben“, schreibt Richard<br />
Sennett über den amerikanischen Präsidenten<br />
Theodore Roosevelt (der vor 100 Jahren u. a.<br />
Standard Oil zerschlug), „dann würde er seine<br />
Kanonen auf Google, Apple, Facebook, Amazon<br />
und Microsoft richten.“<br />
Ob eine Zerschlagung dieser Monopolisten und<br />
Oligopolisten tatsächlich einmal notwendig sein<br />
wird, bleibt abzuwarten. Zunächst ist festzuhalten:<br />
Marktbeherrschende Unternehmen müssen<br />
sich strengeren Regeln und Kontrollen unterwerfen,<br />
als es auf einem Kunden- und Nutzermarkt<br />
der Fall wäre.<br />
Die jüngere Geschichte der Industrialisierung<br />
zeigt jedenfalls, dass es technologische Normen<br />
und Standards sind, durch die neue Märkte und<br />
Produktivitätspotentiale erschlossen werden<br />
können. Wer die Standards setzt, der macht die<br />
Spielregeln und der hat das Sagen. Wenn wir<br />
verhindern wollen, dass unsere Maschinen- und<br />
Anlagenbauer, unsere Chemie- oder Logistikunternehmen<br />
zu Vasallen von digitalen Lehnsherren<br />
absteigen (gemeint sind natürlich die bekannten<br />
Internetgiganten), dann müssen die Standards<br />
der Industrie 4.0 aus Europa, Deutschland und<br />
Nordrhein-Westfalen kommen. Mit Unterstützung<br />
der Politik muss es gelingen, ein industrielles<br />
Betriebssystem „Mittelstand 4.0“ zu etablieren.<br />
Das gilt erst recht im Hinblick auf die Normen<br />
und Standards digitaler Handelsplattformen, die<br />
für die Vernetzung und den Vertrieb industrieller<br />
Produkte und Dienstleistungen in Zukunft die<br />
gleiche Bedeutung haben werden wie Amazon,<br />
iTunes oder Google schon heute für den Konsumentenmarkt.<br />
DIE ZWILLINGSSCHWESTERN DER<br />
DATENSICHERHEIT: DATENSCHUTZ UND<br />
DATENMÜNDIGKEIT<br />
Viele Innovationen der digitalen Ökonomie beruhen<br />
auf der – mehr oder minder – freiwilligen<br />
„Zuarbeit“ der Konsumenten, also auf der Auswertung<br />
des Nutzungsverhaltens von intelligent<br />
vernetzten Maschinen und Produkten. Wenn<br />
zum Beispiel der anfallende Müll digital erfasst<br />
und ausgewertet wird, kann das die Effizienz des<br />
Recyclings steigern und dem Umweltschutz dienen.<br />
Wenn aber der anfallende Müll einem Menschen<br />
individuell zugeordnet werden kann, wie<br />
hoch ist dann das Risiko, dass seine Kranken- oder<br />
Lebensversicherung von zu viel Cola-Dosen oder<br />
Schokoladenverpackungen erfährt, die ihr Grund<br />
genug sind, die Beiträge zu erhöhen?<br />
Im digitalen Zeitalter ist die Privatsphäre ein geschützter<br />
Raum, in dem wir Informationen über<br />
uns selbst aufbewahren. Manchen Menschen<br />
gewähren wir Zugang zu diesen Informationen,<br />
anderen nicht. Wir entscheiden selbst! Die Privatsphäre<br />
schützt unsere individuelle Freiheit. Denn<br />
frei zu sein, bedeutet eben auch, einen privaten<br />
Ort zu haben, an dem man mit seinen Gedanken<br />
und dem, was man tut und versucht, allein sein<br />
kann, ohne den Manipulationsversuchen politischer<br />
oder ökonomischer Interessen ausgesetzt<br />
zu sein. Deshalb ist es kein Zufall, dass im Kanon<br />
der individuellen Grundrechte die politischen<br />
Beteiligungsrechte (freie Entfaltung der Persönlichkeit,<br />
Meinungs-, Versammlungs- und<br />
Religions freiheit) an der Seite der Rechte zum<br />
Schutz der Privatsphäre stehen.<br />
Die Privatsphäre eines Menschen ist unverkäuflich.<br />
Entsprechende Geschäftsmodelle, insbesondere<br />
bei Versicherungen und Dienstleistungen der<br />
Daseinsvorsorge, die Preisnachlässe gegen die
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Aufbruch in das digitale Zeitalter: Die Wirtschaft 4.0 kommt aus <strong>NRW</strong> 33<br />
Übermittlung persönlicher Daten (z. B. Körperfunktionen,<br />
Gesundheitsdaten, Fahrverhalten)<br />
vorsehen, sind zu verbieten. Auch der Ausschluss<br />
von Versicherungen aufgrund der Verweigerung<br />
einer kontinuierlichen Übermittlung persönlicher<br />
Daten ist zu untersagen. Denn die Unterschiede<br />
zwischen Bonus-, Standard- und Strafpreisen<br />
sind nur eine Frage der kritischen Masse. Bonuspreise<br />
verwandeln sich schnell in Standardpreise,<br />
Standardpreise schnell in Strafpreise, und damit<br />
wird die theoretische Freiwilligkeit zu einem praktischen<br />
Zwang.<br />
Jeder Mensch hat das Recht, selbst zu bestimmen,<br />
welche Daten über ihn gespeichert, ausgewertet<br />
und weitergegeben werden. Bevor dies<br />
geschieht, muss er zustimmen, und zwar nicht<br />
nur durch einen einzigen Ja-Nein-Klick am Ende<br />
seitenlanger allgemeiner Geschäftsbedingungen.<br />
Jeder Nutzer muss kontinuierlich und über<br />
höherschwellige Verfahren seine Zustimmung<br />
geben. Bestehende Datenschutzgesetze müssen<br />
im Internet stärker als bisher durchgesetzt werden.<br />
Bei Verstößen sind empfindliche Strafen zu<br />
verhängen.<br />
Jeder Nutzer ist regelmäßig über die von ihm<br />
gespeicherten Daten und Datenauswertungen<br />
zu informieren. Der Gesetzgeber muss zudem<br />
einen Rahmen setzen, der festlegt, welche Daten<br />
gesammelt und zu welchen Zwecken sie ausgewertet<br />
werden dürfen.<br />
Regeln wir das Internet den Prinzipien des demokratischen<br />
Rechtsstaates unterwerfen können.<br />
Wir werden es jedenfalls nicht hinnehmen, dass<br />
es die großen Internetkonzerne sind, die die<br />
Normen unseres Zusammenlebens festlegen,<br />
Datenschutz definieren und die Grenzen unserer<br />
Privatsphäre bestimmen. Denn all das dürfen nur<br />
die Bürgerinnen und Bürger selbst, durch Wahlen<br />
und Abstimmungen.<br />
Staatliche Regeln und marktwirtschaftliche<br />
Steuerung sind wichtige Elemente, um die Digitalisierung<br />
für gesellschaftlichen Fortschritt zu<br />
nutzen. Ihre Wirkungsmacht ist aber nicht unbegrenzt.<br />
Jeder einzelne Mensch hat das Recht und<br />
auch die Verantwortung, seine Privatsphäre und<br />
die seiner Mitmenschen zu schützen. Wir setzen<br />
auf Aufklärung – und zwar im allerbesten Sinne<br />
des Immanuel Kant: als Ausgang des Menschen<br />
aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.<br />
Jeder Mensch muss wissen, wie digital vernetzte<br />
Kommunikationstechnologie im Grundsatz funktioniert,<br />
was mit seinen Daten passieren kann<br />
und wie er verantwortungsvoll mit seinen Daten<br />
umgehen kann. Je mehr wir in die Daten- und<br />
Risikomündigkeit investieren, desto besser werden<br />
wir als Bürgerinnen und Bürger die Vor- und<br />
Nachteile von neuen Technologien und Geschäftsmodellen<br />
für uns und andere bewerten<br />
können.<br />
Die Antwort auf die soziale Frage der industriellen<br />
Revolution war der demokratische Sozialstaat.<br />
Und er ist auch die Antwort auf die neuen<br />
sozialen Fragen der digitalen Ökonomie. Die prinzipielle<br />
Antwort auf die Frage nach dem Erhalt<br />
von Demokratie, Datenschutz, Verbraucherrechten<br />
und Privatsphäre im digitalen Zeitalter kennen<br />
wir ebenfalls schon lange: Es ist der demokratische<br />
Rechts- und Verfassungsstaat. Statt zu<br />
fragen, wie wir unsere Bürgerrechte an das Internet<br />
anpassen (und was von ihnen übrig bleiben<br />
kann), sollten wir uns besser fragen, mit welchen
34<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Gute Arbeit in einer gerechten und menschlichen Arbeitswelt!<br />
GUTE ARBEIT IN EINER<br />
GERECHTEN UND MENSCHLICHEN<br />
ARBEITSWELT!<br />
Die intelligente Fabrik des “<br />
Internets der Dinge“ wird keine menschenleere Fabrik sein.<br />
Zudem entstehen mit neuen Geschäftsmodellen, Dienstleistungs- und Zuliefersektoren<br />
auch neue Arbeitsplätze. Aber natürlich wird die Digitalisierung die Arbeitswelt und<br />
den Arbeitsmarkt verändern. Die Arbeitsorganisation wird dezentraler und die Aufgaben<br />
der Beschäftigten werden komplexer und auch anspruchsvoller. Das stellt ganz neue<br />
Anforderungen an ihre Qualifikation.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Gute Arbeit in einer gerechten und menschlichen Arbeitswelt! 35<br />
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />
werden als Entscheider<br />
und Problemlöser gefragt sein,<br />
denn die digitale Produktion ist<br />
nicht störungsresistent. Auch soziale<br />
Kompetenzen erlangen einen höheren Stellenwert,<br />
weil mit der Verzahnung einst getrennter<br />
Abteilungen und Aufgaben der Bedarf an zwischenmenschlicher<br />
Kommunikation zunimmt.<br />
Entgegen vielen Befürchtungen wird klar: Mehr<br />
zwischenmenschliche Kommunikation ist in der<br />
digitalen Fabrik gefragt, nicht weniger. Technik<br />
und Arbeitsgestaltung müssen zusammengedacht<br />
und zusammengebracht<br />
werden. Die Menschen müssen<br />
die Systeme steuern, nicht umgekehrt.<br />
Bei allen Unterschieden zwischen<br />
den frühen Phasen und<br />
der jetzt angebrochenen vierten<br />
Phase der Industrialisierung<br />
gibt es doch eine Herausforderung,<br />
die ihnen gemein ist: die<br />
Beteiligung aller Menschen an<br />
den Wohlstandsgewinnen durch immense Produktivitätssteigerungen.<br />
Wir setzen uns für eine<br />
Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />
an den Produktivitätsfortschritten ein.<br />
Schlägt sich der Produktivitätsgewinn auch in<br />
steigenden Löhnen nieder, könnte das jährliche<br />
Wirtschaftswachstum um bis zu ein Prozent höher<br />
ausfallen und in Deutschland zusätzlichen<br />
Wohlstand von mehr als 100 Milliarden Euro<br />
jährlich schaffen. Es lohnt, sich jedenfalls daran zu<br />
erinnern, was schon Henry Ford wusste: „Autos<br />
kaufen keine Autos.“ Im Zeitalter der digitalen<br />
Ökonomie werden zwar Maschinen mit Maschinen<br />
kommunizieren. Sie werden sich aber nicht<br />
gegenseitig kaufen und bezahlen. Mit anderen<br />
Worten: Auch in der neuen Welt der digitalen<br />
Ökonomie stellen sich die klassischen Fragen<br />
nach einer gerechten Verteilung von Gewinnen,<br />
der Schaffung von Kaufkraft, nach angemessenen<br />
Arbeitszeiten und nach den Bedingungen sozialer<br />
Sicherheit.<br />
» VOLLBESCHÄF-<br />
TIGUNG IN GUTER<br />
ARBEIT IST DAS<br />
KERNZIEL SOZIAL-<br />
DEMOKRATISCHER<br />
WIRTSCHAFTS-<br />
POLITIK «<br />
VOLLBESCHÄFTIGUNG UND GUTE ARBEIT<br />
FÜR NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
Die Voraussetzung für Selbstbestimmung ist<br />
gute Arbeit. Nur durch sie können Menschen am<br />
gesellschaftlichen Leben teilhaben, ihre Fähigkeiten<br />
und Interessen verwirklichen, sozial aufsteigen<br />
und im Austausch mit anderen Verbundenheit<br />
und Bestätigung finden. Gute Arbeit<br />
bedeutet interessante, gut bezahlte und sozial<br />
abgesicherte Arbeit in einem toleranten, gesundheitsfördernden<br />
und familienfreundlichen Umfeld,<br />
bei der die Menschen über Prozesse und das<br />
Ergebnis mitbestimmen.<br />
In einer sozialen Marktwirtschaft<br />
bedarf es neben Innovationen<br />
auch Interessenausgleich<br />
und Kooperation, um gute Arbeit<br />
und Selbstbestimmung – auch<br />
der Schwächeren – zu ermöglichen.<br />
Im Mittelpunkt dieses<br />
kooperativen Ausgleichs von<br />
Interessen stehen die humane<br />
Ausgestaltung der Arbeit und<br />
die gerechte Verteilung der Produktivitätsgewinne<br />
in Institutionen und Unternehmen.<br />
Vollbeschäftigung in guter Arbeit zu<br />
erreichen, ist daher das Kernziel sozialdemokratischer<br />
Wirtschaftspolitik.<br />
DIE ZUKUNFT GEHÖRT DER MITBESTIMMUNG<br />
UND DER SOZIALPARTNERSCHAFT<br />
Kreativität, Erfindergeist, Problemlösungskompetenz<br />
und Kooperationswille der Menschen sind<br />
die Grundlagen für soziale und technologische<br />
Innovationen. Wirtschaftlicher Erfolg – erst recht<br />
in der digitalen Wissensökonomie – entsteht<br />
aus dem Fachwissen, den sozialen Kompetenzen<br />
und der Kreativität gut ausgebildeter Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer. Ohne sie gibt es<br />
keine Innovationen, keine wirtschaftliche Dynamik<br />
und keinen Fortschritt. Es liegt im ureigenen<br />
Interesse der Unternehmen, eine humane digitale<br />
Arbeitswelt gemeinsam mit ihren Beschäftigten<br />
und den Gewerkschaften zu gestalten.
36<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Gute Arbeit in einer gerechten und menschlichen Arbeitswelt!<br />
Nur so werden die Unternehmen in <strong>NRW</strong> trotz<br />
des demografischen Wandels dauerhaft ausreichend<br />
motivierte Fachkräfte mit ihrem Knowhow<br />
(er)halten und neu gewinnen können.<br />
Im Zeitalter der Digitalisierung bietet betriebliche<br />
Mitbestimmung enorme Chancen, das im<br />
Unternehmen vorhandene Wissen und Können<br />
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu<br />
heben. Der Einsatz neuer Technologien erlaubt<br />
umfassende Transparenz und Information und<br />
vereinfacht demokratische Beteiligungsverfahren.<br />
Unternehmen mit Mitbestimmung sind<br />
häufig nicht nur die attraktiveren Arbeitgeber.<br />
Die Erfahrungen aus der Wirtschaftskrise nach<br />
2008 lehren auch: Mitbestimmung und Gewerkschaften<br />
helfen, in schwierigen Situationen gemeinsame<br />
Lösungen zu finden.<br />
Die gut ausgebildeten Fachkräfte von heute<br />
und morgen wollen gehört werden und mitentscheiden.<br />
Kommandowirtschaft<br />
von Vorständen, die in<br />
kurzen Abständen Unternehmen<br />
wechseln und sich weder<br />
mit dem regionalen Unternehmensumfeld<br />
noch mit seinen<br />
Stakeholdern (v. a. den Belegschaften)<br />
identifizieren, ist langfristig<br />
Gift für Motivation und<br />
Produktivität. Viele Unternehmen<br />
in <strong>NRW</strong> leben dagegen eine<br />
Kultur des Miteinanders und<br />
des Ausgleichs auf Basis von<br />
betrieblicher Mitbestimmung,<br />
Tarifpartnerschaft und sozialer Verantwortung.<br />
Die neuen Möglichkeiten der digitalen Ökonomie<br />
werden dann erfolgreich in den Unternehmen<br />
zu Produktivitätssteigerungen und Innovationen<br />
führen, wenn auch die Beschäftigten mit ihrem<br />
Können und ihren Bedürfnissen beteiligt werden<br />
und an den wirtschaftlichen Erfolgen teilhaben.<br />
»STARKE<br />
GEWERKSCHAFTEN<br />
SIND DER<br />
GARANT FÜR<br />
WOHLSTANDS-<br />
GEWINNE DER<br />
ABHÄNGIG<br />
BESCHÄFTIGTEN«<br />
STARKE GEWERKSCHAFTEN UND NEUE<br />
FORMEN DER INTERESSENVERTRETUNG FÜR<br />
ARBEITNEHMER UND SOLO-SELBSTSTÄNDIGE<br />
Nach wie vor gilt: Starke Gewerkschaften sind<br />
der Garant für Wohlstandsgewinne für abhängig<br />
Beschäftigte. Ihre Rechte werden wir schützen<br />
und, wo erforderlich, die Rechte von Betriebsräten<br />
ausbauen. Allerdings: Die Auflösung von<br />
Betriebs- und Branchenstrukturen und die Zergliederung<br />
in z. T. global verteilte Arbeitsprozesse<br />
erschwert die klassische Arbeitnehmervertretung.<br />
Die Machtungleichgewichte zwischen Beschäftigten<br />
und global agierenden Unternehmen<br />
erfordern jedoch auch und gerade für die digitale<br />
Arbeit 4.0 eine gemeinsame Interessenvertretung<br />
der Beschäftigten sowie Absicherung und<br />
Regulierung. Hier bedarf es neuer Formen der<br />
Interessenvertretung, die den veränderten Bedingungen<br />
der neuen Arbeitswelt gerecht werden.<br />
Mit ihr können Sozialversicherungen und<br />
gesetzlicher Gesundheits- und Arbeitsschutz<br />
so gestaltet werden, dass sie in<br />
dieser neuen Arbeitswelt (z. B.<br />
Crowdworking, Projektarbeit,<br />
Selbstständigkeit, Vereinbarkeit<br />
von Familie und Beruf, flexible<br />
Arbeitszeiten und -orte, Sicherheit<br />
und Stabilität bieten.<br />
Nach dem Vorbild des Saarlands<br />
und Bremens werden wir in enger<br />
Abstimmung mit den Gewerkschaften<br />
eine Arbeitnehmerkammer<br />
einrichten, die eine<br />
politische Interessenvertretung<br />
unabhängig von einer Organisation im Betrieb<br />
oder Arbeitsverhältnis von Solo-Selbstständigen<br />
sicherstellt. Sie bietet Beratung, Informationen,<br />
übernimmt Aufgaben im politischen Lobbying<br />
sowie bei der Politik- und Gewerkschaftsberatung<br />
und organisiert berufliche Weiterbildung.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Gute Arbeit in einer gerechten und menschlichen Arbeitswelt! 37<br />
VON DER ARBEITSLOSENVERSICHERUNG ZU<br />
EINER MODERNEN ARBEITSVERSICHERUNG<br />
Wir werden uns im Bund dafür starkmachen,<br />
die Arbeitslosenversicherung zu einer modernen<br />
Arbeitsversicherung auszubauen, die die Flexibilität<br />
und Dynamik einer neuen Arbeitswelt und<br />
den Mut zur beruflichen Weiterentwicklung (als<br />
Gründer, in einem neuen Beruf oder mit neuen<br />
Technologien am bisherigen Arbeitsplatz) durch<br />
neue Sicherheit schützt und stärkt. Notwendig<br />
sind ferner eine leistungsfähige Arbeitsvermittlung<br />
und zielgruppenspezifische Angebote.<br />
Die Arbeitsagenturen sollen in „Agenturen für<br />
Arbeit und Qualifizierung“ umgebaut werden.<br />
Online vollständig nutzbare Arbeitsplatzbörsen<br />
sollen für den Arbeitseinstieg von Flüchtlingen<br />
oder Langzeitarbeitslosen eröffnet werden. In<br />
Nordrhein-Westfalen geht die Landesregierung<br />
bereits mit gutem Beispiel voran.<br />
EIN SOZIALER ARBEITSMARKT GEGEN<br />
LANGZEITARBEITSLOSIGKEIT<br />
Wir wissen, dass nicht alle Betroffenen aus der<br />
Langzeitarbeitslosigkeit geholt werden können.<br />
Damit sich dieser Zustand nicht über Generationen<br />
verfestigt, werden wir in Nordrhein-Westfalen<br />
einen sozialen Arbeitsmarkt aufbauen. Er wird<br />
Möglichkeiten zur dauerhaft geförderten öffentlichen<br />
Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen<br />
schaffen. Soziale Berufe sowie Dienstleistungen<br />
und Hilfstätigkeiten werden im Sinne gemeinwohlorientierter<br />
Arbeitsmarktprojekte gefördert<br />
und auskömmlich entlohnt. Ein weiteres Aufgabenfeld<br />
im Allgemeininteresse ist die (manuelle)<br />
Arbeit im Naturschutz, etwa das ökologische Monitoring<br />
oder die Aufforstung in Stadt und Land<br />
zum CO 2<br />
-Ausgleich und zur Erhöhung der Lebensqualität.<br />
Hierzu sollen Modellprojekte in <strong>NRW</strong><br />
als Pionierland durchgeführt werden.
38<br />
KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Neue Energie: der Fortschrittsmotor für Nordrhein-Westfalen<br />
NEUE ENERGIE:<br />
DER FORTSCHRITTSMOTOR FÜR<br />
NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
Wir werden die Energiewende als Fortschrittsmotor nutzen.<br />
Wir in <strong>NRW</strong> werden die „Erstanwender“ neuer Energietechnologien und Effizienzpraktiken<br />
sein. Wir sichern uns Wettbewerbsvorsprünge und neue Exportchancen.<br />
Im Jahr 20<strong>30</strong> wird unsere Energieversorgung bereits sehr weit nach dem aussehen,<br />
was vor wenigen Jahren noch Science-Fiction zu sein schien: Virtuelle Kraftwerke<br />
und „smarte“ Stromnetze werden große und kleine Energieverbraucher und Energieerzeuger<br />
vernetzen und zwischen Angebot und Nachfrage eine Balance herstellen –<br />
bundes- und auch europaweit.<br />
Das virtuelle Kraftwerk bedeutet<br />
nichts anderes als die Möglichkeit,<br />
die vielen tausend lokalen Anlagen<br />
zur Erzeugung von regenerativer<br />
Energie so effektiv zusammenzufassen<br />
und den Strom so problemfrei an<br />
die vielen tausend lokalen Verbraucher in <strong>NRW</strong><br />
weiterzugeben wie aus einem imaginären „landesweiten“<br />
Großkraftwerk heraus. Stromüberangebote<br />
werden durch neue Speicher, etwa eine<br />
Wasserstoffinfrastruktur, Fernwärmeerzeugung<br />
oder synthetische Kraftstoffe für den Verkehr,<br />
aufgefangen und wieder in unser Stromnetz<br />
eingespeist. Steht die „erneuerbare“ Infrastruktur<br />
zur Stromerzeugung erst einmal und ist sie<br />
intelligent mit dem Wärme- und Treibstoffbereich<br />
vernetzt, werden wir fossile Energieträger<br />
nur noch zur Grundlastsicherung oder zum Stahlkochen<br />
benötigen.<br />
Die heute nötigen Investitionen werden sich<br />
20<strong>30</strong> schon lange amortisiert haben. Und das<br />
soziale Problem der Energiearmut, das für ein<br />
starkes Land wie <strong>NRW</strong> inakzeptabel ist, können<br />
wir genau mit diesen Mitteln auch lösen: mit erneuerbarer<br />
Energie, die 25 Jahre lang umsonst<br />
aus den Solarpaneelen und Windrädern kommt,<br />
mit günstiger öffentlicher Mobilität, aber auch<br />
dadurch, dass wir heute die Möglichkeiten zu<br />
energieeffizienten Lebens- und Wirtschaftsweisen<br />
schaffen. Letztendlich werden Energieund<br />
Ressourceneffizienz als Innovationstreiber<br />
wirken, nicht die Klimaschutzziele selbst.<br />
Das Industrieland Deutschland hat mit der Energiewende<br />
eine weltweite Pionierrolle übernommen.<br />
Sie erfordert die größte wirtschafts- und<br />
industriepolitische Transformationsleistung in<br />
der Geschichte des Landes. Wenn die Energiewende<br />
in Deutschland gelingen soll, muss sie<br />
in Nordrhein-Westfalen gelingen, dem Energieland<br />
Nr. 1 der Republik. Im Jahr 2013 betrug<br />
die nordrhein-westfälische Stromproduktion<br />
175 Mrd. kWh, etwa 27 Prozent der bundesweiten<br />
Stromerzeugung. Gemessen an der Wirtschaftsleistung<br />
mit 21,7 Prozent des bundesweiten Bruttoinlandsprodukts<br />
und seinem Bevölkerungsanteil<br />
von 21,4 Prozent ist damit die Stromproduktion<br />
von überdurchschnittlicher Bedeutung für <strong>NRW</strong>.<br />
Das deutsche Klimaziel, die CO 2<br />
-Emissionen um<br />
40 Prozent bis zum Jahr 2020 im Vergleich zum<br />
Jahr 1990 zu reduzieren, ist nur zu erreichen, wenn<br />
<strong>NRW</strong> sein Ziel einer Reduktion von 25 Prozent
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Neue Energie: der Fortschrittsmotor für Nordrhein-Westfalen 39<br />
Zwischenspeicher und<br />
Kaskadennutzung Energie<br />
Effizienzoptimierung<br />
Hoher Anteil<br />
erneuerbarer<br />
Energieträger<br />
H 2<br />
CH 4<br />
Neue<br />
Treibstoffe<br />
Mobilität/<br />
Neue<br />
Verkehrskonzepte<br />
Synthetische<br />
Kraftstoffe<br />
H 2 -Mobilität<br />
Gewerbliche<br />
Verbraucher<br />
und Erzeuger<br />
von Energie<br />
VIRTUELLES KRAFTWERK<br />
EFFIZIENZ & FLEXIBILITÄT<br />
Einspeisung ins<br />
Erdgasnetz<br />
Anteil fossiles Gas<br />
für Haushalte<br />
Elektromobilität<br />
Gesicherte<br />
Energie<br />
Flexible fossile<br />
Kraftwerke<br />
KWK<br />
Fernwärme<br />
Biogas<br />
Kaskadennutzung<br />
CO 2 Biomasse<br />
Solardächer<br />
BHKW<br />
Bauten<br />
Haushalte sind<br />
auch Erzeuger<br />
von Energie<br />
Braunkohle<br />
Synthesegas (Chemie)<br />
Olefine, Polymere<br />
Dünger (Agrochemie)<br />
Pharmazeutika<br />
Synthetische Kraftstoffe<br />
erfüllt. Dafür haben wir bereits die Weichen gestellt.<br />
Zugleich muss die Energiewende aus ihrem<br />
Grundgedanken heraus notwendigerweise in<br />
eine gesamteuropäische, zumindest aber nachbarschaftliche<br />
Vernetzung von Stromerzeugung<br />
und -nutzung münden. Auch hier gehen wir in<br />
<strong>NRW</strong> vorweg. Wir prüfen mit unseren Partnern in<br />
Belgien Möglichkeiten, das belgische Stromnetz<br />
mit unserem zu verbinden und mit Hilfe unseres<br />
zukünftigen Smart Grid auch dort Versorgungssicherheit<br />
herzustellen – nicht zuletzt, um die<br />
hochgefährlichen Pannen- und Bröckelmeiler in<br />
Tihange und Doel möglichst bald vom Netz nehmen<br />
zu können.<br />
Wir setzen uns in Nordrhein-Westfalen für eine<br />
moderne Energiewirtschaft ein, die verlässlich<br />
sauberen und bezahlbaren Strom für Privatkunden<br />
und Wirtschaft liefert, insbesondere für<br />
die energieintensive Industrie.<br />
DIE ROTE ENERGIEWENDE:<br />
SICHER, SAUBER UND BEZAHLBAR<br />
Die Energiewende in Deutschland und vor allem<br />
in Nordrhein-Westfalen hat eine neue Phase<br />
erreicht. Gerade in der Zeit bis zur Abschaltung<br />
der letzten Kernkraftwerke 2022 entsteht für<br />
Deutschland ein großer Handlungsbedarf, der in<br />
Nordrhein-Westfalen nicht zu Strukturbrüchen<br />
führen darf, sondern als Chance für die Verbesserung<br />
unserer Wettbewerbsfähigkeit genutzt<br />
werden muss. Längst geht es nicht mehr um<br />
einen Konkurrenzkampf zwischen erneuerbaren<br />
und konventionellen Energien, sondern um die<br />
effiziente Vernetzung des Gesamtsystems, in<br />
dem die Erneuerbaren Energien bereits die dominante<br />
und weiter wachsende Rolle spielen. Auch<br />
wenn der Anteil der fossilen Energieerzeugung<br />
immer weiter sinkt, brauchen wir effiziente und<br />
flexible Kraftwerke als Ergänzung noch so lange,<br />
bis Stromspeicher und intelligente Netze diese
40 KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Neue Energie: der Fortschrittsmotor für Nordrhein-Westfalen<br />
Rolle vollständig übernehmen können. Dieses<br />
Miteinander kostengünstig und effizient zu<br />
organisieren, ist eine Aufgabe, der wir uns in<br />
Nordrhein-Westfalen stellen.<br />
Wir werden Nordrhein-Westfalen als Industrieland<br />
4.0 und als den zentralen Versorgungssicherheitsgaranten<br />
für Deutschland und Europa<br />
gestalten. Wettbewerbsfähige Energiepreise und<br />
eine sichere Energieversorgung stehen in einem<br />
untrennbaren Zusammenhang mit der industriellen<br />
Wertschöpfung, die unser Land auszeichnet.<br />
Denn wir wissen seit Jahrzehnten, dass Wirtschaft<br />
und Energie zwei Seiten derselben Medaille sind.<br />
Daher werden wir nicht nur den Ausbau der erneuerbaren<br />
Energien vorantreiben, sondern uns<br />
auch für die Schaffung vernünftiger Rahmenbedingungen<br />
für eine sichere und preisgünstige<br />
Energieversorgung einsetzen. Darin haben Kraftwerke<br />
zukünftig die Rolle der flexiblen Ergänzung<br />
der erneuerbaren Energien. Die Stromnetze müssen<br />
den neuen Anforderungen der dezentralen<br />
Bewirtschaftung gewachsen sein.<br />
DER ENERGIEMARKT 3.0 UND<br />
UNTERSTÜTZUNG FÜR STADTWERKE<br />
Wir werden uns auf Bundesebene und auch<br />
mit europäischen Partnerregionen für ein europäisches<br />
Umstellungs- und Steuerungsprojekt<br />
der Energieerzeugung einsetzen. In regionalem<br />
Maßstab ist etwa ein Netz virtueller Kraftwerke<br />
und smarter Stromnetze mit den Benelux-Staaten<br />
denkbar, wenn gemeinsame Ziele zum Aufbau<br />
regenerativer Energien vereinbart werden<br />
können.<br />
Wir wissen, dass nicht nur die großen Energiekonzerne<br />
Schwierigkeiten mit der Finanzierung<br />
ihrer Umstrukturierungspläne hin zum neuen<br />
Energiemarkt 3.0 mit hohen Dienstleistungsanteilen<br />
für ihre Energiekunden haben – sondern<br />
gerade auch die kleineren Stadtwerke. Der<br />
zunehmend komplexere und digitalisierte Energiemarkt<br />
braucht Stadtwerke, die über Sektorgrenzen<br />
hinausdenken, die Direktvermarktung<br />
der Erneuerbaren Energien für die Bürgerinnen<br />
und Bürger in unserem Land anbieten und ein<br />
verantwortungsvolles Bilanzkreismanagement<br />
leisten können. Wir werden die Stadtwerke darin<br />
auf EU-, Bundes- und Landesebene politisch<br />
und auch über spezielle maßgeschneiderte<br />
Finanzierungsinstrumente unterstützen müssen.<br />
Dabei werden wir auch die Mittel für die Weiterentwicklung<br />
aller Fern- und Nahwärmenetze in<br />
<strong>NRW</strong> berücksichtigen müssen, die zu einer Optimierung<br />
der Vernetzung dieser Infrastrukturen<br />
beitragen können.<br />
STEIGERUNG DER ENERGIEEFFIZIENZ VON<br />
UNTERNEHMEN UND HAUSHALTEN<br />
Einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung des<br />
Klimawandels stellt die Reduktion der Treibhausgasemissionen<br />
durch Steigerung der Energieeffizienz<br />
von Unternehmen und Haushalten dar. In<br />
<strong>NRW</strong> wurden hier z. B. im Bereich des verarbeitenden<br />
Gewerbes seit 1990 mit einer Steigerung der<br />
Effizienz um 40 Prozent riesige Fortschritte erzielt.<br />
Es bedarf aber weiter umfassender Forschung<br />
und Entwicklung und nicht zuletzt auch<br />
der Beratung der Energieverbraucher zur Anwendung<br />
vorhandener und neuer Lösungen. Entsprechende<br />
Technologien, Verfahren und Konzepte<br />
entfalten nicht nur ihren Nutzen für den Klimaschutz<br />
in <strong>NRW</strong>, sondern sind wichtige Innovationen<br />
für den globalen Leitmarkt Umwelt- und<br />
Energiewirtschaft.<br />
Die produzierenden Unternehmen bleiben durch<br />
permanente Effizienzsteigerungen wettbewerbsfähig<br />
und modernisieren bereits fortlaufend.<br />
Wir werden weitere Techniksprünge anstoßen,<br />
begleiten und ihre betriebliche Implementierung<br />
beschleunigen. Insbesondere in den mittelständischen<br />
Betrieben besteht auch heute immer<br />
noch ein großes ungenutztes Effizienzpotential,<br />
das wir bis 20<strong>30</strong> ausschöpfen wollen, was auch<br />
die Baubranche und die Anlagenherstellung<br />
beleben wird.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Neue Energie: der Fortschrittsmotor für Nordrhein-Westfalen<br />
41<br />
Gleichwohl wissen wir, dass die energieintensive<br />
Industrie die verlässliche Basis der industriellen<br />
Wertschöpfung für unser Land bildet. Daher<br />
setzen wir uns für verlässliche Investitionsbedingungen,<br />
wettbewerbsfähige Energiepreise, den<br />
verstärkten Ausbau unserer Infrastruktur und<br />
attraktive Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen<br />
ein. Um die zukünftig immer stärker schwankenden<br />
Strompreise nicht zu einem Wettbewerbsnachteil<br />
für deutsche Produktionsanlagen<br />
werden zu lassen, werden wir gemeinsam mit<br />
den Unternehmen und der EnergieAgentur.<strong>NRW</strong><br />
Untersuchungen und Handlungskonzepte für<br />
Lastverschiebungen und Nachfrageflexibilisierungen<br />
auf den<br />
Weg bringen.<br />
Wir werden die Industrie in<br />
unserem Land aktiv bei der Optimierung<br />
ihrer Produktionsprozesse<br />
im Zusammenhang mit den<br />
zukünftigen Flexibilisierungsanforderungen<br />
unterstützen und<br />
dazu auch ein „Virtuelles Institut<br />
Smart Energy“ einrichten, das sich mit den Chancen<br />
und konkreten Ansätzen der Digitalisierung<br />
in der Energiewende beschäftigt. Dies wird die<br />
bisherigen Ansätze für virtuelle Kraftwerke im<br />
Ruhrgebiet und im rheinischen Revier mit aufgreifen<br />
und weiter stärken.<br />
Auch die zukünftige Alltagsgestaltung in den Privathaushalten<br />
wird bis 20<strong>30</strong> weit weniger energieintensiv<br />
sein. Schon bis 2020 soll der Gesamtstromverbrauch<br />
in Deutschland um elf Prozent<br />
sinken. Dabei werden wir sicherstellen, dass ein<br />
bezahlbarer Strompreis für alle privaten Verbraucher<br />
gewährleistet bleibt. Die Energiewende darf<br />
nicht zu neuen sozialen Ungerechtigkeiten führen.<br />
Ohne eine individuelle Optimierung der Heizungsund<br />
Warmwassernutzung im Alltag der Menschen<br />
ist eine kostengünstige Energiewende nicht<br />
einzuhalten, obwohl bereits wenige Änderungen<br />
» DIE ENERGIE-<br />
WENDE DARF<br />
NICHT ZU NEUEN<br />
SOZIALEN UNGE-<br />
RECHTIGKEITEN<br />
FÜHREN «<br />
in den Alltagsgewohnheiten (Duschzeiten,<br />
Lüftung und Heizung, Stand-by-Schaltungen,-<br />
Wäschetrockner) zu deutlichen Entlastungen<br />
führen würden. Wir weiten die Aufklärungsmaßnahmen<br />
aus, etwa durch die Stadtwerke und Verbraucherzentralen.<br />
Aber auch die Haushaltsgeräte müssen energieeffizienter<br />
werden, denn die Energiewende<br />
kann auf der Verbrauchsseite nicht allein auf den<br />
Schultern der Privatkunden lasten. Wir werden<br />
uns auf Bundes- und EU-Ebene für strengere<br />
Stromverbrauchswerte bei Unterhaltungselektronik<br />
und „weißer Ware“<br />
einsetzen, etwa durch eine Abschaffung<br />
der Stand-by-Schaltung<br />
und eine „Top-Runner-Politik“<br />
nach dem erfolgreichen Vorbild<br />
Japans: Die heute effizientesten<br />
Geräte setzen die Standards,<br />
die dann jeweils fünf Jahre später<br />
für alle Wettbewerber verbindlich<br />
werden.<br />
MODERNE NUTZUNG<br />
FOSSILER ENERGIETRÄGER<br />
Zur Erreichung der CO 2<br />
-Reduktionsziele von<br />
40 Prozent Senkung bis 2020 und 80 – 95 Prozent<br />
bis 2050 im Vergleich zu 1990 und der damit<br />
verbundenen Ausbauziele im Bereich der Erneuerbaren<br />
Energien in <strong>NRW</strong> (Klimaschutzgesetz)<br />
bedarf es neben dem Ausbau der erneuerbaren<br />
Energien bis auf weiteres auch einer modernen<br />
und klimaeffizienten Nutzung fossiler Energieträger.<br />
Dazu gehört insbesondere Gas (z. B. als<br />
Synthesegas, Flüssiggas / LNG oder Erdgas), aber<br />
auch Erdöl, Braun- und Steinkohle. Dabei verschwimmen<br />
die Grenzen zwischen stofflicher und<br />
energetischer Nutzung. Entsprechende Forschung<br />
zu klimagerechten neuen Nutzungsformen werden<br />
wir unterstützen. Dies hilft der Wirtschaft im<br />
<strong>NRW</strong> des Jahres 20<strong>30</strong> nicht zuletzt als Exporteur<br />
klimafreundlicher Technologien in allen Energieund<br />
Rohstoffbereichen.
42 KRAFTWERK <strong>NRW</strong><br />
Neue Energie: der Fortschrittsmotor für Nordrhein-Westfalen<br />
KASKADENNUTZUNG VON ROHSTOFFEN<br />
Wer nachhaltiges Wirtschaftswachstum ermöglichen<br />
will, um der jetzigen und den kommenden<br />
Generationen eine lebenswerte Gegenwart zu<br />
ermöglichen, muss deutlich machen, wie Produktion<br />
und Konsum derart in eine Wechselbeziehung<br />
gesetzt werden können, dass Rohstoffe<br />
nicht verschwendet, sondern weiterentwickelt<br />
und weiterverwendet werden.<br />
Unsere Antwort darauf ist das Konzept einer zirkulären<br />
Wertschöpfung: Reststoffe werden zu<br />
Rohstoffen.<br />
Das ist mehr als ein Abfallrecycling nach dem bekannten<br />
Muster des Grünen Punkts: Nach dem<br />
Vorbild natürlicher Stoffkreisläufe soll vielmehr<br />
der Abfall eines chemischen Nutzungs- oder<br />
Herstellungsprozesses den Grundstoff für einen<br />
weiteren darstellen, damit der Ressourcenbedarf<br />
in <strong>NRW</strong> insgesamt sinkt und unsere Wirtschaft<br />
zusätzliche, bislang verschenkte „BIP-Schätze“<br />
heben kann. Das CO 2<br />
aus Kraftwerken und Müllverbrennungsanlagen<br />
kann zur Algenzucht eingesetzt<br />
werden, statt in die Atmosphäre entlassen<br />
zu werden; und diese Algen sind geeignet zur<br />
Herstellung von Biotreibstoffen für den Verkehr.<br />
Aus altem Bauholz können langlebige Möbel gefertigt<br />
werden, anstatt es nur zu verfeuern. Organische<br />
Abfälle hingegen werden schon lange<br />
kompostiert – genau dies ist eine aus der Natur<br />
übernommene Kaskadennutzung. Dafür bedarf<br />
es einer Neuorganisation von Wertschöpfungsketten:<br />
bei der Entwicklung, dem Produktdesign,<br />
der Herstellung, dem Vertrieb, der Reparatur,<br />
der Zerlegung und Wiederverwendung von Stoffen<br />
und Bauteilen. All diese Schritte erfordern<br />
nicht zuletzt auch neue, einfache und komplexe<br />
Dienstleistungen, die im Zuge digitaler Wertschöpfung<br />
besser und billiger werden. So werden<br />
wir Emissionen senken, Rohstoffeffizienz sowie<br />
Versorgungssicherheit steigern und gleichzeitig<br />
Wohlstand und gute Arbeit in <strong>NRW</strong> sichern.<br />
„Cradle to Cradle“-Entwürfe für neue Technikprodukte<br />
werden in Zukunft die Möglichkeit<br />
bieten, sogar einzelne Bauelemente aus Gebrauchsgütern<br />
nach Beschädigung oder Veraltung<br />
modular weiterzuverwenden. Es werden<br />
wertvolle (und potenziell gleichzeitig giftige)<br />
Rohstoffe wie seltene Erden, Schwermetalle und<br />
Computerbauteile in Zukunft nur noch sortenrein<br />
eingesetzt. Sie können immer wieder weiterverwertet<br />
werden, ohne dass ein energieintensives<br />
Recycling mit Einschmelzvorgängen<br />
und vielen Giftstoffemissionen notwendig ist. So<br />
machen wir uns nicht zuletzt unabhängiger von<br />
Rohstoffimporten aus dem nichteuropäischen<br />
Ausland.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Neue Energie: der Fortschrittsmotor für Nordrhein-Westfalen<br />
43<br />
ENERGIEWENDE:<br />
DAS VIRTUELLE KRAFTWERK VERNETZT MEHRERE ERZEUGER<br />
UND VERSCHIEDENE VERBRAUCHER<br />
Windkraft<br />
Photovoltaik<br />
DIE ZIELE:<br />
EFFIZIENZ<br />
FLEXIBILITÄT<br />
LEISTUNG<br />
1 2 2 1<br />
Softwareenergiemanagement<br />
Privat:<br />
Stromverbraucher und<br />
Stromerzeuger<br />
1. BHKW/KWK<br />
2. Speicher<br />
Gewerblich:<br />
Stromverbraucher und<br />
Stromerzeuger<br />
1. BHKW/KWK<br />
2. Speicher<br />
Biogas<br />
KWK-Anlagen/<br />
Heizkraftwerke
2<br />
DU BIST<br />
NICHT ALLEIN!
DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
BILDUNG, AUFSTIEG UND SOZIALE SICHERHEIT<br />
FÜR ALLE MENSCHEN IN NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
Jeder Mensch will sein Leben in die eigenen Hände nehmen und das<br />
Beste daraus machen. Doch nicht jeder hat von Anfang an die Kraft dazu,<br />
manchen gleitet das Leben aus den Händen, manchen wird es aus der<br />
Hand gerissen. Doch dann gilt in Nordrhein-Westfalen noch immer das<br />
Versprechen der christlichen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung:<br />
Du bist nicht allein!<br />
Das ist das alte Versprechen der Solidarität, das wir wieder einlösen<br />
werden, und zwar mit einer neuen Bildungs-, Sozial- und Familienpolitik.<br />
Wir errichten einen neuen Sozialstaat. Er wartet nicht mehr auf soziale<br />
Missstände und Ungerechtigkeiten, die er im Nachhinein zu reparieren<br />
oder zu lindern versucht. Er bekämpft sie an der Wurzel und verhindert,<br />
dass sie das Leben eines Menschen einschnüren und nicht mehr freigeben.<br />
Nordrhein-Westfalen ist 20<strong>30</strong> ein europäisches Vorbild für Chancengleichheit,<br />
Aufstieg durch Bildung und soziale Sicherheit für Familien.<br />
Jede Stadt wird eine eng vernetzte Bildungslandschaft sein. Bildung ist<br />
gebührenfrei, von der Kita bis zur Hochschule. Jedes Kind wird individuell<br />
gefördert, keines mehr zurückgelassen. (Bildungs-)Armut wird sich nicht<br />
mehr vererben und kein Grund für Arbeitslosigkeit oder Fachkräftemangel<br />
mehr sein.<br />
Dank neuer Arbeitszeitmodelle und einer flächendeckenden Kinderbetreuung<br />
ist die einst utopisch anmutende Vereinbarkeit von Familie und<br />
Beruf 20<strong>30</strong> Realität geworden. Jeder Mensch hat mehr Zeit, die er über<br />
seine Lebensphasen verteilen kann: für den Beruf, für Weiterbildung<br />
und gesellschaftliches Engagement, für Kindererziehung und Pflege.<br />
Die soziale Absicherung dieser Lebensphasen, die bessere Verteilung von<br />
Arbeitszeit und mehr Chancen für Frauen sind die Meilensteine sozialdemokratischer<br />
Reformpolitik bis 20<strong>30</strong>.
46<br />
DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Gerechtigkeit beginnt mit Chancengleichheit!<br />
GERECHTIGKEIT BEGINNT<br />
MIT CHANCENGLEICHHEIT!<br />
(Aber sie hört damit noch nicht auf!)<br />
An einem Abend im Mai 2010 kommen in der Essener Uniklinik vier Kinder zur Welt,<br />
die wir hier Lisa, Antonia, Lukas und Can nennen. Es fällt nicht schwer, sich auszumalen,<br />
was ihre Eltern und Großeltern an jenem Tag empfinden. Es ist ein glücklicher Tag, voller<br />
Hoffnung und Optimismus. Ihre Kinder und Enkelkinder sollen zu selbstbewussten<br />
Menschen heranwachsen, die sich schon bald Ziele für ihr Leben setzen und die meisten<br />
dieser Lebensziele hoffentlich auch erreichen. Die Zukunft ist offen und alles ist möglich.<br />
So scheint es jedenfalls.<br />
Tatsächlich können wir nicht wissen,<br />
was aus den vier Kindern einmal<br />
werden wird. Wir können nicht wissen,<br />
wie erfolgreich ihr Bildungsweg<br />
und ihre Berufskarrieren sein werden,<br />
ob sie einmal ein hohes oder ein geringes<br />
Einkommen haben werden, ob sie gesund bleiben<br />
und ob sie einmal einen Ort finden, den sie<br />
ihr „Zuhause“ nennen. Schon gar nicht können<br />
wir wissen, ob sie einmal mit Zufriedenheit auf<br />
ihr Leben blicken werden.<br />
Was wir aber wissen können, ist, wie wahrscheinlich<br />
das alles ist. Dazu reicht es, einen Blick auf<br />
den sozialen Status ihrer Eltern zu werfen und<br />
anschließend einen Blick in die Statistik.<br />
Um Lisa und Lukas muss man sich wenig Sorgen<br />
machen. Ihre Eltern sind Akademiker und arbeiten<br />
im Management eines Unternehmens bzw. als<br />
Beamte im höheren Dienst. Die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass Lukas und Lisa einmal den Bildungsabschluss<br />
und das Einkommensniveau ihrer Eltern<br />
erreichen werden, liegt bei über 70 Prozent. Allerdings<br />
gibt es 2010 noch zu wenige Kitaplätze in<br />
<strong>NRW</strong>. Lisas alleinerziehende Mutter wird aus diesem<br />
Grund von Vollzeit- zu Teilzeitarbeit wechseln<br />
müssen, was ihre Karriere erst einmal ausbremst.<br />
Cans Eltern sind keine Akademiker. Sein Vater<br />
ist Maschinenführer, seine Mutter Einzelhandelskauffrau.<br />
Damit liegt die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass Can einmal Lehrer, Arzt oder Manager<br />
wird, bei nur 20 Prozent. Für Antonia beträgt<br />
diese Wahrscheinlichkeit nur zehn Prozent. Auch<br />
ihre Mutter ist alleinerziehend. Sie wird alles<br />
in ihrer Macht Stehende tun, um ihrer Tochter<br />
einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Doch<br />
ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Denn es ist<br />
nicht einmal sicher, ob sie ihren Beruf als Köchin<br />
angesichts der Arbeitszeiten in der Gastronomie<br />
noch weiter ausüben kann.<br />
Was genau eine gerechte Gesellschaft ausmacht,<br />
war schon immer umstritten und wird immer<br />
umstritten sein. Aber wer kann und wer will<br />
eine Wirklichkeit rechtfertigen, in der die Lebenschancen<br />
eines Menschen schon weitgehend feststehen,<br />
bevor er überhaupt laufen kann? Selbst<br />
radikale Marktliberale fühlen sich unwohl bei<br />
dem Gedanken, dass das Einkommen von Eltern<br />
die Lebenschancen ihrer Kinder begrenzt.<br />
Gerechtigkeit beginnt immer mit Chancengleichheit.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Gerechtigkeit beginnt mit Chancengleichheit! 47<br />
Wir haben deshalb den Mai 2010 als Ausgangspunkt<br />
gewählt, weil das der Monat war, in dem<br />
Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin gewählt<br />
wurde. Seitdem verwirklichen wir eine neue Bildungs-,<br />
Familien- und Sozialpolitik. Der Sozialstaat<br />
darf nicht länger nur ein Reparaturbetrieb<br />
sein, der erst im Nachhinein die Folgen unzureichender<br />
Bildung, prekärer Lebensverhältnisse<br />
und mangelhafter Förderung zu lindern versucht.<br />
Diese Versuche sind nicht nur sehr teuer, sie sind<br />
auch zu oft erfolglos.<br />
Wir setzen stattdessen auf Vorbeugung: Armut<br />
an Bildungs- und Lebenschancen darf sich nicht<br />
mehr vererben. Die Ursachen sozialer Ungleichheit<br />
bekämpfen wir an ihrer Wurzel. Wir errichten<br />
Schritt für Schritt ein durchlässiges Bildungssystem,<br />
das für Chancengleichheit sorgt. Ein<br />
dichtes Netz aus individuellen Förderangeboten<br />
und sozialen Präventionsketten wird Familien<br />
unterstützen und jedem Kind den Start in ein<br />
selbstbestimmtes Leben ermöglichen.<br />
Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten<br />
beginnt Gerechtigkeit immer mit Chancengleichheit.<br />
Sie hört damit aber noch nicht auf. Und<br />
genau das unterscheidet uns von anderen politischen<br />
Lagern. Für Marktliberale zum Beispiel<br />
ist das gesellschaftliche Leben ein Wettrennen<br />
um materielle Güter: Je mehr Konkurrenten ich<br />
hinter mir lasse, desto größer ist mein Gewinn.<br />
Das sei fair und gerecht, solange es zu Beginn des<br />
Rennens Chancengleichheit gibt, mithin niemand<br />
durch seine soziale Herkunft einen Vorsprung<br />
erhält. Demnach sei der Gerechtigkeit Genüge<br />
getan, wenn Politik und Gesellschaft dafür sorgen,<br />
dass alle Konkurrenten von der gleichen Position<br />
aus starten können.<br />
Doch selbst wenn man das Leben als Wettrennen<br />
begreift, ist das zu kurz gedacht. Was ist mit<br />
den Hindernissen auf der „Rennstrecke“, die sich<br />
in Form von Wirtschaftskrisen oder Schicksalsschlägen<br />
vor einigen plötzlich und unverschuldet<br />
auftun, vor anderen aber nicht?<br />
Wir werden kein Kind mehr zurücklassen.<br />
Doch damit nicht genug: Für Sozialdemokratinnen<br />
und Sozialdemokraten ist Selbstbestimmung<br />
weder ein käufliches Gut noch ein Almosen. Ein<br />
Kind darf für eine alleinerziehende<br />
Köchin genauso wenig die Ursache<br />
für prekäre Beschäftigung<br />
sein wie für eine alleinerziehende<br />
Akademikerin ein Karrierehindernis.<br />
Die Selbstbestimmung beider<br />
Frauen hat für uns den gleichen Wert. Die beste<br />
Bildung für beide Kinder erst recht. Bildung ist ein<br />
soziales Grundrecht. Sie wird gebührenfrei sein,<br />
von der Kita bis zur Hochschule. Darüber hinaus<br />
wird es für jedes Kind zwischen dem ersten und<br />
16. Lebensjahr ein Betreuungs- und Bildungsangebot<br />
geben, das den Bedürfnissen des Kindes<br />
und seiner Eltern entspricht.<br />
» BILDUNG IST<br />
EIN SOZIALES<br />
GRUNDRECHT«<br />
Im Grunde ist das Bild eines „Wettrennens“ schon<br />
falsch. Unsere Gesellschaft ist mindestens so sehr<br />
auf Kooperation angewiesen wie auf fairen Wettbewerb.<br />
Wir sollten unsere Gesellschaft eher<br />
als eine Bergsteigerseilschaft begreifen, in der<br />
jeder den anderen absichert, damit<br />
niemand ins Bergfreie fällt.<br />
Der Erfolg eines jeden Einzelnen<br />
ist von dem Zusammenhalt der<br />
Gruppe und der Leistungsbereitschaft<br />
aller abhängig. Wer Besonderes<br />
zum Erfolg aller beiträgt, hat auch ein Recht<br />
auf einen besonderen Anteil an den Gewinnen<br />
der Kooperation. Aber alle, die sich in den Dienst<br />
der Gemeinschaft gestellt haben, erhalten einen<br />
auskömmlichen Anteil. Niemand muss fürchten,<br />
leer auszugehen, schon gar nicht, weil sie oder er<br />
vielleicht nicht so stark ist wie andere oder einfach<br />
nur größeres Pech hatte.
48 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Gerechtigkeit beginnt mit Chancengleichheit!<br />
Wir wollen eine Gesellschaft für alle, in der jeder<br />
Mensch in jeder Lebensphase genug Freiraum,<br />
soziale Sicherheit und Unterstützung erhält, um<br />
seine Vorstellungen eines gelungenen Lebens<br />
verwirklichen zu können: von Kindheit und Jugend<br />
über das Familien- und Berufsleben bis hin<br />
zu einem selbstbestimmten Leben im Alter.<br />
Nordrhein-Westfalen wird ein Land sein, in dem<br />
jeder Mensch zu jeder Zeit auf das Versprechen<br />
der Solidarität vertrauen kann:<br />
Du bist nicht allein!<br />
LEBENSPHASEN:<br />
UNSERE ZIELE, UNSERE POLITIK. <strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>.<br />
KINDHEIT<br />
Ziel:<br />
Gleiche Chancen und beste Bildung unabhängig<br />
von der Herkunft und vom Geldbeutel der Eltern<br />
Unsere politischen Maßnahmen:<br />
• Gebührenfreie Bildung<br />
• Lebenslanges Lernen<br />
• Kommunale Präventionsketten<br />
• Schulen als Mittelpunkt<br />
kommunaler Bildungslandschaften<br />
JUGENDALTER<br />
Ziel:<br />
Soziale Spaltung im Bildungssystem überwinden;<br />
Übergang zwischen Schule, Ausbildung, Studium<br />
und Arbeitsleben erleichtern<br />
Unsere politischen Maßnahmen:<br />
• Berufsorientierte Übergangssysteme<br />
• Produktionsschulen für ganz <strong>NRW</strong><br />
• Ausbildungsgarantie, enge Kooperation<br />
von Bildungsinstitutionen<br />
ERWACHSENENALTER<br />
Ziel:<br />
Vereinbarkeit von Familie und Beruf: mehr Zeit,<br />
Sicherheit und Selbstbestimmung für Frauen,<br />
Männer, Kinder und pflegende Angehörige<br />
Unsere politischen Maßnahmen:<br />
• Neues ”<br />
Normalarbeitsverhältnis“<br />
• Kinderbetreuung: mehr Angebote und Flexibilität,<br />
keine Gebühren!<br />
• Vereinbarkeit: Familienarbeitszeit, gerechtes<br />
Familiensplitting, betriebsgerechte Familienkultur<br />
• Gleicher Lohn für gleiche Arbeit<br />
SENIORENALTER<br />
Ziel:<br />
Selbstbestimmtes Leben unabhängig von Alter,<br />
Geschlecht und Herkunft oder persönlichen<br />
Handicaps in solidarischer Gesellschaft ermöglichen<br />
Unsere politischen Maßnahmen:<br />
• Bildungsangebote für ”<br />
Best Ager“ ausbauen<br />
• Neue Wohnformen fördern: Mehrgenerationenhäuser,<br />
Mehrgenerationen-Wohnen, Alten-WGs<br />
• Integrierte Gesundheitszentren<br />
• Technische Unterstützungssysteme/Telemedizin<br />
• Pflegepersonal stärken
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Kein Kind zurücklassen! Chancengleichheit durch Vorbeugung und individuelle Förderung 49<br />
KEIN KIND ZURÜCKLASSEN!<br />
CHANCENGLEICHHEIT DURCH VORBEUGUNG<br />
UND INDIVIDUELLE FÖRDERUNG<br />
Die Bestandsaufnahme ist ernüchternd:<br />
Im Jahr 2011 hat fast die Hälfte aller Kitakinder in Bielefeld keine Deutschkenntnisse,<br />
die ihrem Alter entsprechen. Das will die Stadt nicht länger hinnehmen. Sie schickt<br />
Sprach- und Lesepaten in ihre Kitas, um die Kinder gezielt zu fördern. Mit Erfolg! Im Jahr<br />
2013 können fast drei Viertel aller Kinder, denen zuvor ein „erhöhter Förderbedarf“<br />
attestiert wurde, mit altersgerechten Deutschkenntnissen eingeschult werden.<br />
D<br />
ie Stadt Arnsberg ist nicht weniger<br />
erfolgreich: Sie baute Moosfelde,<br />
ein benachteiligtes Quartier im<br />
Stadtteil Neheim, zu einem Zentrum<br />
für Familien, Bildung und Gemeinschaftsleben<br />
aus. Heute gibt es dort eine<br />
Grundschule mit Ganztagsbetreuung, eine Kita,<br />
ein Familienhaus mit U3-Betreuung, Spiel- und<br />
Sportplätze, einen Jugendtreff sowie das städtische<br />
Familienbüro. Und das alles in unmittelbarer<br />
Nachbarschaft auf einem einzigen Areal. Das<br />
Ergebnis: Der Anteil von Kitakindern mit unzureichenden<br />
Deutschkenntnissen sinkt zwischen<br />
2011 und 2013 um 20 Prozent. Im Jahr 2013 gehen<br />
fast doppelt so viele Moosfelder Grundschüler auf<br />
das Gymnasium wie fünf Jahre zuvor. Im gleichen<br />
Zeitraum muss kein Kind unter 14 Jahren in<br />
staatliche Obhut genommen werden; die Kosten<br />
für die Jugendhilfe in Moosfelde sinken unter den<br />
Gesamtdurchschnitt der Stadt.<br />
Auch in Hamm setzt die Stadt auf individuelle<br />
Förderung: die individuelle Bildungsbegleitung.<br />
Sie beginnt bereits im Vorschulalter und endet<br />
erst mit dem Übergang in das Berufsleben. Das<br />
Konzept wirkt: Insbesondere in den Stadtteilen<br />
mit vielen sozialen Problemen erhöht sich die<br />
Lesefähigkeit von Grundschülern deutlich. Alle<br />
Drittklässler, die eine individuelle Begleitung erhalten<br />
haben, können heute besser lesen als im<br />
Landesdurchschnitt. Die Bildungsbegleitung verhindert<br />
schlechtere oder führt sogar zu besseren<br />
Zensuren. Über 75 Prozent aller Schulkinder in<br />
allen Altersklassen verbessern ihre Leistungen.<br />
Über die Hälfte aller „schulmüden“ Kinder nimmt<br />
durch die Bildungsbegleitung wieder regelmäßig<br />
am Unterricht teil. Wenn sogenannte<br />
schwer vermittelbare Schülerinnen und Schüler<br />
eine individuelle Förderung erhalten, kann<br />
35 Prozent von ihnen ein Ausbildungsplatz vermittelt<br />
werden. Das ist ein großer Erfolg, denn<br />
früher galten diese Jugendlichen als aussichtslose<br />
Fälle auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.<br />
Drei Städte, drei Beispiele, drei Erfolgsgeschichten.<br />
Sie zeigen, wie wirksam eine vorbeugende Bildungs-<br />
und Sozialpolitik ist. Individuelle Förderung<br />
für Kinder, Unterstützung für ihre Familien<br />
und lückenlose Präventionsketten von der Geburt<br />
bis zum Übergang in den Beruf: All das sorgt<br />
für mehr Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit.<br />
Davon profitieren alle Menschen in Nordrhein-Westfalen,<br />
auch diejenigen, die ihren Kindern<br />
aus eigener Kraft einen gelungenen Start<br />
ins Leben bieten können. Denn mit jedem Kind,<br />
das wir nicht zurücklassen, gewinnt unsere
50 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Kein Kind zurücklassen! Chancengleichheit durch Vorbeugung und individuelle Förderung<br />
Gesellschaft einen Facharbeiter, eine Ingenieurin<br />
oder einen Wissenschaftler mehr. Unsere Unternehmen<br />
gewinnen eine Fachkraft und die staatliche<br />
Gemeinschaft einen weiteren Steuerzahler.<br />
Wichtiger noch: Ein weiterer Mensch erhält die<br />
Chance, das Beste aus seinem Leben zu machen.<br />
VORBEUGUNG GELINGT DURCH KOOPERATION:<br />
EIN DICHTES NETZ KOMMUNALER PRÄVENTIONS-<br />
KETTEN FÜR NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
Wir werden ein dichtes Netz von Förderangeboten<br />
und Präventionsketten spannen, das<br />
sich über alle Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen<br />
erstreckt. Wo es in der Bildungsund<br />
Familienpolitik noch getrennte Strukturen<br />
und Verantwortlichkeiten gibt, werden wir sie<br />
vernetzen. Denn vorbeugende Politik ist eine<br />
Querschnittsaufgabe. Sie wird nur dann gelingen,<br />
wenn Eltern, Familien, Schulen und Kindertagesstätten<br />
mit den Kommunen, freien Trägern und<br />
Vereinen zusammenarbeiten. Dazu gehört auch<br />
ein kommunales Lernnetzwerk. Hier können alle<br />
Kommunen ihre Erfahrungen austauschen und<br />
voneinander lernen, welche Präventionsmaßnahmen<br />
erfolgreich sind und welche nicht.<br />
Vorbeugung durch individuelle Förderung lohnt<br />
sich. Sie mag am Anfang zusätzliches Geld kosten,<br />
aber schon bald wird sie Bund, Ländern und<br />
Kommunen weitaus höhere Ausgaben für soziale<br />
Reparaturkosten ersparen. Dieses Geld muss in<br />
neue Präventions- und Fördermaßnahmen investiert<br />
werden.<br />
i<br />
KOMMUNALE PRÄVENTIONSKETTEN<br />
Kommunale Präventionsketten sind die praktische<br />
Verwirklichung unseres vorbeugenden Politikansatzes.<br />
Präventionsketten erstrecken sich über alle Lebensphasen<br />
eines Kindes – von der Geburt über die<br />
frühkindliche Bildung und den Eintritt in das Schulsystem<br />
bis hin zum Übergang in das Berufsleben. Eine<br />
Präventionskette besteht aus mehreren Stationen, von<br />
denen jede unterschiedliche Aufgaben wahrnimmt:<br />
Ärzte, Krankenschwestern und Hebammen helfen<br />
bei der Anwendung von Screeningverfahren für Neu -<br />
geborene, Sozialpädagog/innen und Erzieher/innen<br />
geben Familien praktische Hilfestellungen im Alltag und<br />
Lehrer/innen ermöglichen den Ausbau von Förderange<br />
boten in Schulen. Für eine stabile Präventionskette<br />
werden alle Akteure gebraucht. Wichtig ist: Es gibt nicht<br />
das „eine“ Rezept für alle Kommunen. Regionale und<br />
kommunale Besonderheiten und Bedürfnisse spielen<br />
eine große Rolle. Deshalb arbeiten die teilnehmenden<br />
Kommunen in einem Lernnetzwerk zusammen – um<br />
aus guter Praxis von dem jeweils anderen zu lernen<br />
und die Präventionskette an die eigenen kommunalen<br />
Gegebenheiten anzupassen.<br />
JEDE STADT EINE BILDUNGSLANDSCHAFT!<br />
KOMMUNALE NETZWERKE FÜR BILDUNGS-<br />
GERECHTIGKEIT<br />
Das Beispiel Moosfelde in Arnsberg hat es<br />
gezeigt: Wo Ganztagsschulen und Kitas mit kommunalen<br />
Bildungs- und Familienbüros sowie der<br />
Kinder- und Jugendhilfe eng verzahnt werden,<br />
entsteht eine Bildungslandschaft. Hier lernen<br />
Kinder schneller und besser als in getrennten<br />
Systemen, denn nur hier stehen alle Mittel für<br />
eine individuelle Förderung ohne Wartezeiten zur<br />
Verfügung. Zudem gelingt der Übergang von der<br />
frühkindlichen zur schulischen Bildungsphase<br />
ohne Brüche. Schulische und außerschulische<br />
Bildungsangebote greifen ineinander, die Vermittlung<br />
von formalem Sachwissen und sozialen<br />
Kompetenzen geht Hand in Hand. Jede Stadt in<br />
Nordrhein-Westfalen sollte eine Bildungslandschaft<br />
sein. Wir werden sie weiter fördern, ausbauen<br />
und noch schlagkräftiger machen.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Kein Kind zurücklassen! Chancengleichheit durch Vorbeugung und individuelle Förderung 51<br />
Im Mittelpunkt kommunaler Bildungslandschaften<br />
stehen die Schulen. Sie sind nicht nur ein Ort<br />
für die Vermittlung von Sachwissen. Sie sollten<br />
ein Ort sein, an dem Gemeinschaft und gesellschaftliche<br />
Integration gelebt und erlernt werden.<br />
Unsere Schulen müssen der Knotenpunkt eines<br />
engen Netzwerkes von Familien, Vereinen und<br />
(außerschulischen) Bildungsträgern sowie der<br />
Kinder- und Jugendhilfe sein. Wir werden sie noch<br />
weiter als bisher für Berufsgruppen jenseits des<br />
Lehrberufes öffnen, damit sie den ganzheitlichen<br />
Bildungsauftrag in einer vernetzten Bildungslandschaft<br />
auch erfüllen können. Neben hervorragend<br />
ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern,<br />
die ihren Beruf mit Leidenschaft ausüben,<br />
brauchen unsere Schulen multiprofessionelle<br />
Teams. Dazu zählen zum Beispiel Schulsozialarbeiter<br />
und Sonderpädagoginnen, Schulkrankenpfleger<br />
und Schulpsychologinnen, auch Medienpädagogen<br />
und Dolmetscherinnen. Jede Schule<br />
kann dabei unterschiedliche Fachkräfte beschäftigen,<br />
die je nach Bedarf auch an anderen Schulen<br />
eingesetzt werden können.<br />
Generell gilt, dass die Inklusion von Kindern mit<br />
Handicaps oder die Integration von Einwandererkindern<br />
nur dann schnell<br />
und dauerhaft erreicht werden,<br />
wenn in der Summe mehr Fachpersonal<br />
für Kitas und Schulen zur<br />
Verfügung steht. Neue Fachkräfte<br />
sollten zudem die Vielfalt unserer<br />
Gesellschaft repräsentieren und Vorbilder für Integration,<br />
Inklusion und Gleichberechtigung sein.<br />
LÖSCHEN, WO ES BRENNT!<br />
JE GRÖSSER DIE (BILDUNGS-)ARMUT, DESTO<br />
DRINGENDER SIND PERSONAL UND GELD<br />
Wir müssen zuerst dort für Bildungsgerechtigkeit<br />
und neue Lebenschancen sorgen, wo es<br />
am wenigsten davon gibt. Deshalb handeln wir<br />
nach den Maximen „Ungleiches ungleich behandeln“<br />
und „Löschen, wo es brennt!“. Schon heute<br />
» WIR SETZEN<br />
AUF HILFE ZUR<br />
SELBSTHILFE «<br />
unterstützen wir Kitas, die Kinder aus benachteiligten<br />
Familien fördern, mit zusätzlichem Geld<br />
für mehr Personal. Dieses Prinzip muss für die<br />
gesamte Bildungskette gelten.<br />
Der Bedarf vor Ort entscheidet über zu ergreifende<br />
Maßnahmen und über die Verteilung von<br />
Ressourcen. Familienzentren müssen vor allem<br />
in Kommunen und Quartieren errichtet werden,<br />
die besonders stark von Bildungs- und Einkommensarmut<br />
betroffen sind. Kitas werden dort<br />
benötigt, wo besonders viele Kinder aufwachsen<br />
und die Armut überdurchschnittlich hoch ist. Das<br />
Gleiche gilt für zusätzliche Lehrkräfte und multiprofessionelle<br />
Teams. Für die Verteilung von Geld<br />
und Personal werden wir einen Sozialindex mit<br />
eindeutigen Indikatoren einführen, damit wir<br />
jenen Schulen zuerst helfen können, die diese<br />
Hilfe auch zuerst benötigen.<br />
AUFSUCHEN, BERATEN UND HELFEN!<br />
In zu vielen Familien in benachteiligten Quartieren<br />
mangelt es an alltagspraktischem Wissen,<br />
z. B. über Verbraucherschutz, Mietrecht oder Konsumverhalten.<br />
Die öffentliche Hand sollte nicht<br />
warten, bis die Not der betroffenen Eltern und<br />
Kinder so groß ist, dass sie um<br />
Hilfe bitten. Dann ist der Schaden<br />
zumeist schon größer, als er<br />
sein müsste (mögliche Kosten für<br />
die Kommune übrigens auch).<br />
Wir setzen auf eine aufsuchende<br />
Familien- und Verbraucherberatung, die Hilfe<br />
bietet, bevor aus Verschuldung Überschuldung<br />
wird oder der Strom nicht mehr bezahlt werden<br />
kann. Kinder und Jugendliche können lernen,<br />
was ein verantwortungsvolles Konsumverhalten<br />
ausmacht, oder zum Besuch von Jugend treffs<br />
animiert werden. Wir setzen auf Hilfe zur Selbsthilfe,<br />
auch durch eine schnelle Zuteilung von<br />
Familienpatinnen und -paten oder durch die Entsendung<br />
von Stadtteilmüttern und -vätern in benachteiligte<br />
Quartiere.
52 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Kein Kind zurücklassen! Chancengleichheit durch Vorbeugung und individuelle Förderung<br />
GEBÜHRENFREIE BILDUNG: EIN SOZIALES<br />
GRUNDRECHT UND EIN GEBOT DER FAIRNESS<br />
Bildung muss gebührenfrei sein. Für alle Kinder<br />
und von Anfang an. Bildungschancen sind immer<br />
auch Lebenschancen, und ohne Bildung gibt es<br />
auch keine Selbstbestimmung. Bildung ist ein soziales<br />
Grundrecht, das nicht erst gegen Gebühren<br />
gewährt werden darf. Jedes Kind hat das gleiche<br />
Recht auf die bestmögliche Bildung. Dieses Recht<br />
besteht unabhängig von Eltern und Herkunft und<br />
hat deshalb immer den gleichen Wert. Bis 20<strong>30</strong><br />
werden wir von der Kita bis zur Hochschule ein<br />
gebührenfreies Bildungssystem errichten.<br />
Die Gebührenbefreiung erfüllt nicht nur das Gebot<br />
gleicher Rechte und gleicher Chancen für alle<br />
Kinder. Sie ist auch ein Gebot der Fairness gegenüber<br />
ihren Eltern. Ein Bildungssystem ohne Gebühren<br />
würdigt und entlastet Familien aus der<br />
arbeitenden Mitte in Nordrhein-Westfalen. Denn<br />
sie sind es, die jeden Tag aufs Neue einen Beitrag<br />
von unschätzbarem Wert für die Zukunft<br />
aller Menschen in unserem Land leisten. Insbesondere<br />
junge Eltern, die in der Rushhour ihres<br />
Lebens stehen und auf die ohnehin noch unzählige<br />
Herausforderungen warten, werden von<br />
einer finanziellen Unsicherheit befreit.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Die Schule 20<strong>30</strong>: Hauptstadt einer offenen Bildungswelt 53<br />
DIE SCHULE 20<strong>30</strong>: HAUPTSTADT EINER<br />
OFFENEN BILDUNGSWELT<br />
“ Für einige Schüler ist die Schule ein schönerer Ort als ihr Zuhause . Sie freuen sich,<br />
wenn sie nach den Ferien wieder zu uns kommen dürfen.“<br />
Es ist nicht zu überhören: Die Direktorin der Gesamtschule Barmen in Wuppertal ist<br />
sehr stolz auf ihre Schule. Das kann sie auch sein, denn ihre Gesamtschule gewann<br />
2015 den Schulpreis der Robert Bosch Stiftung, der seit 2006 für herausragende<br />
pädagogische Konzepte und Lernbedingungen vergeben wird. Dabei sind die Rahmenbedingungen<br />
der Wuppertaler Gesamtschule alles andere als einfach: „Die Gesamtschule<br />
Barmen ist eine Insel mitten in einem sozialen Brennpunkt“, heißt es im Porträt der<br />
Robert Bosch Stiftung. Die Hälfte der Eltern sind Alleinerziehende, über <strong>30</strong> Prozent<br />
der Kinder haben einen Migrationshintergrund und nur 17 Prozent von ihnen bekamen<br />
eine Gymnasialempfehlung. Und doch wechseln am Ende der Sekundarstufe 1 rund<br />
60 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in die Oberstufe. Bei landesweiten Tests<br />
liegen Barmener Gesamtschüler oft über dem Landesdurchschnitt. Seit Jahren hat<br />
kein Schüler mehr die Schule ohne Abschluss verlassen.<br />
D<br />
er Grund dafür ist die individuelle<br />
Förderung aller Schülerinnen und<br />
Schüler, ganz gleich ob mit Behinderungen<br />
oder besonderen Begabungen.<br />
„Die Lernarrangements<br />
sind sehr fein auf die individuellen Bedürfnisse<br />
der Schüler abgestimmt“, lobt die Stiftung. Trotzdem<br />
– oder gerade deshalb – lernen starke und<br />
schwache Schüler gemeinsam. „Jeder ist unterschiedlich<br />
gut. Der eine kann das, der andere<br />
das“, sagt ein Junge aus der achten Klasse. Jüngere<br />
Schüler haben Paten aus der zehnten Klasse,<br />
jeder hat eine Aufgabe für die Gemeinschaft: als<br />
Pate, Medienscout oder Schulsanitäter. Im Ganztag<br />
gibt es täglich bis zu zwölf Zusatzangebote<br />
mit Unterstützung von Eltern oder außerschulischen<br />
Partnern. Nicht zuletzt ist die Schule ein<br />
Ort gelebter Demokratie: Die Schülerinnen und<br />
Schüler können bei der Aufstellung der Schulregeln<br />
mitbestimmen.<br />
Das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Lüdenscheid<br />
und die Erich-Kästner-Schule in Bochum<br />
(die Preisträger von 2014 und 2012) können ähnlich<br />
große Bildungserfolge vorweisen, und das<br />
aus den gleichen Gründen: Ihre Schülerinnen<br />
und Schüler schneiden bei Leistungstests überdurchschnittlich<br />
gut ab, weil sie individuell gefördert<br />
werden. Das Geschwister-Scholl-Gymnasium<br />
begann einst mit der Integration von Hochbegabten.<br />
Am Ende des Versuchs stand eine unerwartete<br />
Erkenntnis, sagt eine Lehrerin: „Danach<br />
war uns klar: Wer Begabte fördern kann, kann<br />
auch Schüler mit Behinderungen fördern. Es geht<br />
um den Blick auf Kinder, das Erkennen ihrer Ressourcen.<br />
Und dann bemühen wir uns, ein Netzwerk<br />
an Unterstützungen für diese Potentiale zu<br />
knüpfen.“ Die Robert Bosch Stiftung ist jedenfalls<br />
voll des Lobes: „Unterschiedliche Ausgangslagen,<br />
Lernstände und Potentiale sind der Normalfall.<br />
(...) Sie hat ein Fördermodell entwickelt, das sehr
54 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Die Schule 20<strong>30</strong>: Hauptstadt einer offenen Bildungswelt
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Die Schule 20<strong>30</strong>: Hauptstadt einer offenen Bildungswelt 55<br />
viele erreicht und unkonventionelle Einzellösungen<br />
ermöglicht. Die Lernentwicklung wird hier<br />
konsequent beobachtet und durch eine individuelle<br />
Lern- und Förderplanung unterstützt. Zusatzangebote,<br />
Lerntutorien, Lerncoaching und Hausaufgabenbetreuung<br />
im Lernbüro berücksichtigen<br />
Begabungen und Lernschwierigkeiten gleichermaßen.<br />
Neben Lehrpersonen wirken hier auch<br />
Schülerinnen und Schüler mit. Das sichert nicht<br />
nur hohe fachliche Leistungen, es fördert auch<br />
das soziale Lernen und das Schulklima.“<br />
Auch die Erich-Kästner-Schule in Bochum hat sich<br />
ihren Preis durch individuelle Förderung verdient.<br />
Sie hat zudem noch ein ganz besonderes Programm:<br />
Sie bietet eine intensive und individuelle<br />
Begleitung beim Übergang in die Berufswelt. In<br />
der Schule gibt es das Berufsorientierungsbüro,<br />
das „BoB“. Von dort aus halten drei Lehrer engen<br />
Kontakt zur Bundesagentur für Arbeit und zu<br />
regionalen Unternehmen. Sie vermitteln Praktika<br />
und helfen bei Bewerbungen. „Mittlerweile rufen<br />
die Firmen schon bei uns an“, erzählt ein Mathelehrer,<br />
dem die Stiftung „einen geradezu sportlichen<br />
Ehrgeiz“ attestiert, wenn er schwierige Fälle<br />
zu vermitteln hat.
56 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Die Schule 20<strong>30</strong>: Hauptstadt einer offenen Bildungswelt<br />
Wir können viel von den drei Schulen für das<br />
gesamte Bildungssystem lernen.<br />
Jedes Kind hat Talente. Sie sind Schätze, die<br />
gesucht werden müssen, die nicht immer auf<br />
Anhieb zu finden sind, aber schließlich doch<br />
gehoben werden können, bei jedem Kind. Am<br />
Anfang eines erfolgreichen Bildungsweges steht<br />
immer das Kind selbst, seine Begabungen und<br />
seine Handicaps. Ganz gleich ob hochbegabt<br />
oder mit Lernschwächen, ob mit Migrationshintergrund,<br />
mit bildungsnahem oder bildungsfernem<br />
Elternhaus, es ist die individuelle Förderung,<br />
die in ein gelingendes Leben führt.<br />
Das Bildungssystem der Zukunft wird durchlässiger<br />
sein, längeres gemeinsames Lernen ermöglichen<br />
und individuelle Bildungswege bieten. Vor<br />
allem werden wir die vielen, noch immer separierten<br />
Teilbereiche unseres Bildungssystems in<br />
eine einzige, offene und vernetzte Bildungswelt<br />
verwandeln. Die Hauptstadt dieser Bildungswelt<br />
wird die Schule sein. Sie bleibt der wichtigste Ort<br />
für die Vermittlung von Wissen. Aber sie wird mit<br />
allen Einrichtungen und Organisationen vernetzt<br />
sein, die sich schon heute um<br />
eine ganzheitliche Bildung der<br />
Kinder in Nordrhein-Westfalen<br />
verdient machen: mit Kindertagesstätten,<br />
Vereinen oder der<br />
Kinder-, Jugend- und Familienhilfe.<br />
An der Seite der Lehrerinnen<br />
und Lehrer werden multiprofessionelle<br />
Teams stehen, die<br />
je nach Bedarf pädagogische,<br />
psychologische oder medizinische<br />
Expertise zur individuellen<br />
Förderung beisteuern.<br />
Wir wollen den überparteilichen<br />
Schulkonsens über das Jahr<br />
2023 hinaus weiterentwickeln.<br />
Schulformen sind weit weniger<br />
wichtig als die Unterrichtsgarantie und die<br />
Unterrichtsqualität. Jedes Kind hat ein Recht auf<br />
» DAS BILDUNGS-<br />
SYSTEM DER<br />
ZUKUNFT WIRD<br />
DURCHLÄSSIGER<br />
SEIN, LÄNGERES<br />
GEMEINSAMES<br />
LERNEN<br />
ERMÖGLICHEN<br />
UND INDIVIDUELLE<br />
BILDUNGSWEGE<br />
BIETEN «<br />
die bestmögliche Unterrichtsqualität, ganz gleich<br />
an welchem Ort es in Nordrhein-Westfalen zur<br />
Schule geht.<br />
Eines dürfen wir aber nicht vergessen: Eine gute<br />
Schule ist zwar für Kinder und Jugendliche überaus<br />
wichtig, aber sie ist nicht ihr einziger Lebensinhalt.<br />
Kindheit und Jugend sind kein Trainingslager<br />
für das Berufsleben. Es sind ganz besondere<br />
Lebensphasen, in denen jeder Mensch einen<br />
Schatz an Erfahrungen, Erlebnissen und Erinnerungen<br />
sammelt, die durch nichts, was später<br />
noch kommen mag, aufgewogen werden. In<br />
Zukunft wird jedes Kind an jeder Schule in jeder<br />
Schulform wieder ausreichend Zeit haben, um sich<br />
die Welt jenseits des Unterrichts zu erschließen<br />
und sich zu einer selbstbewussten Persönlichkeit<br />
zu entwickeln.<br />
DIE SCHUBKRAFT FÜR EIN GELINGENDES LEBEN:<br />
UMFASSENDE BILDUNG IN EINER VERNETZTEN<br />
SCHULE<br />
Kinder und Jugendliche lernen nicht nur in der<br />
Schule – und dort auch nicht nur im Unterricht.<br />
Sie lernen überall dort, wo sie sich aktiv mit ihrer<br />
Umwelt auseinandersetzen: in<br />
den Angeboten der Kinder- und<br />
Jugendhilfe, in Sportvereinen,<br />
Musikschulen, Bibliotheken oder<br />
im privaten Kreis der Familie. All<br />
das sind bedeutende Orte des<br />
Lernens außerhalb von Schule<br />
und Familie. Diese „nonformalen“<br />
und „informellen“ Orte des<br />
Lernens müssen noch stärker<br />
in die Abläufe klassischer Bildungsinstitutionen<br />
eingebunden<br />
werden. Die Jugendhilfe zum<br />
Beispiel leistet überaus wichtige<br />
Bildungsarbeit für Nordrhein-Westfalen.<br />
In ihren Einrichtungen<br />
erfahren Kinder und<br />
Jugendliche Bindung und Anerkennung,<br />
die ihnen ansonsten oft fehlt. Die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter sind für sie eine
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Die Schule 20<strong>30</strong>: Hauptstadt einer offenen Bildungswelt 57<br />
i<br />
zweite Familie, oft sogar ein Familienersatz. Die<br />
Jugendhilfe kann vieles auffangen, was im Leben<br />
dieser Kinder ins Rutschen geraten ist. Vor allem<br />
kann sie benachteiligten Kindern und Jugendlichen<br />
jene Alltagsbildung vermitteln, die für den<br />
Schulerfolg unerlässlich ist.<br />
FORMALE BILDUNG, INFORMELLE BILDUNG<br />
UND ALLTAGSBILDUNG<br />
Unter formaler Bildung versteht man die Vermittlung<br />
von „klassischem Schulwissen“, das in der Berufsausbildung<br />
oder im Studium vertieft, spezialisiert und<br />
angewendet wird. Grob vereinfacht geht es um Lesen,<br />
Schreiben, Rechnen, Fremdsprachen, Faktenwissen, das<br />
Analysieren von Problemen, das Finden von Lösungswegen,<br />
das Anwenden von Methoden etc.<br />
Die Schule der Zukunft wird mit allen Orten<br />
vernetzt sein, an denen Kinder und Jugendliche<br />
lernen und zu Persönlichkeiten werden. Und sie<br />
wird eine Ganztagsschule sein. Ihre Stärke besteht<br />
in der Kombination von klassischer Schulbildung<br />
und informeller Alltagsbildung. Es ist<br />
diese Kombination, die Lernerfolge steigert und<br />
zukünftige Bildungswege erfolgreicher macht.<br />
Sie ist die Schubkraft für ein gelingendes Leben.<br />
Die Integration von Alltagsbildung in den Schulablauf<br />
ist für ein zukunftsweisendes Bildungssystem<br />
unerlässlich. Damit das funktioniert,<br />
muss der Ganztag einem pädagogischen Rhythmus<br />
folgen. Lehrkräfte sollten auch nachmittags<br />
unterrichten und die Inhalte des Ganztagsunterrichts<br />
in einem verbindlichen Rahmenkonzept<br />
festgelegt werden.<br />
Informelle Bildung (auch Alltagsbildung genannt) vollzieht<br />
sich in der Familie, der Nachbarschaft, im Freundeskreis,<br />
im Verein oder auch in den besonderen Angeboten<br />
einer Ganztagsschule. Gemeint ist das Lernen durch<br />
Erleben, Ausprobieren, Beobachten, Zuhören, Imitieren,<br />
Reden und Diskutieren. Dabei werden soziale, personale<br />
und instrumentelle Kompetenzen erworben, wie zum<br />
Beispiel Toleranz, Empathie und Verantwortung, Kritikund<br />
Teamfähigkeit, Lernbereitschaft und Kreativität,<br />
Entscheidungsfreude, Selbstbehauptung; auch die Fähigkeit,<br />
alltägliche Zusammenhänge von Ursache und<br />
Wirkung zu erkennen und zu nutzen.<br />
Informelle Bildung ist die Voraussetzung für formalen<br />
Bildungserfolg – und das in jeder Lebensphase. Umso<br />
wichtiger ist es, dass sie in das Schulsystem integriert<br />
wird.
58 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Die Schule 20<strong>30</strong>: Hauptstadt einer offenen Bildungswelt<br />
EIN RECHT AUF GANZTAG IN ALLEN SCHULEN<br />
AN JEDEM WOHNORT<br />
Die SPD-Fraktion wird sich in Bund und Land für<br />
die Einführung eines gesetzlichen Anspruchs<br />
auf eine Ganztagsbeschulung einsetzen. Dieser<br />
Anspruch muss unabhängig von Wohnort, Schulform<br />
oder individuellen Besonderheiten gelten.<br />
Alle Grund- und weiterführenden Schulen sollen<br />
bis 20<strong>30</strong> über ein frei zugängliches Ganztagsangebot<br />
verfügen. Ganztagsangebote benötigen<br />
Entfaltungsräume: Die SPD-Fraktion setzt sich<br />
für umfassende Neubau-, Umbau- und Sanierungsmaßnahmen<br />
der Bildungseinrichtungen in<br />
Nordrhein-Westfalen ein.<br />
Das Essen für Kinder in Kitas und Schulen<br />
(inklusive einer warmen Mahlzeit pro Tag) soll in<br />
Zukunft flächendeckend und kostenlos angeboten<br />
werden. Großküchen und Kantinen sollen dabei<br />
überwiegend auf gesunde regionale Lebensmittel<br />
zurückgreifen.<br />
BILDUNG FÜR DAS DIGITALE LEBEN: MÜNDIG,<br />
FREI UND SICHER DURCH DIE NETZWELT<br />
Die Digitalisierung bringt jeden Tag eine neue<br />
Technologie hervor, die unser Leben vereinfachen,<br />
oft verbessern, in jedem Fall verändern<br />
wird. Was auch immer 20<strong>30</strong> alles möglich sein<br />
wird, Raum und Zeit werden kaum noch eine<br />
Rolle spielen. Schon heute kann sich jedes Kind<br />
das Wissen und die kulturellen Schätze der Welt<br />
in Sekundenschnelle auf ein Smartphone laden.<br />
Die Chancen für gesellschaftlichen Fortschritt<br />
sind phänomenal, die Möglichkeiten eines jeden<br />
Einzelnen, sich die Welt zu erschließen, nahezu<br />
unbegrenzt.<br />
Wir müssen allerdings lernen, wie wir uns in der<br />
digitalen Sphäre unserer Lebenswelt mündig,<br />
frei und sicher bewegen können. Denn mit jeder<br />
Frage, die wir dort stellen, geben wir auch Antworten<br />
über uns selbst. Mit fast jeder Anwendung,<br />
die wir nutzen, werden wir bzw. unsere<br />
Daten benutzt. Wo wir nach Wissen suchen,<br />
findet sich immer auch Unsinn. Wir können fast<br />
jeden Menschen in der industrialisierten Welt erreichen<br />
oder sind von ihm erreichbar, aber nicht<br />
jeder ist uns wohlgesinnt. All das müssen wir<br />
wissen. Und wir müssen wissen, wie wir damit<br />
umgehen. Das gilt erst recht für unsere Kinder.<br />
Die Schulbildung wird mehr denn je Alltagsbildung<br />
für das digitale Leben sein müssen. Das<br />
ist die große neue Herausforderung für alle, die<br />
in unserem Land Verantwortung für Kinder und<br />
Jugendliche übernehmen. Wie gelingt in der digitalen<br />
Gesellschaft ein behütetes Aufwachsen,<br />
das gleichzeitig alle Chancen offenhält, die sie<br />
unseren Kindern bietet?<br />
Kein Kind zurückzulassen, bedeutet in der digitalen<br />
Gesellschaft nichts anderes, als zu verhindern,<br />
dass Kinder zu reinen Objekten der Netzgesellschaft<br />
oder gar zu „digitalen Analphabeten“<br />
werden. Von den Möglichkeiten des technologischen<br />
Fortschritts darf niemand ausgeschlossen<br />
werden. Die Schule wird die Wissensgrundlagen<br />
für die mündige Nutzung digitaler Technologien<br />
legen. Neben dem Erwerb technischer Kompetenzen<br />
ist unser wichtigstes Bildungsziel die Befähigung<br />
zu einem verantwortungsvollen, selbstbestimmten,<br />
kreativen und kritischen Umgang mit<br />
digitalen Medien, Dienstleistungen und Daten.<br />
Die Nutzung neuer Techniken in der frühkindlichen<br />
wie auch schulischen Bildung darf nicht<br />
zur sozialen Ausgrenzung führen: Der Zugang<br />
zu neuen Lehrmaterialien wird allen Kindern in<br />
gleicher Weise zur Verfügung stehen.<br />
Unser Bildungssystem muss von der Kita bis zur<br />
Hochschule für die digitale Zukunft gerüstet sein:<br />
Deshalb brauchen wir in allen Einrichtungen unseres<br />
Bildungssystems Pädagoginnen und Pädagogen,<br />
die den Umgang mit neuen Medien lehren<br />
und deren Inhalte kritisch vermitteln können.<br />
Das Fach „Medienkompetenz“ wird einen<br />
festen Platz in der Ausbildung einnehmen. Die<br />
technische Ausstattung der „Zentren für schulpraktische<br />
Lehrerausbildung“ werden wir fortlaufend<br />
modernisieren.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Die Schule 20<strong>30</strong>: Hauptstadt einer offenen Bildungswelt 59<br />
EINE SCHULE FÜR DIE DEMOKRATIE –<br />
UND MEHR DEMOKRATIE FÜR DIE SCHULE<br />
Willy Brandt hatte recht: Die Schule der Nation ist<br />
die Schule (und nicht etwa das Militär). Denn in<br />
einer Demokratie ist jede Schule auch eine Schule<br />
für die Demokratie. Alle Jugendlichen sollen sie<br />
als mündige und selbstbewusste Bürgerinnen<br />
und Bürger verlassen. Das gelingt umso besser,<br />
je mehr sie die demokratischen Spielregeln auch<br />
durch eine demokratische Praxis vermittelt. Wir<br />
werden die Schulen in Nordrhein-Westfalen weiter<br />
demokratisieren, indem wir die Mitbestimmungsrechte<br />
von Schülerinnen und Schülern<br />
erweitern. Sie sollen im Rahmen bestehender<br />
Curricula mitentscheiden dürfen, wenn zum<br />
Beispiel festgelegt wird, welche Unterrichtsinhalte<br />
in welcher Reihenfolge behandelt<br />
werden. Politisches Engage-<br />
ment für die Grundwerte<br />
unserer Verfassung muss von<br />
Schulen gefördert werden,<br />
auch durch Freistellungen<br />
vom Unterricht.<br />
» IN DER<br />
DEMOKRATISCHEN<br />
SCHULE DES<br />
JAHRES 2o3o<br />
WERDEN ALLE<br />
KINDER INDIVIDUELL<br />
GEFÖRDERT«<br />
In der demokratischen Schule<br />
des Jahres 20<strong>30</strong> werden alle<br />
Kinder individuell gefördert,<br />
um Chancengleichheit zu<br />
garantieren. Wir wollen deshalb<br />
die klassischen „Hausaufgaben“ in Schulaufgaben<br />
verwandeln. Denn wissenschaftliche Studien<br />
belegen, dass die angeordnete Verschiebung<br />
des formalen Lernens aus dem Schulunterricht<br />
Kinder benachteiligt, die aus bildungsfernen<br />
Schichten kommen. Der didaktische Grundsatz<br />
„Üben, Wiederholen und Festigen“ kann an den<br />
Schulen selbst – in Lern- und selbstständigen Arbeitszeiten<br />
innerhalb des rhythmisierten Ganztages<br />
– verwirklicht werden. Gute Schülerinnen<br />
und Schüler werden andere unterstützen. Jedes<br />
Kind profitiert. Es gibt mehr Lernerfolge und vor<br />
allem mehr Chancengleichheit.<br />
BUND, LÄNDER UND KOMMUNEN:<br />
GEMEINSAM DAS BESTE BILDUNGSSYSTEM<br />
EUROPAS SCHAFFEN!<br />
In Deutschland könnte es 20<strong>30</strong> das beste Bildungssystem<br />
Europas geben. Wir haben alles,<br />
was wir dafür brauchen: Konzepte, Köpfe und<br />
Ressourcen. Das Ziel ist ehrgeizig,<br />
aber nicht unrealistisch. Vorausgesetzt,<br />
Bund, Länder und Kommunen<br />
machen sich gemeinsam<br />
auf den Weg und teilen sich die<br />
notwendigen Bildungsinvestitionen.<br />
Doch noch verhindert das<br />
sogenannte Kooperationsverbot<br />
in der Schulpolitik einen gemeinsamen<br />
Aufbruch. Es muss abgeschafft<br />
werden. Und auch der<br />
qualitative Ausbau kommunaler<br />
Bildungslandschaften wird schneller und besser<br />
gelingen, wenn sich Bund, Länder und Kommunen<br />
die Finanzierung teilen.
60 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Eine Berufsausbildung für jeden Jugendlichen und das Ende der Jugendarbeitslosigkeit in <strong>NRW</strong><br />
EINE BERUFSAUSBILDUNG FÜR<br />
JEDEN JUGENDLICHEN UND DAS ENDE<br />
DER JUGENDARBEITSLOSIGKEIT IN <strong>NRW</strong><br />
Die individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen darf nicht mit<br />
dem Schulabschluss enden. Sie muss weit darüber hinausreichen.<br />
Wir werden in den kommenden Jahren ein Übergangssystem von<br />
der Schule in den Beruf aufbauen, durch dessen Beratung, Begleitung und<br />
Förderung jeder Jugendliche in Nordrhein-Westfalen eine berufliche<br />
Perspektive erhält: sei es durch die Vermittlung in eine Berufsausbildung<br />
oder durch die Aufnahme eines Studiums. Es gilt der Grundsatz:<br />
Kein Abschluss ohne Anschluss!<br />
Wir verfügen mit der dualen<br />
Ausbildung über das beste<br />
Berufsausbildungssystem<br />
der Welt. Wir werden es fortlaufend<br />
an die sich stetig<br />
wandelnden Erfordernisse einer neuen Arbeitswelt<br />
anpassen. Wir werden es stärker als bisher<br />
bewerben und wir werden es auf der Berufsschulseite<br />
noch besser finanzieren. Einen drohenden<br />
Fachkräftemangel werden wir durch eine<br />
enge Kooperation von Bildungsinstitutionen,<br />
Unternehmen und Gewerkschaften zu verhindern<br />
wissen. Mit Hilfe einer Ausbildungsgarantie, mit<br />
einem sozialen Arbeitsmarkt und dem Ausbau<br />
der beruflichen Weiterbildung bauen wir eine<br />
Brücke in das Arbeitsleben für alle Jugendlichen,<br />
die aus unterschiedlichen Gründen heute nicht<br />
in den ersten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt vermittelt<br />
werden können.<br />
Im Jahr 20<strong>30</strong>, wenn die vorbeugende Bildungspolitik<br />
ihre volle Wirkung entfaltet hat, wird der<br />
Übergang von der Schule in das Berufsleben nicht<br />
mehr an mangelnder Ausbildungsreife scheitern.<br />
Nordrhein-Westfalen wird dann ein Land ohne<br />
strukturelle Jugendarbeitslosigkeit sein.<br />
VON DER SCHULE IN DEN BERUF:<br />
OHNE BRÜCHE, OHNE WARTESCHLEIFEN<br />
Bereits heute profitieren mehrere hunderttausend<br />
Schülerinnen und Schüler vom „Übergangssystem<br />
Schule-Beruf in <strong>NRW</strong>“. Sie werden frühzeitig bei<br />
ihrer Berufswahl, bei der Studienorientierung<br />
und beim Eintritt in Ausbildung oder Studium<br />
beraten und unterstützt. Alle jungen Menschen<br />
erhalten nach der Schule möglichst schnell eine<br />
Anschlussperspektive, ohne Brüche und ohne<br />
Warteschleifen. Wir werden dieses erfolgreiche<br />
System bis 20<strong>30</strong> kontinuierlich ausbauen und<br />
weiterentwickeln: Schülerinnen und Schüler<br />
werden die Möglichkeit zur Erarbeitung eines<br />
individuellen Berufswegeplans erhalten und<br />
regelmäßige Schulpraktika durchführen dürfen.<br />
Fachleute aus Verbänden, Gewerkschaften und<br />
Unternehmen werden wir noch stärker in die<br />
berufsorientierte Schulberatung einbeziehen.<br />
Berufsbörsen und Kontaktika sowie der Einsatz<br />
von Talentscouts werden diese individuelle Beratung<br />
praktisch ergänzen. Auch das Angebot an<br />
Betriebspraktika für Lehrerinnen und Lehrer<br />
werden wir in den nächsten Jahren schrittweise<br />
ausbauen.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Eine Berufsausbildung für jeden Jugendlichen und das Ende der Jugendarbeitslosigkeit in <strong>NRW</strong> 61<br />
Damit junge Menschen ohne Warteschleifen<br />
„unter einem Dach“ beraten und vermittelt<br />
werden können, werden wir die Gründung regionaler<br />
Jugendberufsagenturen fördern. Jugendberufsagenturen<br />
vernetzen alle<br />
relevanten Leistungen und Angebote<br />
für die Übergangsphase<br />
zwischen Schule und Beruf:<br />
Berufsberatung, Ausbildungsund<br />
Arbeitsvermittlung, Jugendhilfe<br />
und Schulunterricht.<br />
Jugendliche, die nach der Schule<br />
keinen Ausbildungsplatz bekommen,<br />
werden wir stärker als<br />
bisher in Produktionsschulen<br />
fördern und qualifizieren. Dort<br />
gehen berufliches Lernen und<br />
praktische Arbeit Hand in Hand.<br />
Wo ein Bedarf an Produktionsschulen<br />
besteht, werden sie in Zukunft schnell<br />
und unbürokratisch eingerichtet.<br />
INITIATIVEN GEGEN DEN DROHENDEN<br />
FACHKRÄFTEMANGEL: REGIONALE<br />
KOOPERATION FÜR DIE BERUFLICHE BILDUNG<br />
In den Jahren bis 20<strong>30</strong> droht in einzelnen Regionen<br />
und Branchen ein Fachkräftemangel, zum<br />
Beispiel in technischen Berufsfeldern oder Gesundheits-<br />
und Pflegeberufen. Die Gründe dafür<br />
sind vielfältig. Dazu zählen der demografische<br />
Wandel, veränderte Berufsbilder und -wünsche<br />
oder die oft nur unzureichende Vermittlung und<br />
Betreuung von Studien- und Ausbildungsabbrechern<br />
oder Jugendlichen mit Migrationshintergrund.<br />
Wir werden diesem Fachkräftemangel mit<br />
unterschiedlichen Initiativen entgegentreten:<br />
„Kein Kind zurücklassen!“, „Kein Abschluss ohne<br />
Anschluss!“, kommunale Bildungslandschaften<br />
oder die „Fachkräfteinitiative <strong>NRW</strong>“.<br />
Die Abwendung eines Fachkräftemangels ist<br />
eine Querschnittsaufgabe, die nur regional und<br />
»JUGENDBERUFS-<br />
AGENTUREN<br />
VERNETZEN<br />
ALLE RELEVANTEN<br />
LEISTUNGEN<br />
FÜR DIE ÜBER-<br />
GANGSPHASE<br />
ZWISCHEN<br />
SCHULE UND<br />
BERUF «<br />
branchenspezifisch gelöst werden kann. Gefragt<br />
ist die enge Zusammenarbeit von Arbeitgebern,<br />
Kammern, Arbeitsverwaltungen und Arbeitnehmervertretungen.<br />
Wir werden alle Regionen in<br />
<strong>NRW</strong> zur Ausarbeitung spezifischer<br />
Handlungspläne animieren<br />
und junge Menschen gezielt<br />
in unterbesetzte Fachbranchen<br />
vermitteln. Diese Fachkräfteinitiative<br />
muss in Verbändern und<br />
Kammern beworben und ihre<br />
Vorteile für alle Betriebe besser<br />
erklärt werden. Wir werden den<br />
Stellenwert und die Entwicklungschancen<br />
der dualen Berufsausbildung<br />
im Rahmen einer<br />
landesweiten Kampagne bewerben.<br />
Eine duale Berufsausbildung<br />
eröffnet große berufliche Chancen,<br />
die Eltern, Jugendlichen<br />
und Betrieben noch offensiver nähergebracht<br />
werden müssen. Unsere Maßnahmen setzen<br />
allesamt auch auf die schnellere und gezieltere<br />
Integration in Ausbildung und Arbeitsmarkt.<br />
Der drohende Fachkräftemangel erfordert auch<br />
eine engere Kooperation aller Bildungsinstitutionen,<br />
insbesondere zwischen Schulen und Berufskollegs.<br />
Wir werden Berufsschulen besser ausstatten,<br />
zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer<br />
qualifizieren und einstellen. Den Einstieg von<br />
Quereinsteigern werden wir vereinfachen. Auch<br />
Unternehmen sind in der Verantwortung und<br />
müssen mit Ausbildungs- und Praktikumsplätzen<br />
nachziehen: Wir werden die regionale Umlagefinanzierung<br />
für Ausbildungsplätze in jenen Branchen<br />
unterstützen, in denen dringend Fachkräfte<br />
gebraucht, aber zu wenige ausgebildet werden.<br />
Damit unterstützen wir alle Unternehmen, die<br />
schon heute ausbilden und damit Verantwortung<br />
übernehmen: sowohl für ihre eigene Zukunft<br />
als auch für die ihrer ganzen Branche und nicht<br />
zuletzt für die Zukunft der Jugendlichen.
62 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Eine Berufsausbildung für jeden Jugendlichen und das Ende der Jugendarbeitslosigkeit in <strong>NRW</strong><br />
FAIRNESS AUF DEM AUSBILDUNGSMARKT: EINE<br />
MINDESTVERGÜTUNG FÜR AUSZUBILDENDE<br />
Die Ausbildung ist der erste Schritt in die finanzielle<br />
Unabhängigkeit. Der Anfang dieses Lebensabschnitts<br />
ist häufig mit einem Umzug und mit<br />
steigenden Miet- und Lebenshaltungskosten<br />
verbunden. Die tarifliche Ausbildungsvergütung<br />
hält damit nicht Schritt. Das Bundesinstitut für<br />
Berufsbildung hat für Auszubildende eine monatliche<br />
Durchschnittsvergütung in Höhe von<br />
761 Euro im Jahr 2013 errechnet. Rund 28 Prozent<br />
der Auszubildenden erhalten jedoch nur<br />
500 Euro oder weniger. Wir werden deshalb<br />
eine Debatte über eine Mindestausbildungsvergütung<br />
anstoßen und uns dafür einsetzen, dass<br />
diese schrittweise eingeführt wird.<br />
DAS ENDE DER JUGENDARBEITSLOSIGKEIT<br />
IN <strong>NRW</strong><br />
Bis spätestens 20<strong>30</strong> soll Nordrhein-Westfalen<br />
ein Land mit Vollbeschäftigung sein. Der erste<br />
Meilenstein auf diesem Weg ist das Ende der<br />
Jugendarbeitslosigkeit. Je mehr wir in unser Bildungssystem<br />
investieren und je schneller wir es<br />
zu einer eng vernetzten Bildungswelt mit individueller<br />
Förderung und lückenlosen Präventionsketten<br />
ausbauen, desto geringer wird die Jugendarbeitslosigkeit<br />
sein. Wenn wir heute die Weichen<br />
richtig stellen, wird sie zur Gänze verschwinden.<br />
Trotz der Produktivitätsfortschritte<br />
der Industrie 4.0 wird der Fachkräftebedarf so<br />
groß sein, dass jeder ausbildungsreife Jugendliche<br />
derart gute Berufsaussichten hat, dass dies einer<br />
Job-Garantie gleichkommt. Umso wichtiger ist<br />
ein gerechtes und leistungsstarkes Bildungssystem,<br />
das jedem jungen Menschen zu einer<br />
zukunftssicheren Ausbildung mit entsprechenden<br />
Berufschancen verhilft.<br />
Doch noch gibt es Jugendliche mit Bildungsund<br />
Ausbildungsdefiziten. Sie sind auf dem<br />
ersten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nicht<br />
oder nur sehr schwer zu vermitteln. Wir dürfen<br />
diese jungen Menschen nicht ihrem Schicksal<br />
als Langzeitarbeitslose überlassen. Auch sie können<br />
lernen, wollen anpacken und etwas leisten.<br />
Deshalb werden wir eine Ausbildungsgarantie in<br />
Form einer drei- bzw. dreieinhalbjährigen außerbetrieblichen<br />
Ausbildung einsetzen. Ein sozialer<br />
Arbeitsmarkt, die öffentliche Finanzierung von<br />
Arbeit und Beschäftigung, für die es einen gesellschaftlichen<br />
Bedarf, aber keinen Markt gibt,<br />
ist ein weiteres Instrument im Kampf gegen die<br />
Langzeitarbeitslosigkeit junger Menschen. Berufliche<br />
Weiterbildung, die regelmäßige Überprüfung<br />
von Zwischenzielen und eine tarifliche<br />
Entlohnung sind wichtige Elemente dieser<br />
Strategie.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: das attraktivste Hochschulland Europas! 63<br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>:<br />
DAS ATTRAKTIVSTE<br />
HOCHSCHULLAND EUROPAS!<br />
Gleiche Bildungschancen sind nicht nur eine Frage sozialer Gerechtigkeit, sondern auch<br />
Grundlage von Wohlstand, wirtschaftlichem Erfolg und gesellschaftlichem Fortschritt.<br />
Nordrhein-Westfalen ist auf die Ideen und die Kreativität seiner Menschen angewiesen.<br />
Bildung, Wissenschaft und Forschung sichern die Ausbildung unseres beruflichen und<br />
akademischen Fachkräftenachwuchses. Sie sind die Voraussetzung für die Innovationskraft<br />
und Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und nicht zuletzt für gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt und Fortschritt. Denn Bildung schafft die Voraussetzung dafür,<br />
das Leben selbstbestimmt zum Erfolg zu führen, neue Wege zu gehen und eigene<br />
Wünsche und Ideen auch umsetzen zu können. In Zukunft werden wir den Zusammenhalt<br />
unserer Gesellschaft nur sichern, wenn wir allen bei uns lebenden Menschen<br />
Wege zur politischen, sozialen und ökonomischen Teilhabe eröffnen. Bildung ist der<br />
Schlüssel dafür, junge Menschen anzuerkennen, wertzuschätzen und ihnen<br />
konkrete Perspektiven für ihr Leben zu eröffnen.<br />
A<br />
n unseren Hochschulen werden<br />
Menschen beruflich qualifiziert<br />
und/oder gehen den Weg in die<br />
Wissenschaft. Spätestens im Jahr<br />
20<strong>30</strong> ist Aufstieg durch Bildung<br />
für jeden möglich, der Talent mitbringt und fleißig<br />
ist. Und zwar unabhängig vom Geldbeutel<br />
oder von der Herkunft seiner Eltern. Dazu gehören<br />
für uns ein gebührenfreies Studium, ein<br />
gut finanziertes BAföG und die Durchlässigkeit<br />
unseres Bildungssystems – zum Beispiel für<br />
beruflich Qualifizierte oder Studierende ohne<br />
Abitur. Bildungsgerechtigkeit, das Versprechen<br />
von Aufstieg durch Bildung, gute Arbeitsbedingungen<br />
und ein Wissenschaftssystem im Dienst<br />
der Gesellschaft stehen für uns im Mittelpunkt:<br />
Wir machen Politik für die Studierenden, für<br />
ihre Eltern und für die Beschäftigten an unseren<br />
Hochschulen. Wir sorgen für gute Arbeitsbedingungen<br />
und ein Wissenschaftssystem im Dienst<br />
der Gesellschaft.<br />
Attraktive Studienbedingungen, eine starke soziale<br />
Infrastruktur und gute Lehre sind die besten<br />
Mittel gegen hohe Abbrecherquoten. Sie sind ein<br />
Erfolgsfaktor für alle Hochschulen. Besser vergleichbare<br />
und somit weniger extrem spezialisierte<br />
Studiengänge sorgen für berufliche Flexibilität<br />
und soziale Mobilität, zum Beispiel für Ortswechsel<br />
nach dem Bachelor. Ein aktives Diversity-<br />
Management gehört ebenso selbstverständlich<br />
zu einer modernen Hochschule wie die Suche<br />
nach und die Förderung von Talenten, die unsere<br />
Gesellschaft brauchen wird.
64 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: das attraktivste Hochschulland Europas!<br />
Wir setzen dabei konsequent auf die Internationalität<br />
unserer Hochschulen und sind im Jahr<br />
20<strong>30</strong> Europas erfolgreichster Hochschulstandort<br />
bei der Gewinnung herausragender Nachwuchswissenschaftlerinnen<br />
und -wissenschaftler.<br />
ATTRAKTIVE STUDIENBEDINGUNGEN<br />
UND GUTE LEHRE<br />
Gute Lehre und Studienerfolg sind im Jahr 20<strong>30</strong><br />
noch mehr als heute anerkannte Merkmale hervorragender<br />
Hochschulen. Wir werden dafür<br />
sorgen, dass Spitzenleistungen in der Lehre den<br />
gleichen Stellenwert in unseren Hochschulen erhalten<br />
wie Spitzenleistungen in der Forschung.<br />
Die Digitalisierung der Bildung wird nicht nur die<br />
Infrastruktur im Bildungssektor verändern, sondern<br />
auch die Lehre an Hochschulen. Die Hochschulen<br />
werden die Chancen der Digitalisierung<br />
umfassend nutzen, um Lehre und Studienbedingungen<br />
zu verbessern und sich gleichzeitig als<br />
Einrichtungen auch weiterhin unverzichtbar zu<br />
machen, beispielsweise in Abgrenzung zu digitalen<br />
Bildungsangeboten im Netz. Die Digitalisierung<br />
ist deshalb an allen Hochschulen eines<br />
der zentralen strategischen Handlungsfelder. Die<br />
einzigartige Vielfalt unserer Hochschullandschaft<br />
bietet die besten Voraussetzungen dafür, die Digitalisierung<br />
in gesellschaftlichen Fortschritt für<br />
alle Lebens- und Arbeitsbereiche zu verwandeln.<br />
„Digitalisierung <strong>NRW</strong>“ ist der Markenkern unseres<br />
Bundeslandes.<br />
Die Lehre selbst wird digital.<br />
Online-Inhalte, -Kurse und -Studiengänge<br />
relativieren die Bedeutung<br />
von Zeit und Raum. <strong>NRW</strong> ist<br />
weiterhin der Trendsetter, wenn<br />
es um Fernlehre geht.<br />
Flexiblere Studieneingangsphasen, die der Heterogenität<br />
der Studienanfängerinnen und -anfänger<br />
Rechnung tragen, werden genauso wie der<br />
Abbau von Barrieren für eine inklusive Hochschule<br />
Realität. Das Modell der demokratischen,<br />
» <strong>NRW</strong> HAT DEN<br />
MODERNSTEN<br />
HOCHSCHUL-<br />
CAMPUS<br />
EUROPAS «<br />
offenen Hochschule hat sich gegen die Idee einer<br />
Hochschule als Wirtschaftsunternehmen durchgesetzt.<br />
Gute Arbeit wird allgemein als Voraussetzung<br />
für hervorragende Wissenschaft und exzellente<br />
Lehre anerkannt. Toleranz, Weltoffenheit<br />
und interkulturelle Kompetenz sind dabei gelebte<br />
Werte unserer Hochschullandschaft. <strong>NRW</strong> ist<br />
damit bei den jungen Studierenden in Europa<br />
ein Synonym für gute Studienbedingungen, die<br />
erfolgreiches Studieren in einem lebens- und<br />
liebenswerten Umfeld ermöglichen.<br />
Um die Vielzahl von Studiengängen im Sinne<br />
der Studierenden besser zu strukturieren, wird<br />
die Akkreditierung neu organisiert. Die zu große<br />
Spezialisierung wird eingedämmt und die breiter<br />
angelegten Qualifikationsziele des Bachelorstudiums<br />
werden wieder zur Geltung kommen. Die<br />
Rahmenbedingungen werden wir dabei so gestalten,<br />
dass sie den Studierenden ein selbstbestimmtes<br />
Studium ermöglichten, beispielsweise<br />
durch Teilzeitstudiengänge, flexiblere Regelstudienzeiten<br />
und so weiter.<br />
DER MODERNSTE<br />
HOCHSCHUL CAMPUS EUROPAS<br />
<strong>NRW</strong> hat 20<strong>30</strong> den modernsten Hochschulcampus<br />
Europas. Das gilt zum einen für die Infrastruktur<br />
– Hochschulen als Lernräume und Begegnungsstätten<br />
müssen auch baulich an die<br />
Herausforderungen der Zukunft angepasst werden.<br />
Das gilt aber auch für die Verknüpfung<br />
von Wissenschaft und<br />
Gesellschaft, die als Gegenmodell<br />
zum Elfenbeinturm ein entscheidendes<br />
Kriterium für ein zukunftsfähiges<br />
Wissenschaftssystem sein<br />
wird.<br />
Der weitere Ausbau und die<br />
Modernisierung der bestehenden Infrastruktur<br />
für Wissenschaft und Forschung sind Investitionen<br />
in die Zukunftsfähigkeit und Innovationskraft<br />
<strong>NRW</strong>s. Intelligente und auf die Anforderungen<br />
der Digitalisierung abgestimmte bauliche
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: das attraktivste Hochschulland Europas! 65<br />
Lösungen tragen dazu bei, dass wir die besonderen<br />
Chancen nutzen, die sich aus der Vernetzung<br />
von Wissenschaft und der besonderen Wirtschaftsstruktur<br />
unseres Landes ergeben.<br />
Die soziale Infrastruktur ist 20<strong>30</strong> selbstverständlicher<br />
Teil eines modernen Hochschulcampus. Wir<br />
werden hier investieren und der Bund wird sich –<br />
genau wie bei der FernUniversität in Hagen – an<br />
den Kosten angemessen beteiligen. Forschung<br />
und Lehre gehören für uns auch im Jahr 20<strong>30</strong><br />
zusammen – der Ort dafür sind die Hochschulen.<br />
Der modernste Hochschulcampus Europas bietet<br />
für beides hervorragende Bedingungen.<br />
Wir werden diesen Weg mit einem bundesweiten<br />
Professorinnenprogramm weitergehen. Zudem<br />
machen wir überzeugende Gleichstellungskonzepte<br />
zu einer Voraussetzung für die Partizipation<br />
an Förderprogrammen. Wir werden den Transfer<br />
von Forschungsleistungen in die Wirtschaft weiter<br />
vorantreiben und den Austausch, insbesondere<br />
mit unseren leistungsstarken kleineren und<br />
mittelständischen Unternehmen, gerade auch<br />
im Bereich der Wirtschaft 4.0 fördern.<br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: WO FRAUEN AN HOCHSCHULEN<br />
GLEICHBERECHTIGT SIND<br />
Die Förderung von Frauen in der Wissenschaft<br />
hat sich 20<strong>30</strong> ausgezahlt: Nachdem wir gegen<br />
politische Widerstände die Gleichstellung von<br />
Frauen als zentrales Ziel der Hochschulentwicklung<br />
etabliert haben, hat sich der Anteil der<br />
Frauen in den verschiedenen Führungspositionen<br />
drastisch erhöht. Wir können endlich von<br />
Gleichberechtigung reden. Immer mehr herausragende<br />
Wissenschaftlerinnen entscheiden sich<br />
bewusst für eine Wissenschaftskarriere in Nordrhein-Westfalen,<br />
weil Gleichstellung hier gelebte<br />
Realität und nicht mehr ein Anlass für hochschulinterne<br />
Auseinandersetzungen ist. Der Wissenschaftsstandort<br />
<strong>NRW</strong> profitiert massiv davon,<br />
dass die besten Köpfe ausgewählt werden und<br />
das intellektuelle Potenzial unseres Landes voll<br />
zur Geltung kommt.
66 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Familie leben 20<strong>30</strong>: Zeit für Kinder – Zeit für Eltern – Zeit für Selbstbestimmung!<br />
FAMILIE LEBEN 20<strong>30</strong>:<br />
ZEIT FÜR KINDER – ZEIT FÜR ELTERN –<br />
ZEIT FÜR SELBSTBESTIMMUNG!<br />
Im Rückblick wird man sie vielleicht die größte gesellschaftspolitische Errungenschaft<br />
der letzten 5o Jahre nennen: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.<br />
Denn sie bedeutet mehr Zeit, mehr Sicherheit und mehr Selbstbestimmung.<br />
Für Frauen, Männer, Kinder und zu pflegende Angehörige.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Familie leben 20<strong>30</strong>: Zeit für Kinder – Zeit für Eltern – Zeit für Selbstbestimmung! 67<br />
S<br />
ie bedeutet Zeit, die sich Eltern nehmen<br />
und einteilen können, für ihre<br />
Familie und ihren Beruf, über die<br />
Woche, über einige Jahre oder über<br />
Lebensphasen.<br />
Sie bedeutet Sicherheit, weil die Verringerung<br />
von Arbeitszeit nicht mehr zu einem Verlust von<br />
Berufs- und Karrierechancen oder zu Altersarmut<br />
führt. Sie bedeutet aber auch Sicherheit für Kinder,<br />
die sich auf die Anwesenheit ihrer Eltern im<br />
Familienalltag verlassen können.<br />
Sie bedeutet Selbstbestimmung, weil Männer<br />
und Frauen sich nicht mehr fragen müssen, wie<br />
viel Verantwortung für die Familie ihr Job erlaubt.<br />
Stattdessen werden sie gefragt, wie sich ihr Job<br />
an ihre Vorstellungen eines gelungenen Familienund<br />
Arbeitslebens anpassen lässt. Dass Frauen<br />
ihre Kinder oder Angehörigen umsorgen, wird<br />
nicht mehr als selbstverständlich gelten, dass<br />
Männer dies tun, nicht mehr als extravagant.<br />
Das alles ist noch nicht Realität. Aber es ist auch<br />
keine Utopie mehr. Wir werden alles tun, damit<br />
spätestens 20<strong>30</strong> die Vereinbarkeit von Familie<br />
und Beruf in Nordrhein-Westfalen Lebenswirklichkeit<br />
geworden ist. Sie wird dann Realität,<br />
wenn Politik und Gesellschaft sie nicht länger als<br />
ein individuelles Organisationsproblem abtun,<br />
sondern als eine politische, ökonomische und<br />
gesellschaftliche Herausforderung begreifen.<br />
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein<br />
Gebot ökonomischer Vernunft, weil unsere Unternehmen<br />
mehr denn je Frauen brauchen: ihre<br />
Kompetenzen, ihre Leistungen und ihren Ehrgeiz<br />
– und zwar vom Ladenlokal bis zur Chefetage.<br />
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine<br />
Frage der sozialen Gerechtigkeit: Gute Arbeit<br />
zu haben, bedeutet Sicherheit und Unabhängigkeit<br />
– in der Gegenwart und im Alter. Ein Kind<br />
darf weder ein Grund für prekäre Beschäftigung<br />
sein noch ein Karrierehindernis. Ob alleinerziehend<br />
oder nicht, ob Köchin oder Maschinenführer,<br />
ob Wissenschaftler oder Ingenieurin: Die<br />
soziale Sicherheit und die individuelle Selbstbestimmung<br />
aller Eltern haben für uns den gleichen<br />
hohen Wert. Der bestmögliche Start ihrer Kinder<br />
ins Leben erst recht.<br />
Im Jahr 20<strong>30</strong> werden sich die Bedürfnisse von<br />
Familien nicht mehr nur der Arbeitswelt unterordnen<br />
müssen. Die Arbeitswelt wird familienfreundlicher<br />
sein. Alle Menschen brauchen im<br />
Verlauf ihres Lebens mehr Zeit jenseits des Berufs:<br />
für Weiterbildung, gesellschaftliches Engagement,<br />
Kindererziehung und Pflege. Die soziale<br />
Absicherung dieser Lebensphasen, die bessere<br />
Verteilung von Arbeitszeit und bessere Chancen<br />
für Frauen – das sind die Aufgaben, die wir für<br />
Nordrhein-Westfalen angehen werden.
68 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Familie leben 20<strong>30</strong>: Zeit für Kinder – Zeit für Eltern – Zeit für Selbstbestimmung!<br />
NEUE REGELN FÜR MEHR SELBSTBESTIMMUNG<br />
„Ehe und Familie stehen unter dem besonderen<br />
Schutze der staatlichen Ordnung“, heißt es in Artikel<br />
6 des Grundgesetzes. Dort steht aber nicht,<br />
dass nur ein ganz bestimmtes Familienmodell<br />
Schutz und Unterstützung verdient. Familie wird<br />
heute in vielfältigen Formen gelebt. Für uns gibt<br />
es Familie überall dort, wo Menschen füreinander<br />
Verantwortung übernehmen und Kinder<br />
aufwachsen. Es steht dem Staat nicht zu, seine<br />
Bürgerinnen und Bürger auf ein bestimmtes Familienmodell<br />
festzulegen. Und es ist auch nicht<br />
Sache des Staates vorzugeben, ob und wie erwachsene<br />
Menschen Beruf und Familie untereinander<br />
aufteilen. Für Alleinerziehende stellt sich<br />
diese Frage ohnehin nicht. Aber der Staat muss<br />
Freiräume schaffen, in denen eine partnerschaftliche<br />
Aufteilung von Familie und<br />
Erwerbsarbeit möglich ist.<br />
Die vielfältigen Lebens- und<br />
Familienentwürfe unserer Bürgerinnen<br />
und Bürger dürfen<br />
nicht an überkommenen Strukturen<br />
oder an sozialer Unsicherheit<br />
scheitern. Sie müssen Wirklichkeit<br />
werden können. Die<br />
Aufgabe einer modernen Familienpolitik<br />
ist es, alle einseitigen<br />
Anreize und Regeln derart zu<br />
verändern, dass sie dem Recht<br />
auf ein selbstbestimmtes Familien-<br />
und Arbeitsleben nicht länger entgegenstehen.<br />
Und genau das werden wir tun. Im Land –<br />
und wo nötig auch im Bund.<br />
WER FLEXIBILITÄT VERLANGT, MUSS AUCH<br />
FLEXIBILITÄT BIETEN! ELEMENTE EINES NEUEN<br />
„NORMALARBEITSVERHÄLTNISSES“<br />
Unternehmen brauchen flexible und qualifizierte<br />
Beschäftigte. Aber wer Flexibilität erwartet, muss<br />
sie auch bieten. Das alte „Normalarbeitsverhältnis“<br />
(kontinuierliche Vollzeit plus Überstunden<br />
des männlichen Hauptverdieners) ist für immer<br />
weniger Männer und Frauen attraktiv, geschweige<br />
» FÜR UNS<br />
GIBT ES FAMILIE<br />
ÜBERALL DORT,<br />
WO MENSCHEN<br />
FÜREINANDER<br />
VERANTWORTUNG<br />
ÜBERNEHMEN<br />
UND KINDER<br />
AUFWACHSEN «<br />
denn praktikabel. In Zukunft werden Arbeitszeit,<br />
Familienzeit und Zeit für Qualifikation und Weiterbildung<br />
ineinandergreifen können. Gefragt ist<br />
ein neues Normalarbeitsverhältnis, das Flexibilität<br />
für Unternehmen mit mehr Selbstbestimmung<br />
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />
verbindet. Wir werden uns deshalb dafür starkmachen,<br />
dass sie alle das Recht haben, von Vollzeit<br />
in Teilzeit und wieder zurück zu wechseln.<br />
Unverzichtbar für ein neues Normalarbeitsverhältnis<br />
ist das Element der „Lebensarbeitszeitkonten“,<br />
durch das Arbeitszeit angespart und in<br />
bestimmten Lebensphasen wieder ausgegeben<br />
werden kann, z. B. in der Familiengründungsphase,<br />
für die Pflege von Angehörigen oder für<br />
die berufliche Weiterbildung. Insbesondere ein<br />
Recht auf Weiterbildung ist für<br />
alle Frauen und Männer von<br />
großer Bedeutung, die ihre Erwerbsarbeitsphase<br />
für Fürsorge<br />
in der Familie unterbrechen<br />
wollen oder müssen. Denn berufliche<br />
Qualifikationsverluste<br />
in der Unterbrechungsphase führen<br />
langfristig zu größeren Einkommensverlusten<br />
als das ggf.<br />
geringere Einkommen während<br />
der Unterbrechung selbst. Deshalb<br />
machen wir uns weiterhin<br />
für eine Arbeitsversicherung<br />
stark, die genau diese Umbrüche<br />
nicht zu einer Sackgasse, sondern zu neuen<br />
Chancen macht.<br />
Das zweite Element eines neuen Normalarbeitsverhältnisses<br />
ist die Familienarbeitszeit. Wir<br />
wollen, dass beide Eltern für maximal drei Jahre<br />
ihre Arbeitszeit auf 80 Prozent absenken können<br />
und 20 Prozent ihres bisherigen Einkommens<br />
als Familienleistung erhalten. Die finanzielle<br />
Unterstützung sollte sich grundsätzlich am<br />
Nettoeinkommen der Eltern orientieren. Eltern<br />
mit kleineren Einkommen sollten davon prozentual<br />
stärker profitieren als Eltern mit hohen
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Familie leben 20<strong>30</strong>: Zeit für Kinder – Zeit für Eltern – Zeit für Selbstbestimmung! 69<br />
Einkommen. Die Familienarbeitszeit ist für die<br />
öffentliche Hand bezahlbar, unterstützt eine<br />
partnerschaftliche Aufteilung der Familien- und<br />
Erwerbsarbeit und führt zu höheren Einkommen<br />
und Renten der Mütter.<br />
EIN <strong>NRW</strong>-PAKT FÜR VEREINBARKEIT<br />
Flexible und individuelle Arbeitszeitmodelle mit<br />
festen Kernarbeitszeiten sind im Interesse aller<br />
Unternehmen und ihrer Beschäftigten. Wichtig<br />
ist: Flexibilität meint für uns keine Rund-umdie-Uhr-Erreichbarkeit<br />
oder -Arbeitszeit! Feste<br />
Kernarbeitszeiten schaffen die nötige Sicherheit,<br />
um Freizeit – und somit auch die gemeinsame<br />
Zeit mit der Familie – besser planen zu können.<br />
Unser Land braucht eine Betriebskultur, die sich<br />
an konkreten Arbeitsergebnissen, weniger an der<br />
bloßen Anwesenheit der Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter orientiert.<br />
Wir werden einen <strong>NRW</strong>-Pakt für die Vereinbarkeit<br />
von Familie und Beruf schließen, der familienfreundliche<br />
Arbeitsmodelle, -zeiten und -orte<br />
zum Inhalt hat. Dieser Pakt kann nur in Kooperation<br />
von Politik, Unternehmen sowie Tarif- und<br />
Sozialpartnern vor Ort gelingen. Der „Pakt für<br />
Vereinbarkeit <strong>NRW</strong>“ soll für die Beschäftigten<br />
im Schicht- und Wechseldienst, für Betriebe und<br />
Familien Planbarkeit und Sicherheit schaffen.<br />
Kleinst-, kleine und mittelständische Unternehmen<br />
werden wir in diesem Prozess durch Servicecenter<br />
vor allem im administrativen Bereich<br />
unterstützen.<br />
Derzeit bietet nur etwa ein Drittel der Betriebe<br />
in Deutschland die Möglichkeit, von zuhause<br />
aus zu arbeiten: Wir wollen diese Zahl bis 20<strong>30</strong><br />
auf mindestens zwei Drittel aller Betriebe erhöhen.<br />
Der Zwang zur Präsenz muss der Freiheit<br />
der Flexibilität weichen.<br />
Wir setzen uns für einen Rechtsanspruch auf<br />
Teilzeitmodelle sowie für ein Recht auf Rückkehr<br />
in die Vollzeitbeschäftigung ein. Gleitzeit- und<br />
Home-Office-Modelle sollen insbesondere für<br />
Alleinerziehende ausgebaut werden.<br />
VORBILDER BELOHNEN!<br />
FAMILIENPOLITIK FÜR KLEINE UND<br />
MITTELSTÄNDISCHE UNTERNEHMEN<br />
Wir werden familiengerechte Unternehmen<br />
stärker unterstützen. Sie sollten auch finanzielle<br />
Vorteile haben, wenn sie ihren Beschäftigten<br />
helfen, Familie und Beruf in Einklang zu<br />
bringen. Tatsächlich finden kleine und mittelständische<br />
Unternehmen (KMU) immer wieder<br />
kreative und unbürokratische Lösungen, um die<br />
familiären Bedürfnisse ihrer Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter zu berücksichtigen. Denn sie<br />
wissen, dass ein familiengerechtes Unternehmen<br />
auch einen Vorteil im Wettbewerb um qualifizierte<br />
Fachkräfte hat. Ihre Lösungen müssen<br />
Schule machen! Auch wenn auf regionaler und<br />
lokaler Ebene bereits zahlreiche Beratungssysteme<br />
für KMU existieren, besteht nach wie vor<br />
großer Unterstützungsbedarf für die Identifizierung<br />
von Best-Practice-Beispielen.<br />
Gemeinsam mit Kammern und Fachverbänden<br />
bauen wir ein entsprechendes System für Beratung<br />
und Einführung kreativer Lösungen aus.<br />
Ferner werden wir das Flexi II-Gesetz reformieren,<br />
um die Einrichtung von Wertguthaben und<br />
damit das Ansparen von Zeit- und Geldguthaben<br />
über den gesamten Lebensverlauf besser an die<br />
beson dere Situation von KMU anzupassen. Wir<br />
werden das <strong>NRW</strong>-Bildungsurlaubsgesetz überarbeiten,<br />
um die bestehenden Ansprüche auf<br />
Weiterbildung mit tariflichen Regelungen zu<br />
verknüpfen. Damit stärken wir den Wirtschaftsstandort<br />
Nordrhein-Westfalen.
70 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Familie leben 20<strong>30</strong>: Zeit für Kinder – Zeit für Eltern – Zeit für Selbstbestimmung!<br />
EIN FAIRER ARBEITSMARKT:<br />
FRAUEN VERDIENEN MEHR!<br />
Frauen verdienen noch immer weniger als<br />
Männer. Warum? Weil sie oft für die gleiche<br />
Arbeit nicht den gleichen Lohn erhalten. Weil<br />
sie nicht die gleichen Aufstiegschancen haben.<br />
Weil sie oft Berufe ergreifen, die schlechter bezahlt<br />
werden. Und vor allem: Weil sie es sind, die<br />
in der Regel die familiäre Fürsorge übernehmen,<br />
öfter in Teilzeit arbeiten und ihre Erwerbsarbeit<br />
länger unterbrechen, insbesondere nach der<br />
Geburt von Kindern oder für die Pflege von Angehörigen.<br />
Und umgekehrt gilt: Weil sie weniger<br />
verdienen, müssen Frauen aus Rücksicht auf<br />
das Familieneinkommen der Familienarbeit den<br />
Vorzug vor der Erwerbsarbeit geben. Ein Prozess,<br />
den das aktuelle Ehegattensplitting übrigens<br />
unterstützt.<br />
So wird die unzureichende Vereinbarkeit von<br />
Familie und Beruf zu einem sich selbst erhaltenden<br />
Perpetuum mobile. Wir werden ihm die<br />
Energie entziehen, indem wir erstens die ungleiche<br />
Bezahlung von Männern und Frauen durch<br />
Transparenz per Gesetz bekämpfen. „Gleicher<br />
Lohn für gleiche Arbeit!“ lautet die Norm, die<br />
kein Unternehmen mehr verletzen wird, wenn<br />
es unter öffentlichen Rechtfertigungsdruck gesetzt<br />
wird.<br />
Zweitens müssen die öffentliche Hand und<br />
die Sozialpartner dafür sorgen, dass die sogenannten<br />
Frauenberufe eine Aufwertung durch<br />
höhere Löhne und Gehälter erfahren. Ist es wirklich<br />
so, dass Frauen lieber Berufe ergreifen, die<br />
schlechter bezahlt werden? Oder werden diese<br />
Berufe schlechter bezahlt, weil sie als „Frauenberufe“<br />
gelten? Zudem muss die gläserne Decke<br />
verschwinden, die Frauen den beruflichen Aufstieg<br />
versperrt. Die Frauenquote in Aufsichtsräten<br />
ist der erste Schritt.<br />
Drittens wollen wir die Vereinbarkeit von<br />
Familie und Beruf erleichtern, indem wir finanzielle<br />
und soziale Unsicherheiten begrenzen:<br />
durch Lebensarbeitszeitkonten und die Familienarbeitszeit,<br />
durch ein gerechtes Familiensplitting<br />
im Steuerrecht und eine flächendeckend<br />
hochwertige Kinderbetreuung.<br />
AKTIVE VÄTER FÜR MEHR PARTNERSCHAFT-<br />
LICHKEIT FÖRDERN: BESSERE INFRASTRUKTUR,<br />
FAMILIENLEISTUNGEN UND ARBEITSKULTUR!<br />
Wie sich Eltern die Erwerbs- und Familienarbeit<br />
aufteilen, ist ihre freie Entscheidung. Dennoch<br />
ist eine Diskrepanz zwischen Wunsch und<br />
gelebter Wirklichkeit vor allem bei jungen Familien<br />
und insbesondere bei Vätern auffällig. Zwar<br />
beteiligen sich Väter heute bereits weitaus mehr<br />
an Erziehung und Betreuung von Kindern, als<br />
ihre Väter es taten. Dennoch haben viele Mütter<br />
und auch Väter den Wunsch, die Aufteilung noch<br />
partnerschaftlicher zu gestalten. Tatsächlich aber<br />
lebt gerade einmal jede fünfte Familie das<br />
Modell, in dem Familien- und Erwerbsarbeit partnerschaftlich<br />
aufgeteilt ist; in den meisten Fällen<br />
ist noch immer der Mann in Vollzeit und die Frau –<br />
bestenfalls – in Teilzeit erwerbstätig und damit<br />
für den Großteil der Familienarbeit zuständig.<br />
Wir wollen Familien darin unterstützen, eine<br />
partnerschaftliche Aufteilung von Familienund<br />
Erwerbsarbeit leben zu können. Dazu können<br />
strukturelle Rahmenbedingungen gesetzt<br />
werden:<br />
Der Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten<br />
ermöglicht beiden Elternteilen die Teilnahme<br />
am Erwerbsleben. Der Ausbau in <strong>NRW</strong><br />
geht weiter!<br />
Unsere Familienarbeitszeit ermöglicht beiden<br />
Partnern eine vollzeitnahe Erwerbstätigkeit und<br />
mehr Zeit für die Familie. Wenn beide Elternteile<br />
32 Wochenstunden arbeiten, kommen sie<br />
zusammen auf genauso viele Arbeitsstunden<br />
wie bei der gängigen Aufteilung 44 / 20. Die<br />
Familienarbeitszeit muss jetzt eingeführt werden.<br />
Wir in <strong>NRW</strong> machen uns dafür stark.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Familie leben 20<strong>30</strong>: Zeit für Kinder – Zeit für Eltern – Zeit für Selbstbestimmung! 71<br />
Das Elterngeld ist ein Erfolgsmodell, auch im<br />
Hinblick auf die Zeit, die Väter der Erziehung<br />
und Betreuung ihrer Kinder widmen können.<br />
Aktuell ist die Bezugsdauer von Elterngeld bei<br />
Vätern in <strong>NRW</strong> jedoch rückläufig. Wir werden<br />
deshalb überprüfen, ob und wie die Anreize für<br />
eine partnerschaftliche Aufteilung verbessert<br />
werden können.<br />
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf steht<br />
und fällt mit einer familiengerechten Betriebskultur.<br />
Das gilt auch und gerade für Männer.<br />
Wenn sich Väter mehr als bisher ihrer Familie<br />
widmen wollen, dann dürfen ihnen ihre Arbeitgeber<br />
das nicht als mangelnde Motivation<br />
auslegen. Karriere, Leistung und Teilzeit widersprechen<br />
sich nicht. Wir wollen deshalb gemeinsam<br />
mit den Tarifpartnern ein Bündnis<br />
für mehr Familiengerechtigkeit in <strong>NRW</strong> auf<br />
den Weg bringen.<br />
KINDERKRANKENTAGE FÜR<br />
PATCHWORK FAMILIEN<br />
In Patchworkfamilien hat der neue Partner, der<br />
weder Stief- noch Adoptivelternteil ist, keinen<br />
Anspruch auf Krankengeld bei Erkrankung des<br />
Kindes. Deshalb stoßen Eltern eines kranken<br />
Kindes oft an ihre finanziellen und zeitlichen<br />
Grenzen und lassen sich widerrechtlich selbst<br />
krankschreiben. Wir wollen Eltern nicht länger<br />
alleinlassen und den Anspruch auf Kinderkrankentage<br />
verbindlich für alle abhängig Beschäftigten<br />
mit gesetzlicher Krankenversicherung<br />
ausweiten. Pro Kind sollen 20 Tage für die Betreuung<br />
eines kranken Kindes zur Verfügung<br />
stehen. In den ersten 15 Tagen soll die betreuende<br />
Person 100 Prozent vom Nettolohn erhalten,<br />
in den notfalls erforderlichen fünf weiteren<br />
Tagen 80 Prozent vom Nettolohn. Den Anspruch<br />
auf diese Leistung entkoppeln wir zudem vom<br />
Verwandtschaftsgrad der Person, die die Betreuung<br />
und Pflege des kranken Kindes übernimmt.<br />
KINDERBETREUUNG VON DER KITA BIS ZUR<br />
SCHULE: MEHR ANGEBOTE, MEHR FLEXIBILITÄT,<br />
KEINE GEBÜHREN!<br />
Das Herzstück einer modernen Familienpolitik<br />
ist eine gute und verlässliche Kinderbetreuung.<br />
Gewiss: Sie allein ist für die Vereinbarkeit von<br />
Familie und Beruf noch nicht hinreichend. Aber<br />
ohne sie bleiben alle anderen Maßnahmen nur<br />
Stückwerk. Nordrhein-Westfalen hat in den vergangenen<br />
sechs Jahren seine Ausgaben für Kitas<br />
und frühkindliche Bildung von zwei auf vier Milliarden<br />
Euro erhöht. Heute gibt es fast doppelt<br />
so viele U3-Betreuungsplätze wie 2010. Kein<br />
Bundesland hat ein größeres Angebot an offenen<br />
Ganztagsschulen als <strong>NRW</strong>.<br />
Doch wir wollen noch mehr: Gebührenfreiheit,<br />
mehr Betreuungsplätze und mehr Flexibilität.<br />
Unser Ziel ist ein flächendeckendes Angebot an<br />
Betreuungsplätzen von der Kita bis zum Ende der<br />
Sekundarstufe 1. Für jede Familie und für jedes<br />
Kind wird es ein passendes Betreuungsangebot<br />
geben – gebührenfrei.<br />
Auch die Öffnungszeiten werden flexibler sein.<br />
Wir wissen um die zahlreichen Beschäftigten<br />
im Schichtdienst oder im Einzelhandel und um<br />
kurzfristig anfallende Überstunden und Dienstreisen.<br />
Auch Krankenschwestern, Polizisten,<br />
Feuerwehrleute und alle anderen, die zu unregelmäßigen<br />
Zeiten arbeiten, müssen sich auf<br />
eines verlassen können: Für ihre Kinder gibt es<br />
in erreichbarer Nähe eine gute Betreuung, und<br />
zwar in der Kernzeit von 7.00 bis 17.00 Uhr. Darüber<br />
hinaus werden wir für alle Eltern die Möglichkeit<br />
schaffen, erweiterte Betreuungszeiten<br />
zwischen 6.00 und 7.00 Uhr sowie zwischen<br />
17.00 und 20.00 Uhr zu nutzen.<br />
Allerdings: Kindertagesstätten sind mehr als eine<br />
Spiel- oder „Verwahranstalt“: Sie stellen wichtige<br />
Weichen für die Zukunft eines Kindes. Hier<br />
vollziehen sich wichtige Entwicklungsprozesse<br />
frühkindlicher Bildung. Dementsprechend legen<br />
wir bei aller Flexibilität der Öffnungszeiten großen
72 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Familie leben 20<strong>30</strong>: Zeit für Kinder – Zeit für Eltern – Zeit für Selbstbestimmung!<br />
Wert darauf, dass unsere Kindertageseinrichtungen<br />
ihrem Bildungsauftrag nachkommen können.<br />
Entsprechend werden wir unsere Randzeiten-Betreuungsmodelle<br />
auch ausrichten: Frühkindliche<br />
Bildung findet in den Kernzeiten statt.<br />
i<br />
HAUSHALTSNAHE DIENSTLEISTUNGEN<br />
Kindertagesstätten werden Ortschaften in einer<br />
familienfreundlichen Bildungslandschaft sein.<br />
In der Nachbarschaft gibt es Familienhäuser,<br />
Bildungsbüros und Elterncafés. Gemeinschaftsleben,<br />
Beratung und Unterstützung gehen hier<br />
Hand in Hand. Väter und Mütter sind nicht mehr<br />
auf sich allein gestellt. Wer sich überfordert fühlt,<br />
erhält schnell Hilfe.<br />
Nicht zuletzt: Die Arbeit von Erzieherinnen und<br />
Erziehern in der Kinderbetreuung ist anspruchsvoll.<br />
Mit viel Einsatz begleiten sie unsere Kinder<br />
und geben ihnen viel mit für ihr weiteres Leben.<br />
Damit sie das gut machen können, brauchen wir<br />
mehr Jobs in der Kinderbetreuung. Und: Erzieherinnen<br />
und Erzieher verdienen mehr Wertschätzung,<br />
mehr Anerkennung und vor allem eine<br />
bessere Bezahlung.<br />
DIE VEREINBARKEIT VON FAMILIE,<br />
AUSBILDUNG UND STUDIUM<br />
Jungen Eltern, die aufgrund der Geburt ihres Kindes<br />
ihre Ausbildung nicht abschließen oder gar<br />
nicht erst aufnehmen konnten, wird 20<strong>30</strong> ein flächendeckendes<br />
und auswahlfähiges Angebot für<br />
eine Berufsausbildung in Teilzeit zur Verfügung<br />
stehen. Um den Abschluss der Ausbildung zu<br />
unterstützen und die Familiengründung zu vereinfachen,<br />
wird für Studierende und Auszubildende<br />
ein elternunabhängiges BAFöG angeboten.<br />
Die Universität im Jahr 20<strong>30</strong> ist ein familienfreundlicher<br />
Ort, an dem Studierenden und Lehrenden<br />
eine kostenlose ganztägige Kinderbetreuung zur<br />
Verfügung steht. Wer Kinder bekommt, benötigt<br />
Zeit: Deshalb wird es mehr Teilzeitstudien gänge<br />
und in Studien- und Prüfungsordnungen neue<br />
Möglichkeiten zur anrechnungs- und gebührenfreien<br />
Verlängerung des Studiums geben.<br />
Unter haushaltsnahen Dienstleistungen versteht man<br />
solche Tätigkeiten, die von Außenstehenden gegen Entgelt<br />
im und für den privaten Haushalt zur Entlastung des familiären<br />
Alltags geleistet werden, wie Reinigen, Putzen oder<br />
Einkaufen. Der vereinfachte Rückgriff auf haushaltsnahe<br />
Dienstleistungen soll Familien entlasten und Fürsorge- und<br />
Eigenzeiten ermöglichen. Die Aufwertung dieser Haushaltstätigkeiten<br />
vereinfacht den Zugang zum legalen Arbeitsmarkt<br />
und schränkt gering bezahlte Schwarzarbeit ein.<br />
HELFENDE HÄNDE FÜR FAMILIEN:<br />
EINE BONUS KARTE FÜR HAUSHALTSNAHE<br />
DIENSTLEISTUNGEN<br />
Wir werden den Zugang zu haushaltsnahen<br />
Dienstleistungen erleichtern und ihre gesellschaftliche<br />
Anerkennung erhöhen. Haushaltshilfen<br />
entlasten Familien und stabilisieren Partnerschaften,<br />
weil ihre helfenden Hände zeitliche<br />
Freiräume schaffen. Der Familienbericht der<br />
SPD-geführten Landesregierung zeigt, dass<br />
44 Prozent der Familien in Nordrhein-Westfalen<br />
gerne – unabhängig von den Kosten – eine<br />
externe Haushaltshilfe in Anspruch nehmen<br />
würden. Deshalb werden wir eine Bonuskarte<br />
zur Nutzung haushaltsnaher Dienstleistungen<br />
einführen, die Angebot und Nachfrage solcher<br />
Dienstleistungen – abhängig von Einkommen<br />
und Bedarf – subventioniert. Ein vergleichbares<br />
System hat sich in Belgien bereits bewährt:<br />
Dort können Familien Dienstleistungsschecks<br />
erwerben, deren tatsächlicher Wert dank staat-
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Familie leben 20<strong>30</strong>: Zeit für Kinder – Zeit für Eltern – Zeit für Selbstbestimmung! 73<br />
licher Bezuschussung und steuerlicher Ermäßigungen<br />
deutlich über der Kaufsumme<br />
liegt. Mit der von uns vorgeschlagenen Bonuskarte<br />
kann in Zukunft eine bestimmte Anzahl von<br />
„Dienstleistungsschecks“ erworben werden. Sie<br />
entlastet alle Familien, auch und gerade solche<br />
mit geringem Einkommen, und belebt den regionalen<br />
Arbeitsmarkt.<br />
WER PFLEGT, BRAUCHT<br />
FINANZIELLE SICHERHEIT!<br />
Die Mehrheit der Pflegebedürftigen wird in Nordrhein-Westfalen<br />
nach wie vor von Familienangehörigen<br />
– in der Regel von Frauen – gepflegt:<br />
Pflegende Angehörige verdienen finanzielle Sicherheit.<br />
Um kurzfristige Einkommenseinbußen<br />
durch die Erwerbsreduzierung zu verhindern,<br />
muss künftig sowohl der Zeitraum der Auszahlung<br />
des Pflegeunterstützungsgeldes (infolge<br />
akuter Pflegenotfälle) als auch die Familienpflegezeit<br />
verlängert und noch stärker an die Bedürfnisse<br />
pflegender Angehöriger angepasst werden.<br />
Ebenso müssen diese Zeiten bei der Rentenberechnung<br />
entsprechend berücksichtigt werden.<br />
Dabei kommt auch dem bereits skizzierten Modell<br />
der Lebensarbeitszeitkonten natürlich eine<br />
besondere Bedeutung zu. Pflegende Angehörige<br />
erbringen eine nicht nur für die Gesellschaft, sondern<br />
auch für das staatliche Pflege- und Gesundheitssystem<br />
wichtige Arbeitsleistung und einen<br />
volkswirtschaftlichen Beitrag, was honoriert<br />
werden muss. Pflegende Angehörige benötigen<br />
aber ebenso die Unterstützung durch professionelle<br />
Pflege in der häuslichen Versorgung.<br />
EIN NEUER FAMILIENLEISTUNGSAUSGLEICH:<br />
AUF KINDER KOMMT ES AN, NICHT AUF<br />
TRAUSCHEINE!<br />
Das aktuelle Steuerrecht geht an der Lebenswirklichkeit<br />
vieler Familien vorbei, denn es unterstützt<br />
mit dem Ehegattensplitting in einem erheblichen<br />
Umfang die Ehe, unabhängig davon, ob Kinder da<br />
sind oder nicht. Wir stehen für einen generellen<br />
Paradigmenwechsel in der Familienpolitik, der<br />
das Kind in den Fokus der Leistungen rückt.<br />
Wir wollen deshalb unverheiratete Paare mit Kindern<br />
und Alleinerziehende steuerlich besserstellen.<br />
Alle Eltern verdienen mehr Unterstützung,<br />
ganz gleich ob Kinder bei Alleinerziehenden, bei<br />
Verheirateten, bei Unverheirateten oder in gleichgeschlechtlichen<br />
Partnerschaften aufwachsen.<br />
Alleinerziehende – insbesondere mit kleinem<br />
Einkommen – müssen stärker entlastet werden.<br />
Wir machen uns daher dafür stark, die entsprechenden<br />
familienpolitischen Leistungen des<br />
Familienleistungsausgleichs sowie des Ehegattensplittings<br />
zu einem neuen, am Kind orientierten<br />
System zusammenzuführen. Dabei wollen<br />
wir sicherstellen, dass alle, die mit dem bisherigen<br />
System geplant haben, einen Bestandsschutz<br />
erhalten.<br />
VORBILD SEIN! FAMILIENPOLITIK IM ÖFFENT-<br />
LICHEN DIENST UND IN DEN KOMMUNEN<br />
Wer Flexibilität verlangt, muss auch Flexibilität<br />
bieten. Wenn also Politik und Gesetzgeber von<br />
den Unternehmen mehr Flexibilität und Familiengerechtigkeit<br />
verlangen, sollten sie dafür auch<br />
Vorbild sein und mit dem öffentlichen Dienst<br />
beginnen.<br />
Deshalb werden wir den öffentlichen Dienst<br />
in <strong>NRW</strong> zu einem Vorbild für eine familiengerechte<br />
Arbeitswelt machen: durch die Einführung<br />
einer Familienarbeitszeit und familiengerechter<br />
Arbeitszeitmodelle, durch flexible Weiterbildungsmöglichkeiten<br />
und neue Karrieremuster.<br />
Wir werden die starre Organisation des Berufslebens<br />
durchbrechen, die die Vereinbarkeit von<br />
Familie und Beruf erschwert. Wir tragen dafür<br />
Sorge, dass jeder Beschäftigte im öffentlichen<br />
Dienst in <strong>NRW</strong> die Berufstätigkeit im Laufe seines<br />
Lebens unterbrechen kann, um sich weiterzubilden,<br />
sich um die eigenen Kinder zu kümmern<br />
oder die eigenen Eltern durch Fürsorge zu unterstützen.
74 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Familie leben 20<strong>30</strong>: Zeit für Kinder – Zeit für Eltern – Zeit für Selbstbestimmung!<br />
FAMILIENPOLITIK IST KOMMUNALE<br />
ZEITPOLITIK: BÜNDNISSE FÜR FAMILIENZEIT!<br />
Familienpolitik ist auch kommunale Zeitpolitik.<br />
Es geht um Öffnungszeiten von Behörden, von<br />
Bildungs-, Betreuungs- und Gesundheitseinrichtungen.<br />
Es geht um Mobilität und damit um<br />
Fahrzeiten von Bussen und Bahnen. Nicht zuletzt<br />
geht es um die Zeitpunkte, die Verfügbarkeit<br />
und die Dauer von Jugend- und Freizeitangeboten.<br />
Schulkinder haben 75 Ferientage im<br />
Jahr. Eltern zusammengenommen aber nur<br />
60 Urlaubstage – maximal. Alleinerziehende<br />
höchstens die Hälfte. All das sind Beispiele, die<br />
zeigen, welch große Bedeutung den Kommunen<br />
für eine gelingende Familienpolitik zukommt.<br />
Als „sozialer Nahraum“ können sie Familien das<br />
geben, was sie neben sozialer Sicherheit am<br />
meisten brauchen: Zeit. Wir werden Familienzeitpolitik<br />
zu einem neuen Politikfeld machen,<br />
das in jeder Stadt und in jeder Gemeinde Chef(innen)sache<br />
sein sollte. Unsere Kommunen brauchen<br />
vor Ort ein gesellschaftliches Bündnis für<br />
mehr Familienzeit.<br />
STÄDTE UND GEMEINDEN – HEIMAT FÜR FAMILIEN<br />
Sicherheit: auf der<br />
Straße und zuhause<br />
Gute und bezahlbare<br />
Wohnungen<br />
Gute Schulen und<br />
Kitas in der Nähe<br />
Schöne Fassaden,<br />
saubere Straßen<br />
ÖFFENTLICHE<br />
LEBENSQUALITÄT<br />
Kurze Wege zum Arzt, zum<br />
Einkaufen oder zum Sportplatz<br />
Busse und Bahnen: schnell,<br />
günstig und gut vernetzt<br />
Begrünte Straßenzüge,<br />
schöne Parks und Spielplätze<br />
Lebendiges Kulturund<br />
Vereinsleben<br />
Schnelles Internet<br />
und freies WLAN
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Lebensqualität und Selbstbestimmung im Alter 75<br />
LEBENSQUALITÄT UND<br />
SELBSTBESTIMMUNG IM ALTER<br />
Die Menschen in <strong>NRW</strong> leben immer länger und bleiben immer länger gesund.<br />
Die „Best Ager“ erlangen die Souveränität über ihre Zeit zurück. Die Frage „Was muss<br />
ich heute machen?“ stellt sich nicht mehr so oft. Dafür gewinnt eine andere Frage<br />
an Bedeutung: „Was möchte ich heute machen?“ Das Ende des Arbeitslebens ist der<br />
Anfang eines neuen, spannenden Lebensabschnitts. Der Wissensdurst von Senioren<br />
ist noch immer nicht gestillt. Im Gegenteil: Jetzt lassen sich noch unentdeckte Teile der<br />
Welt und ihres Wissens erschließen. Die Welt der Kunst und Kultur steht ihnen offen,<br />
auch weil ein leistungsstarker ÖPNV sie überall an jeden gewünschten Ort in <strong>NRW</strong><br />
bringen kann. Senioren werden das Recht und die Möglichkeiten haben, sich fortzubilden<br />
oder zu studieren. Sie müssen sich an jeder Universität einschreiben und Prüfungen<br />
ablegen können. Schritt für Schritt werden wir ein flächendeckend gebührenfreies<br />
Angebot von Seniorenstudiengängen aufbauen.<br />
E<br />
ine Gesellschaft für alle ist auch und<br />
gerade eine Gesellschaft, in der alle<br />
Generationen miteinander leben statt<br />
nur nebeneinander. Jüngere stehen<br />
für Ältere ein und umgekehrt. Der gesellschaftliche<br />
Fortschritt kommt auch älteren<br />
Menschen zugute. Im Gegenzug übernehmen<br />
sie neue Verantwortung für die Gemeinschaft.<br />
Sie engagieren sich in Vereinen, kümmern sich<br />
als Quartiersmanager um ihre Nachbarschaften<br />
oder machen sich um die lokale Demokratie verdient.<br />
Sie können im Patengroßelterndienst aktiv<br />
sein und Familien und Kinder in ihrem Alltag unterstützen,<br />
zum Beispiel bei der Hausaufgabenbetreuung<br />
und in Großelternakademien.<br />
All das sind nur einige wenige Beispiele für ein<br />
aktives, selbstbestimmtes und sinnstiftendes<br />
Leben im Alter. Ein solches Leben ist schon heute<br />
wahrscheinlicher, als es je war. Und bis 20<strong>30</strong> werden<br />
sich die Aussichten älterer Menschen noch<br />
weiter verbessern. Allerdings ist ein aktives Leben<br />
von Senioren an zwei Voraussetzungen geknüpft:<br />
Gesundheit und eine auskömmliche Rente. Ist<br />
eine von beiden nicht erfüllt, wird es schwierig.<br />
Sind es beide nicht, kann es schlimm werden.<br />
Und genau das wollen wir den Menschen in <strong>NRW</strong><br />
ersparen.<br />
Unser Ziel ist es, ein selbstbestimmtes Leben<br />
unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft<br />
oder persönlichen Handicaps in einer solidarischen<br />
Gesellschaft zu ermöglichen. Wir wollen<br />
soziale Ausgrenzung in Form von Altersarmut<br />
verhindern und dem Wunsch älterer Menschen<br />
nach einem möglichst langen, aktiven, gesunden<br />
und sozial abgesicherten Leben im gewohnten<br />
Umfeld Rechnung tragen. Altern muss sich in<br />
Würde vollziehen – Teilhabe an und Selbstbestimmung<br />
in der solidarischen Gesellschaft sind<br />
dafür unerlässlich.<br />
Wir machen eine vorbeugende und vorausschauende<br />
Politik nicht nur für Kinder und Jugendliche,<br />
sondern auch für ältere Menschen. Und das verlangt,<br />
sich auf eine Zukunft vorzubereiten, in der
76 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Lebensqualität und Selbstbestimmung im Alter<br />
immer mehr Menschen ab einem bestimmten<br />
Tag in ihrem Leben auf familiäre, ambulante oder<br />
stationäre Pflege angewiesen sein werden.<br />
Lebensqualität im Alter beginnt im <strong>NRW</strong> des<br />
Jahres 20<strong>30</strong> bereits im Quartier: Hier wird Teilhabe<br />
am Gemeinschaftsleben möglich, Selbstbestimmung<br />
gelebt und haushälterische wie<br />
auch pflegerische Hilfe geleistet. Ein solches<br />
Pflegeangebot richtet sich an Menschen mit unterschiedlichen<br />
körperlichen und psychischen<br />
Einschränkungen oder kulturellen und religiösen<br />
Hintergründen. Bis 20<strong>30</strong> werden wir die Pflegeinfrastruktur<br />
in <strong>NRW</strong> ausbauen und qualitativ<br />
verbessern. Gute Pflege kann nur dann gelingen,<br />
wenn wir genügend Menschen dafür begeistern<br />
können, diesen körperlich und psychisch anstrengenden<br />
Beruf auszuüben. Pflegefachkräfte<br />
müssen gerecht entlohnt werden, gute Arbeitsbedingungen<br />
vorfinden und eine berufliche Aufstiegsperspektive<br />
haben.<br />
eine pflege-, sondern auch eine wohn- und baupolitische<br />
Aufgabe. Mit der Reform des Landespflege-<br />
sowie des Wohn- und Teilhabegesetzes<br />
haben wir die rechtlichen Grundlagen für die<br />
nächsten Jahre geschaffen, um eine bedarfsgerechte<br />
Pflegestruktur aufbauen und weiterentwickeln<br />
zu können. Auch die Gründung von<br />
Seniorenwohngemeinschaften wollen wir in den<br />
kommenden Jahren weiter fördern.<br />
Das generationenübergreifende Zusammenwohnen<br />
ist eine Chance für gelebte Solidarität in der<br />
Gesellschaft. Es erleichtert die gegenseitige Unterstützung<br />
von jungen Familien und älteren<br />
Menschen Wir wollen das generationenübergreifende<br />
Zusammenwohnen in Form von<br />
Mehrgenerationenhäusern, Mehrgenerationenwohnen<br />
und „Alten-WGs“ durch bauliche Maßnahmen<br />
fördern. Das Mehrgenerationenwohnen<br />
soll nachbarschaftliche Unterstützungsnetzwerke<br />
für ältere Menschen und Familien stärken.<br />
GUT WOHNEN IM ALTER<br />
Unser Ziel ist es, alten Menschen so lange wie<br />
möglich die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben<br />
zu ermöglichen – Teilhabe ist die Voraussetzung<br />
für ein selbstbestimmtes Leben. Unser Masterplan<br />
„Altersgerechte Quartiere“<br />
soll ein langes und selbstbestimmtes<br />
Leben in der vertrauten<br />
Umgebung ermöglichen. Wir<br />
wollen, dass Quartiere in den<br />
kommenden Jahren noch stärker<br />
zum konzeptionellen Ausgangspunkt<br />
pflegepolitischer Maßnahmen<br />
werden. Quartiere sollen in<br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong> über eine seniorenund<br />
pflegegerechte Infrastruktur<br />
verfügen, die intergenerative Begegnungen<br />
ermöglicht und der Einsamkeit alter<br />
Menschen entgegentritt.<br />
Bei der zusätzlichen Finanzierung für ambulant<br />
betreutes Wohnen ist auch der Bund in der Pflicht.<br />
Altersgerechtes Wohnen ist für uns nicht nur<br />
»TEILHABE<br />
IST DIE<br />
VORAUSSETZUNG<br />
FÜR EIN<br />
SELBST-<br />
BESTIMMTES<br />
LEBEN «<br />
SELBSTSTÄNDIGKEIT BEWAHREN: ZUGANG<br />
ZU HILFSANGEBOTEN VEREINFACHEN<br />
Ältere Menschen müssen noch stärker in ihrem<br />
Lebensalltag unterstützt werden: Wir wollen<br />
deshalb den Zugang zu niedrigschwelligen<br />
Hilfsangeboten weiter vereinfachen.<br />
Haushaltsnahe Dienstleistungen<br />
wie die Begleitung<br />
bei Einkäufen, Behördengängen,<br />
Arztbesuchen, kulturellen Veranstaltungen<br />
oder die Unterstützung<br />
bei hauswirtschaftlichen<br />
Tätigkeiten erleichtern das<br />
Leben älterer Menschen in den<br />
eigenen vier Wänden, sie erhöhen<br />
die Lebensqualität. Gute<br />
Pflege rechnet sich: Wer die Inanspruchnahme<br />
niedrigschwelliger Hilfsangebote<br />
fördert, trägt zur zeitlichen Entlastung von<br />
Angehörigen und zur finanziellen Entlastung<br />
kommunaler Haushalte bei.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Lebensqualität und Selbstbestimmung im Alter 77<br />
i<br />
TELEMEDIZIN<br />
Ganz gleich ob in städtischen Quartieren oder<br />
ländlichen Gemeinden: Wir bündeln die Gesundheitsförderung,<br />
Prävention, Information, Beratung<br />
wie auch die Vermittlung haushaltsnaher<br />
Dienstleistungen oder ambulanter Pflegedienste<br />
und stationärer Pflegeheime in integrierten Gesundheitszentren.<br />
Eine integrierte multiprofessionelle<br />
Versorgung verkürzt Anfahrtswege und<br />
ermöglicht eine zielgenauere Betreuung der zu<br />
Pflegenden und ihrer Angehörigen.<br />
Unter den Begriff der Telemedizin werden diagnostische<br />
und therapeutische Verfahren zur Überwachung des<br />
Gesundheitszustandes eines Patienten über größere<br />
räumliche Entfernungen hinweg gefasst. Arzt, Therapeut<br />
und Patient können – trotz räumlicher Trennung – mittels<br />
audiovisueller Kommunikationstechnologien miteinander<br />
in Kontakt treten.<br />
Die Telemedizin wird beispielsweise zur Dokumentation<br />
und Übermittlung von Vitalparametern (Blutdruck, Gewicht)<br />
oder für Patientengespräche genutzt. Sie kommt bisher vor<br />
allem in Form der Telenotversorgung – elektronische<br />
Notrufsysteme – zum Einsatz. Als Modellregion für die<br />
Anwendung telemedizinischer Verfahren dient in <strong>NRW</strong><br />
das Projekt „Telemedizin kommt an in OWL“. Ziel dieser<br />
Modellregion Telemedizin Ostwestfalen-Lippe (OWL) ist die<br />
Etablierung einer telemedizinfreundlichen Versorgungskultur,<br />
etwa durch Ärztefortbildungen oder kostenlose<br />
Erstberatungen über Projektkonzepte und Technologien.<br />
TELEMEDIZIN FÖRDERN,<br />
DIGITALISIERUNG NUTZEN!<br />
Wir wollen das Gesundheitssystem noch stärker<br />
an den Bedürfnissen älterer Menschen ausrichten.<br />
Wir setzen uns deshalb für den breiten Ausbau<br />
der Telemedizin ein. Der Pflegefachkräfteund<br />
Ärztemangel wird sich bis 20<strong>30</strong> weiter zuspitzen:<br />
Die Wege zum nächsten Arzt werden<br />
vor allem in ländlichen Räumen länger und beschwerlicher.<br />
Die Telemedizin erleichtert den<br />
Austausch mit und die Diagnostik durch den Arzt,<br />
sie erhöht die Mobilität und trägt zur Selbstbestimmung<br />
älterer Menschen bei.<br />
Der breite Ausbau der Telemedizin und Telenotversorgung<br />
in weniger urbanisierten Regionen<br />
ersetzt keinen Arzt, verbessert jedoch die Lebensumstände<br />
und somit auch die Lebensqualität<br />
älterer Menschen. Bis 20<strong>30</strong> wollen wir auch auf<br />
Bundesebene für ein Programm zur Förderung<br />
der Telemedizin im ländlichen Raum werben. Um<br />
eine breitere Nutzung dieser Techno logien zu<br />
erreichen, müssen telemedizinische Leistungen<br />
für Kliniken, Praxen und Patienten besser abrechenbar<br />
sein: Die Telemedizin muss bis spätestens<br />
20<strong>30</strong> Teil der medizinischen Regelversorgung<br />
sein.<br />
Wir wollen die Digitalisierung ebenso wie den<br />
damit verbundenen Einsatz neuer Techniken in<br />
der stationären, ambulanten und häuslichen<br />
Pflege unter Wahrung humanitärer Grundsätze<br />
und des Datenschutzes aktiv mitgestalten. Eine<br />
Aufweichung der Netzneutralität ist zur Erreichung<br />
dieses Ziels nicht nötig. Die Technik soll<br />
ältere Menschen und Pflegebedürftige in ihrem<br />
Alltag unterstützen, nicht bevormunden oder<br />
entmündigen.<br />
Die Zahl der Menschen, die ihren Alltag nicht<br />
selbstständig bestreiten können und auf die pflegerische<br />
Hilfe anderer angewiesen sind, wird bis<br />
20<strong>30</strong> deutlich wachsen. Dementsprechend muss<br />
die Anzahl der Hilfs- und Fachkräfte in der Altenpflege<br />
erhöht werden. Der Pflegeberuf leidet<br />
gleichwohl unter ungünstigen Rahmenbedingungen:<br />
Die Bezahlung ist zu gering, die mit dem<br />
Beruf verbundenen körperlichen Anstrengungen<br />
sind überaus groß. Die hohe Arbeitsdichte
78 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Lebensqualität und Selbstbestimmung im Alter<br />
und Mehrarbeitsbelastungen führen zu Überarbeitung<br />
und Unzufriedenheit. Kranken- und Altenpflegekräfte<br />
werden mehrheitlich in Teilzeit<br />
beschäftigt – im Vergleich zu anderen Branchen<br />
überdurchschnittlich häufig.<br />
Im Nordrhein-Westfalen des Jahres 20<strong>30</strong> soll<br />
der Pflegeberuf gerechter bezahlt, flexibler<br />
wahrnehmbar und mit mehr Aufstiegschancen<br />
verbunden sein. Wir streben zudem eine<br />
grundlegende Reform der Pflegeausbildung und<br />
die Bereitstellung zusätzlicher Weiterqualifizierungsmöglichkeiten<br />
an. Pflegeberufe werden<br />
mehrheitlich immer noch von Frauen ausgeübt:<br />
Mehr als 80 Prozent der im ambulanten und<br />
stationären Pflegebereich Beschäftigten sind<br />
weiblich. Die Verbesserung der Ausbildung und<br />
die Erhöhung der Entlohnung zielen auch darauf,<br />
mehr Männer für eine Tätigkeit im Pflegesektor<br />
zu gewinnen.<br />
GEBÜHRENFREIE AUSBILDUNGS- UND<br />
STUDIENGÄNGE FÜR DIE PFLEGE<br />
Die Ausbildungskosten sind gebührenfrei und Arbeitskleidung<br />
wird allen kostenfrei zur Verfügung<br />
gestellt. Unser Ziel ist eine angemessene Ausbildungsvergütung<br />
im Bereich der Alten-, Krankenund<br />
Kinderkrankenpflege – wo dies nicht der Fall<br />
ist, streben wir bis 20<strong>30</strong> die Einführung einer<br />
Mindestausbildungsvergütung an.<br />
Bedarfsgerechte Diagnostik<br />
• Integrierte Gesundheitszentren<br />
• Telemedizin als Teil der<br />
medizinischen Grundversorgung<br />
Soziale Teilhabe<br />
• Seniorenstudiengänge<br />
• Seniorenbörsen<br />
• Mitarbeit in lokalen Strukturen<br />
(in Wohlfahrtsverbänden, in<br />
Großelternakademien oder als<br />
Quartiersmanager)<br />
SELBSTBESTIMMTES<br />
LEBEN<br />
Familienzeit<br />
• Bonuskarte zur Nutzung haushaltsnaher<br />
Dienstleistungen<br />
• Effektivere finanzielle Unterstützung<br />
von Familien (Pflegeunterstützungsgeld<br />
und Familienpflegezeit)<br />
• Pflegende Angehörige müssen entlastet<br />
werden, durch ambulante Pflegedienste<br />
und die vereinfachte Inanspruchnahme<br />
der Kurzzeitpflege<br />
Altersgerechtes Wohnen<br />
• Mehrgenerationenhäuser<br />
• Mehrgenerationenwohnen<br />
• Alten-WGs<br />
• Technische Unterstützungssysteme<br />
entlasten Familienangehörige und<br />
Pflegepersonal
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Lebensqualität und Selbstbestimmung im Alter 79<br />
Integrierte Gesundheitszentren, die unterschiedliche<br />
Professionen und Dienste unter einem Dach<br />
vereinigen, sind auf die Koordinationstätigkeit<br />
studierter Gesundheits- und Pflegewissenschaftler<br />
angewiesen. Hausinterne Pflege- oder Gesundheitsmanager<br />
können beispielsweise dabei<br />
helfen, Versorgungsbedarfe von Patienten zielgerichteter<br />
zu ermitteln und diese schnell an das<br />
zuständige Fachpersonal zu vermitteln.<br />
Die SPD-geführte Landesregierung etabliert flächendeckend<br />
Pflegestudiengänge. Wir werden die<br />
akademische Ausbildung im Pflegebereich noch<br />
praxisnäher gestalten, den Austausch mit Pflegediensten<br />
und -heimen fördern – denn: Pflege<br />
findet dort statt, wo Menschen leben.<br />
MEHR AUSBILDUNGSPLÄTZE, MEHR DURCH-<br />
LÄSSIGKEIT UND BESSERE WEITERBILDUNG<br />
Wir werden uns auf Bundesebene dafür einsetzen,<br />
dass die Kosten aller Pflegeausbildungen über<br />
eine bundeseinheitliche Ausbildungsplatzumlage<br />
getragen werden.<br />
Die Umlage kann über die<br />
Einrichtung eines Ausbildungsfonds<br />
finanziert werden. In <strong>NRW</strong><br />
haben wir die Zahl der Auszubildenden<br />
in der Pflege im Zeitraum<br />
von 2010 bis 2014 um 70 Prozent<br />
steigern können. Damit in Zukunft<br />
auch die geburtenstarken<br />
Jahrgänge angemessen versorgt<br />
werden können, muss das Land<br />
beständig um den Pflegekräftenachwuchs<br />
werben.<br />
Jungen Menschen, die sich für eine Ausbildung<br />
im Pflegesektor entscheiden, müssen Perspektiven<br />
eröffnet werden: Innerbetriebliche Karriereund<br />
Aufstiegschancen sollen gefördert, die<br />
Durchlässigkeit des Pflegeberufes soll verbessert<br />
werden. Für berufserfahrene Pflegehilfskräfte<br />
mit Eignung zur Pflegefachkraft müssen vereinfachte<br />
Bildungswege zur Weiterqualifizierung<br />
geschaffen werden. Die fachliche Aufwertung<br />
» UNSER ZIEL<br />
IST EINE<br />
ANGEMESSENE<br />
AUSBILDUNGS-<br />
VERGÜTUNG IM<br />
BEREICH DER<br />
ALTEN-, KRANKEN-<br />
UND KINDER-<br />
KRANKENPFLEGE «<br />
des Pflegeberufes muss bei zukünftigen Lohnverhandlungen<br />
der Tarifpartner noch stärker<br />
berücksichtigt werden.<br />
ARBEITSBEDINGUNGEN VERBESSERN.<br />
DIALOG FÜR GUTE ARBEIT IN DER PFLEGE<br />
Pflegearbeit ist körperlich und psychisch anstrengend<br />
– die Beschäftigungsverhältnisse sind<br />
meist gering entlohnte Teilzeitbeschäftigungen.<br />
Umfragen zeigen: Pflegekräfte sind besonders<br />
motiviert, kritisieren aber, dass die finanzielle<br />
Wertschätzung ihrer Tätigkeit ausbleibt. Die<br />
SPD-Fraktion möchte bis zum Jahr 20<strong>30</strong> auf eine<br />
deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen<br />
von Beschäftigten in allen Pflegebranchen hinwirken.<br />
Dazu gehört für uns auch eine striktere<br />
Einhaltung der Arbeitszeitordnung: Pflegekräfte<br />
benötigen geregelte Arbeits- und Freizeiten. Wir<br />
wollen den Dialog mit Gewerkschaften, Kirchen<br />
sowie freien, gemeinnützigen und öffentlichen<br />
Trägern ambulanter und stationärer Pflegedienste<br />
in Form eines ständigen runden<br />
Tisches intensivieren. Dieser Dialog<br />
für gute Arbeit in der Pflege<br />
soll die aktuellen Arbeitsbedingungen<br />
von Pflege hilfskräften<br />
und -fachkräften diskutieren<br />
und konkrete Vorschläge zur<br />
Verbesserung der Attraktivität<br />
des Pflegeberufes erarbeiten.<br />
MEHR VOLLZEIT UND<br />
FLEXIBLE PFLEGETEILZEIT<br />
Unser Ziel ist es, das Verhältnis<br />
von 70 Prozent Teilzeitund<br />
<strong>30</strong> Prozent Vollzeitstellen<br />
Schritt für Schritt umzukehren. Gut bezahlte<br />
Vollzeitbeschäftigung in der Pflege darf nicht<br />
die Ausnahme, sondern muss die Regel werden.<br />
Zugleich wollen wir den Einstieg in die befristete<br />
Teilzeitarbeit vereinfachen. Wer Familienangehörige<br />
pflegt, muss flexibel und schnell in die<br />
Teilzeitarbeit – und zurück in die Vollzeitarbeit –<br />
wechseln können.
80 DU BIST NICHT ALLEIN!<br />
Lebensqualität und Selbstbestimmung im Alter<br />
GERECHTE BEZAHLUNG IN DER PFLEGE<br />
Der von uns auf Bundesebene durchgesetzte<br />
Mindestlohn für Pflegekräfte (Pflegemindestlohn)<br />
ist nur ein erster Schritt: Mit Beginn des<br />
Jahres 2017 wird der Stundenlohn für Pflegehilfskräfte<br />
in den alten Bundesländern bei<br />
10,20 Euro, in den neuen Bundesländern bei<br />
9,50 Euro liegen. Dieser Satz muss jährlich überprüft<br />
und erhöht werden. Für andere Hilfstätigkeiten,<br />
etwa im haushaltsnahen Bereich, soll der<br />
allgemeine gesetzliche Mindestlohn gelten. Wer<br />
für die Zukunft mehr Fachkräfte in der Altenpflege<br />
fordert, darf die gegenwärtig Aktiven<br />
nicht vergessen: Wir wollen uns für eine bessere<br />
Entlohnung von Pflegefachkräften in der ambulanten<br />
und stationären Pflege einsetzen. Fachkräfte<br />
müssen leistungsgerecht bezahlt werden.<br />
PFLEGE GERECHT ORGANISIEREN<br />
Die Mehrheit der Pflegebedürftigen wird in<br />
Nordrhein-Westfalen nach wie vor von Familien -<br />
angehörigen – mit großer Mehrheit von Frauen –<br />
gepflegt: Doch auch diese Angehörigen benötigen<br />
die Hilfe ambulanter Pflegedienste, sie<br />
brauchen Zeit und finanzielle Sicherheit. Die<br />
Zahl kinderloser Frauen und Männer nimmt zu –<br />
ältere Menschen werden im Jahr 20<strong>30</strong> in zunehmendem<br />
Maße auf die Unterstützung professioneller<br />
Hilfe in der Pflege angewiesen sein – sowohl<br />
in ihren eigenen vier Wänden oder betreuten<br />
Wohngemeinschaften mit Unterstützung<br />
ambulanter Pflegedienste als auch in stationären<br />
Pflegeheimen.<br />
Die Inanspruchnahme ambulanter Pflegedienste<br />
soll Angehörige entlasten. Die stationäre Pflege<br />
muss qualitativ verbessert und Betriebe müssen<br />
für die Bedürfnisse pflegender Familienangehöriger<br />
weiter sensibilisiert werden. Die Vereinbarkeit<br />
von Familie, Beruf und Pflege kann in <strong>NRW</strong><br />
kann nur dann gelingen, wenn wir Pflege in den<br />
kommenden Jahren gerecht organisieren. Die<br />
Förderung und Nutzung neuer Technologien wie<br />
der Telemedizin oder Robotik soll pflegende Angehörige<br />
unterstützen und entlasten.<br />
Nordrhein-Westfalen im Jahr 20<strong>30</strong> soll ein pflegegerechtes<br />
Land sein, in dem Familien der zentrale<br />
Ort der Pflege bleiben und der Grundsatz „ambulant<br />
vor stationär“ seine Gültigkeit behält. Unser<br />
Ziel für die kommenden Jahre ist es, die partnerschaftliche<br />
Vereinbarkeit von Familie, Beruf und<br />
Pflege zu ermöglichen, bestehende stationäre<br />
Pflegeangebote zu verbessern und die Neugründung<br />
von Wohngemeinschaften für ältere<br />
Menschen zu vereinfachen.<br />
EIN NEUER PERSONALSCHLÜSSEL UND<br />
EINE BESSERE SOZIALVERSICHERUNG<br />
Der Personalschlüssel für die stationäre Altenpflege<br />
muss in den nächsten Jahren grundlegend<br />
reformiert werden. Hochwertige Pflege benötigt<br />
Fachkräfte, die über genügend Zeit verfügen müssen,<br />
sich der Anliegen pflegebedürftiger Menschen<br />
anzunehmen. Der für den Pflegebereich<br />
zugrunde gelegte Personal- bzw. Pflegeschlüssel<br />
zeigt an, wie viel Pflegepersonal pro Pflegeheimbewohner<br />
zur Verfügung steht.<br />
Um ein gerechteres Pflegeverhältnis gewährleisten<br />
zu können, muss das Personal in Pflegeheimen<br />
und Krankenhäusern aufgestockt werden.<br />
Um dieses Ziel zu erreichen, wollen wir den<br />
Dialog mit Gewerkschaften und privaten, freien<br />
und öffentlichen Pflegeheim- und Krankenhausträgern<br />
intensivieren.<br />
Bis 20<strong>30</strong> wird die Personalaufstellung in der<br />
Kranken- und Altenpflege schrittweise verbessert.<br />
Mehr Planstellen und eine angemessene<br />
Personal ausstattung helfen dabei, die Pflegehilfs-<br />
und -fachkräfte in der ambulanten und<br />
stationären Pflege besser einteilen und Pflegebedürftige<br />
zuweisen zu können.<br />
Der Zeitraum der Pflege muss vollständig bei<br />
der Rentenversicherung berücksichtigt werden.<br />
Mehr als 90 Prozent der häuslichen Pflege, die<br />
Angehörige erbringen, werden von Frauen geleistet,<br />
deren Altersversorgung gesichert werden<br />
muss. Denn: Wer Familienangehörige pflegt,
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Lebensqualität und Selbstbestimmung im Alter 81<br />
geht einer gesellschaftlich wichtigen Tätigkeit<br />
nach, die den Staat finanziell erheblich entlastet.<br />
Mit der Bürgerversicherung haben wir bis 20<strong>30</strong><br />
ein solidarisches Modell der Beitragsbemessung<br />
in der Kranken- und Pflegeversicherung verwirklicht.<br />
Die Bürgerversicherung beendet die<br />
„Zweiklassenmedizin“ und stellt die Teilhabe<br />
aller am medizinischen Fortschritt sicher. Wir<br />
sind der Auffassung, dass nur so eine gerechte,<br />
zukunftsfeste Versorgung und Finanzierung des<br />
Gesundheitssystems ermöglicht werden kann.<br />
ROBOTIK UND TECHNISCHE UNTERSTÜTZUNGS-<br />
SYSTEME: ENTLASTUNG FÜR DAS PFLEGE-<br />
PERSONAL UND MEHR EIGENSTÄNDIGKEIT<br />
FÜR PFLEGEBEDÜRFTIGE<br />
Die Förderung und Nutzung neuer Technologien<br />
wie der Telemedizin oder Robotik soll pflegende<br />
Angehörige unterstützen und entlasten.<br />
Der Einsatz von Pflegetechniken ist für uns keine<br />
Antwort auf den prognostizierten Fachkräftemangel<br />
im Pflegesektor, sondern eine Ergänzung<br />
der häuslichen, ambulanten und stationären<br />
Pflege. Der Einsatz der Robotik kann zur Verbesserung<br />
der gesundheitlichen Arbeitsbedingungen<br />
im Pflegebereich führen – und somit die<br />
Attraktivität des ganzen Berufsfeldes erhöhen.<br />
Das Pflegepersonal wird entlastet und Pflegebedürftige<br />
gewinnen ein Stück Eigenständigkeit<br />
zurück.<br />
Die Nutzung bereits existierender technischer<br />
Hilfsmittel im eigenen häuslichen Umfeld muss –<br />
ähnlich wie bei den Rollatoren oder Rollstühlen<br />
– über die Kranken- und Pflegeversicherung<br />
verfügbar gemacht werden. In der stationären<br />
Pflege können technische Unterstützungssysteme<br />
wie teilautomatisierte Personenlifter oder<br />
körpergetragene Hebehilfen bei Routinetätigkeiten<br />
wie dem Waschen oder Heben helfen. Wir<br />
wollen die bedarfsgerechte Entwicklung dieser<br />
Techniken unter Einbeziehung des anwendenden<br />
Pflegepersonals und der nutzenden Pflegeempfänger<br />
bis 20<strong>30</strong> weiter vorantreiben.<br />
HOSPIZ- UND PALLIATIVVERSORGUNG:<br />
IN WÜRDE ABSCHIED NEHMEN<br />
Wir setzen uns für den flächendeckenden Ausbau<br />
der Gesundheits-, Gesundheitsberatungsund<br />
Pflegeinfrastruktur im ländlichen und städtischen<br />
Raum ein. Dazu gehört für uns auch<br />
der bedarfsgerechte Aufbau einer Hospiz- und<br />
Palliativversorgungsstruktur. Wir haben uns<br />
auf Bundesebene für die Verabschiedung des<br />
„Gesetzes zur Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung“<br />
eingesetzt. Mit dem Gesetz haben<br />
wir einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der<br />
Strukturen in der Hospiz- und Palliativversorgung<br />
geleistet.<br />
Wir wollen die finanziellen Rahmenbedingungen<br />
von Krankenhäusern und Pflegeheimen in<br />
<strong>NRW</strong> weiter verbessern. Der Rechtsanspruch auf<br />
Beratung wird durch zusätzliche Investitionen<br />
in Beratungsangebote mit Leben gefüllt. Gesundheitszentren<br />
werden bei der Beratung von<br />
Betroffenen und Angehörigen sowie der Vernetzung<br />
von Angeboten der Hospiz- und Palliativversorgung<br />
entscheidend mithelfen. Ambulante<br />
und stationäre Hospizdienste müssen dafür<br />
finanziell noch besser ausgestattet werden.<br />
Bis 20<strong>30</strong> wird es in Nordrhein-Westfalen eine gute<br />
Versorgungslandschaft im Bereich Gesundheit<br />
und Pflege geben, unter anderem im Palliativund<br />
Hospizbereich. Hier können sich die Menschen<br />
auf die letzte Reise vorbereiten, in Würde<br />
gehen. Die Angehörigen haben die Möglichkeit,<br />
jederzeit dort zu sein und sich zu verabschieden.<br />
Es findet eine Begleitung durch professio nelle<br />
Teams statt. Ein Sterben in Würde gehört zu<br />
einem selbstbestimmten Leben dazu.
3<br />
HEIMAT BEGINNT<br />
VOR DER HAUSTÜR!
HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
SOZIALDEMOKRATISCHE POLITIK FÜR<br />
LEBENSWERTE STÄDTE UND GEMEINDEN<br />
Lebensqualität ist immer konkret, nie abstrakt. Sicherheit und Zusammenhalt<br />
muss man fühlen können. Gerechtigkeit muss man erfahren<br />
und wirtschaftliche Stärke auch persönlich spüren können. Und all das<br />
nicht irgendwo, sondern dort, wo Menschen zuhause sind: in ihren Städten<br />
und Gemeinden, in ihren Wohnvierteln und Quartieren.<br />
Bis 20<strong>30</strong> werden wir die öffentliche Lebensqualität in unseren Kommunen<br />
deutlich heben. Wir werden bis zu sechs Milliarden Euro in die Stadtentwicklung<br />
investieren. Wir werden Stadtteile modernisieren und –<br />
wo nötig – ganze Wohnquartiere sanieren. Wo es einen Trend zu stetig<br />
steigenden Mieten gibt, werden wir ihn brechen. Bis 20<strong>30</strong> werden wir bis<br />
zu zwei Millionen gute und bezahlbare Wohnungen für Nordrhein-Westfalen<br />
schaffen. Mehr noch: Im Rheinischen Revier bauen wir eine neue<br />
Stadt.<br />
Wir werden unsere Kommunen in die Lage versetzen, dem demografischen<br />
Wandel zu trotzen: Ganz gleich ob in der Stadt oder auf dem Land – jede<br />
Bürgerin und jeder Bürger wird auf eine hochwertige Daseinsvorsorge<br />
zählen können. Dazu nutzen wir die neuen Möglichkeiten digitaler Technologien.<br />
Wir bauen ein Internet der Mobilität für <strong>NRW</strong> und erneuern<br />
seinen öffentlichen Nahverkehr.<br />
Nicht zuletzt sind wir entschlossen, allen Städten und Gemeinden zu<br />
gesunden Finanzen zu verhelfen. Es geht um nicht weniger als um den<br />
Erhalt der lokalen Demokratie. Denn nur eine handlungsfähige Gemeinde<br />
kann das Versprechen auf Lebensqualität und demokratische Mitbestimmung<br />
auch einlösen.
84<br />
HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Was bedeutet öffentliche Lebensqualität? Eine Antwort aus Oberhausen
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Was bedeutet öffentliche Lebensqualität? Eine Antwort aus Oberhausen 85<br />
WAS BEDEUTET<br />
ÖFFENTLICHE LEBENSQUALITÄT?<br />
EINE ANTWORT AUS OBERHAUSEN<br />
“ Ausgerechnet Oberhausen?“<br />
Ungläubiges Staunen ist zumeist die erste Reaktion, wenn Anne (34) und<br />
Jonas (36) im Freundes- und Kollegenkreis von ihren Umzugsplänen erzählen.<br />
Sie ziehen im Sommer 2017 mit ihren zwei Kindern von Köln-Nippes in das<br />
Oberhausener Marienviertel. Dort haben sie ein Einfamilienhaus gekauft,<br />
das es nun zu renovieren gilt.<br />
Doch warum verlässt eine Mittelschichtfamilie<br />
das schöne Köln,<br />
um eine Stadt zu ihrer Wahlheimat<br />
zu machen, die in bestimmten<br />
Kreisen nicht das beste Image<br />
genießt? Jonas lächelt: „Die Frage stellen nur<br />
Leute, die das Ruhrgebiet kaum kennen und<br />
Oberhausen schon gar nicht.“<br />
Dabei ist der erste und wichtigste Grund für ihren<br />
Wohnortwechsel sehr einfach: „Wir haben jetzt<br />
zwei kleine Kinder. Wir brauchen mehr Platz und<br />
möchten auch mehr Wohnqualität – einen Garten<br />
zum Beispiel. So schön es in Köln auch ist, ein Einfamilienhaus<br />
ist dort unbezahlbar.<br />
Dabei verdienen wir nicht<br />
mal schlecht. Und ich glaube,<br />
selbst die Mieten werden in Köln<br />
für eine normale Familie schon<br />
bald nicht mehr bezahlbar sein.“<br />
Der zweite Grund für Oberhausen<br />
ist die gute Verkehrsanbindung<br />
der Stadt. Jonas arbeitet in Duisburg<br />
und Anne noch in Köln. Sie will sich aber beruflich<br />
verbessern. „Wir werden nah am Hauptbahnhof<br />
wohnen“, erklärt Jonas. „Anne kann überall zwischen<br />
Düsseldorf und Dortmund eine neue Stelle<br />
antreten. Alles ist gut erreichbar. Das ist sehr<br />
wichtig!“ Hinzu kommt die Auswahl an Kitas und<br />
»WIR BRAUCHEN<br />
MEHR PLATZ<br />
UND AUCH MEHR<br />
WOHNQUALITÄT«<br />
Schulen. „Für unsere Kinder haben wir eine ortsnahe<br />
Anbindung an alle Schulen – und das über<br />
Jahre.“<br />
Nicht zuletzt wollen die beiden auf die kulturellen<br />
Vorzüge einer Großstadt nicht verzichten. „Denn<br />
das ist Oberhausen ja auch: eine Großstadt, meine<br />
ich. Hier gibt es ein Theater, das Ebert-Bad, den<br />
Kaisergarten und auch nette Restaurants. Einkaufen<br />
kann man hier auch gut. Und ganz ehrlich:<br />
Ich mag die Mentalität im Ruhrgebiet. Wir wollen<br />
auch nicht, dass unsere Kinder in einem abgeschotteten<br />
Akademiker-Milieu aufwachsen. Die<br />
beiden sollen in einer – ich sage mal – gemixten<br />
Gegend groß werden, mit ganz<br />
normalen Leuten.“ Dennoch: Jonas<br />
gibt zu, dass sich die beiden<br />
manchmal schon fragen, ob sie<br />
die richtige Entscheidung getroffen<br />
haben. „Wir fragen uns zum<br />
Beispiel, ob wir das Haus auch<br />
wieder zu einem guten Preis<br />
verkaufen können, wenn wir es wollen oder müssen.<br />
Hätten wir den Stadtteil nicht zufällig schon<br />
über Freunde ein wenig kennengelernt, würden<br />
wir jetzt nicht dorthin ziehen. Oberhausen hat<br />
schließlich auch eine Menge sozialer Probleme.<br />
Aber wir hoffen einfach mal auf die Stärken und<br />
die Entwicklung im Ruhrgebiet.“
86 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Was bedeutet öffentliche Lebensqualität? Eine Antwort aus Oberhausen<br />
Fast alles, was Anne und Jonas von ihrem Wohnort<br />
erwarten, ist für die Wünsche und Vorstellungen<br />
der meisten Menschen in Deutschland und Nordrhein-Westfalen<br />
repräsentativ.<br />
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass für die<br />
Lebensqualität, den Zusammenhalt und auch die<br />
Zufriedenheit von Menschen schon sehr viel gewonnen<br />
ist,<br />
wenn sich Menschen in ihrem Lebensumfeld<br />
sicher fühlen können,<br />
wenn es dort Grünanlagen und Spielplätze gibt,<br />
wenn Mieten bezahlbar bleiben,<br />
wenn es dort ein lebendiges Kultur- und Vereinsleben<br />
gibt,<br />
wenn Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten in<br />
der Nähe sind,<br />
wenn Eltern gute Schulen und Kitas finden,<br />
die nichts kosten und eine Ganztagsbetreuung<br />
bieten,<br />
wenn die Wege zur Arbeit, zur Schule und zum<br />
Arzt zumutbar bleiben.<br />
All das sind Kennzeichen einer guten Stadtentwicklungs-<br />
und Quartierspolitik. Für die Lebensqualität<br />
und die Zufriedenheit der Menschen in<br />
unserem Land kann und muss Politik eine Menge<br />
tun. Es ist unsere feste Überzeugung, dass man<br />
Stadtteile, Dörfer und Quartiere nicht sich selbst<br />
überlassen darf. Sie sind keine reinen Marktobjekte.<br />
Hier sind Menschen zuhause. Ihre Heimat<br />
beginnt vor der Haustür und sie haben ein Recht<br />
darauf, dass man sich um ihre Heimat kümmert.<br />
Es gibt gewiss viele gute Gründe, in eine andere<br />
Stadt oder in ein anderes Viertel zu ziehen. Aber<br />
niemand darf dazu gezwungen sein, weil Mieten<br />
unbezahlbar werden oder weil die öffentliche Lebensqualität<br />
sinkt. Damit finden wir uns nicht ab.<br />
Lebenswerte Städte und Gemeinden sind eine<br />
Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts und<br />
der sozialen Gerechtigkeit. Sie sind nicht nur Ausdruck,<br />
sondern zugleich auch die Voraussetzung<br />
für wirtschaftlichen Erfolg.<br />
Gleichwohl wissen wir, dass längst nicht jede<br />
Stadt und jedes Quartier alle Kriterien erfüllen<br />
kann. Einige verlieren sogar immer mehr an öffentlicher<br />
Lebensqualität. Um öffentliche Lebensqualität<br />
zu erhalten und schließlich auch wieder<br />
zu steigern, müssen wir wissen, welche Herausforderungen<br />
bis 20<strong>30</strong> auf unsere Städte und<br />
Gemeinden zukommen. Nur dann kann es gelingen,<br />
Lösungen zu finden, negative Trends umzukehren<br />
und positive Trends zu verstärken.<br />
i<br />
WAS IST EIN QUARTIER?<br />
WAS BEDEUTET QUARTIERSPOLITIK?<br />
„Quartier“ ist ein Fachbegriff aus der Stadtsoziologie. Er<br />
umfasst alles, was umgangssprachlich als „Wohngegend“,<br />
„Kiez“ oder „Veedel“ bezeichnet wird. Ein Quartier kann<br />
auch ein ganzes Dorf oder ein ganzer Stadtteil sein, manchmal<br />
aber nur wenige Straßenzüge umfassen. Ein Quartier<br />
lässt sich zwar räumlich eingrenzen, aber seine Grenzen<br />
werden nicht offiziell festgelegt, sondern durch die Bewohner<br />
selbst. Es ist der überschaubare Ort ihres Alltagslebens:<br />
Hier wohnen sie, gehen einkaufen, verbringen den Großteil<br />
ihre Freizeit und pflegen Nachbarschaften.<br />
Jedes Quartier hat eigene Kennzeichen: Art, Stil und Zustand<br />
seiner Gebäude und Straßen; Sicherheit, Einkaufsmöglichkeiten,<br />
medizinische Versorgung; Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebote,<br />
Anschluss an den ÖPNV; Anzahl und Zustand<br />
von Grünflächen und Spielplätzen; auch der soziale Status<br />
(z. B. Einkommen) und die ethnische Zusammensetzung<br />
seiner Einwohner gehören dazu. Weil der Zustand eines Quartiers<br />
einen großen Einfluss auf die Lebensqualität und auch<br />
die Lebenschancen seiner Bewohner hat, zielt die Quartierspolitik<br />
auf den Erhalt und die Verbesserung der öffentlichen<br />
Lebensqualität in dieser Kleinräumigen Alltagswelt.<br />
Quartierspolitik ist konkrete Politik mit großer Wirkung<br />
auf kleinem Raum.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: Trends und Herausforderungen für Städte und Gemeinden 87<br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>:<br />
TRENDS UND HERAUSFORDERUNGEN<br />
FÜR STÄDTE UND GEMEINDEN<br />
PROGNOSTIZIERTE<br />
BEVÖLKERUNGSVERÄNDERUNG<br />
IN NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
01.01.20<strong>30</strong> gegenüber 01.01.2013 (Basis VZ 87)<br />
Steinfurt<br />
Minden-Lübbecke<br />
Herford<br />
Borken<br />
Münster<br />
Bielefeld<br />
Lippe<br />
Coesfeld<br />
Warendorf<br />
Gütersloh<br />
VERÄNDERUNG DER<br />
BEVÖLKERUNGSZAHL<br />
01.01.2040 GEGEN-<br />
ÜBER 01.01.2014<br />
Unter – 8,5 %<br />
– 8,5 % bis unter – 4,0 %<br />
– 4,0 % bis unter – 1,0 %<br />
– 1,0 % bis unter +3,5 %<br />
+3,5 % und mehr<br />
Kleve<br />
Heinsberg<br />
Städteregion<br />
Aachen<br />
Viersen<br />
Düren<br />
Wesel<br />
Krefeld<br />
Mönchengladbach<br />
Rhein-<br />
Kreis<br />
Neuss<br />
14 Essen<br />
13<br />
12<br />
Rhein-<br />
Erft-Kreis<br />
Euskirchen<br />
15<br />
1<br />
Recklinghausen<br />
Mettmann<br />
10<br />
Köln<br />
2<br />
9<br />
7<br />
Bonn<br />
11<br />
3<br />
4<br />
8<br />
5 6<br />
Rhein-Sieg-Kreis<br />
Oberbergischer<br />
Kreis<br />
Unna<br />
Hamm<br />
Märkischer<br />
Kreis<br />
Olpe<br />
Soest<br />
Hochsauerlandkreis<br />
Dortmund<br />
Siegen-<br />
Wittgenstein<br />
Paderborn<br />
Höxter<br />
1 Bottrop<br />
2 Gelsenkirchen<br />
3 Herne<br />
4 Bochum<br />
5 Ennepe-Ruhrkreis<br />
6 Hagen<br />
7 Wuppertal<br />
8 Remscheid<br />
9 Solingen<br />
10 Leverkusen<br />
11 Rheinisch-Bergischer<br />
Kreis<br />
12 Düsseldorf<br />
13 Mülheim a. d. R.<br />
14 Duisburg<br />
15 Oberhausen<br />
Die wichtigsten Zukunftstrends für<br />
die Städte und Gemeinden in<br />
Nordrhein-Westfalen sind der<br />
demografische Wandel und die<br />
Urbanisierung. Der demografische<br />
Wandel wird oft mit der Alterung und Schrumpfung<br />
der Bevölkerung gleichgesetzt. Das stimmt<br />
bis 20<strong>30</strong> nur bedingt. Tatsächlich wird in den<br />
kommenden 15 Jahren die Bevölkerung in <strong>NRW</strong><br />
kaum schrumpfen. Einige Prognosen gehen sogar<br />
von einem leichten Wachstum aus. Der Rückgang<br />
der Einwohnerzahl wird erst nach 20<strong>30</strong> einsetzen.<br />
Der Grund für diesen Aufschub ist die Einwanderung<br />
von Menschen aus Europa und aus<br />
den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren<br />
Ostens.<br />
Der demografische Wandel ist in den kommenden<br />
Jahren vor allem ein Wandel der Zusammensetzung<br />
und der Herkunft unserer Bürgerinnen<br />
und Bürger. Einwanderer sind meist jung und<br />
bekommen mehr Kinder. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung<br />
wächst. Die alteingesessenen<br />
Einwohner hingegen werden älter und ihr Anteil<br />
sinkt.<br />
WACHSENDE STÄDTE<br />
In Nordrhein-Westfalen gibt es 13 Großstädte<br />
mit mehr als 250.000 Einwohnern – mehr als<br />
in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und<br />
Nieder sachsen zusammen. Insgesamt leben über<br />
zehn Millionen Menschen in der Metropolregion<br />
Rhein-Ruhr. Mit anderen Worten: Zu mehr als
88 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: Trends und Herausforderungen für Städte und Gemeinden<br />
ANTEIL DER BEVÖLKERUNG<br />
MIT MIGRATIONSHINTERGRUND<br />
AN DER GESAMTBEVÖLKERUNG<br />
IN NORDRHEIN-WESTFALEN 2012<br />
Ergebnisse des Mikrozensus<br />
Minden-Lübbecke<br />
Steinfurt<br />
Herford<br />
Borken<br />
Münster<br />
Bielefeld<br />
Lippe<br />
Coesfeld<br />
Warendorf<br />
Gütersloh<br />
MIGRATIONS-<br />
HINTERGRUND<br />
Unter 16 %<br />
16 % bis unter 21 %<br />
21 % bis unter 26 %<br />
26% und mehr<br />
<strong>NRW</strong>: 23,5 %<br />
Kleve<br />
Heinsberg<br />
Städteregion<br />
Aachen<br />
Viersen<br />
16<br />
Düren<br />
Recklinghausen<br />
Wesel<br />
1<br />
2<br />
3 Dortmund<br />
15<br />
4<br />
14 13 Essen<br />
Krefeld<br />
5 6<br />
Mettmann<br />
Rhein-<br />
Kreis<br />
Neuss<br />
12<br />
Rhein-<br />
Erft-Kreis<br />
Euskirchen<br />
10<br />
Köln<br />
9<br />
7<br />
Bonn<br />
11<br />
8<br />
Rhein-Sieg-Kreis<br />
Oberbergischer<br />
Kreis<br />
Unna<br />
Hamm<br />
Märkischer<br />
Kreis<br />
Olpe<br />
Soest<br />
Hochsauerlandkreis<br />
Siegen-<br />
Wittgenstein<br />
Paderborn<br />
Höxter<br />
1 Bottrop<br />
2 Gelsenkirchen<br />
3 Herne<br />
4 Bochum<br />
5 Ennepe-Ruhrkreis<br />
6 Hagen<br />
7 Wuppertal<br />
8 Remscheid<br />
9 Solingen<br />
10 Leverkusen<br />
11 Rheinisch-Bergischer<br />
Kreis<br />
12 Düsseldorf<br />
13 Mülheim a. d. R.<br />
14 Duisburg<br />
15 Oberhausen<br />
16 Mönchengladbach<br />
zwei Dritteln ist <strong>NRW</strong> ein riesiger Stadtstaat –<br />
mit all seinen Höhepunkten und Vorteilen<br />
(Bundesligavereine, Stadien, Philharmonien,<br />
Theater, Museen,<br />
Universitäten), aber auch allen<br />
Herausforderungen einer Metropole<br />
(Verkehrsaufkommen, höhere<br />
soziale Ungleichheit und erhöhte<br />
Kriminalität). Die Anforderungen<br />
an unser Bildungs- und Verkehrssystem,<br />
an die innere Sicherheit<br />
oder den Städtebau sind um Dimensionen<br />
größer als in anderen Bundesländern,<br />
von denen einige nicht einmal eine U-Bahn haben.<br />
<strong>NRW</strong> hingegen verfügt über eines der dichtesten<br />
Verkehrsnetze der Welt.<br />
» IMMER<br />
WENIGER<br />
MENSCHEN<br />
WOLLEN AUF<br />
DEM LAND<br />
LEBEN «<br />
Und die Anforderungen werden nicht kleiner.<br />
Denn der demografische Wandel geht mit einer<br />
„Urbanisierung“ einher. Immer weniger<br />
Menschen wollen auf dem<br />
Land leben. Es sind die (Groß-)Städte,<br />
wenn auch (noch) nicht alle, die<br />
neue Einwohner wie Magneten anziehen.<br />
Die Städte sind heute mehr<br />
denn je wirtschaftliche, soziale und<br />
kulturell-kreative Zentren. Junge<br />
Menschen zieht es in die Stadt, weil<br />
sie dort ihre Ausbildungs- und Studienplätze<br />
finden. Zudem ist das Job-Angebot<br />
größer und vielfältiger. Nicht zuletzt macht das<br />
Freizeit- und Kulturangebot die Städte attraktiv.<br />
Wer einmal vom Land in die Stadt gezogen ist,<br />
kehrt in der Regel nicht zurück.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: Trends und Herausforderungen für Städte und Gemeinden 89<br />
Neu ist, dass sich nun auch eine neue Generation<br />
von Älteren von den Städten angezogen<br />
fühlt. Sie lockt die gute medizinische Infrastruktur,<br />
das dichte Netz an Pflege- und haushaltsnahen<br />
Dienstleistungen sowie die fußläufige<br />
Versorgung mit Dingen des täglichen<br />
Bedarfs. Die Mehrheit der zugewanderten Einwohner<br />
hat hingegen schon immer in den Ballungszentren<br />
gelebt. Die Städte versprachen größere<br />
Chancen auf Arbeit und sozialen Aufstieg.<br />
Auch die neue Einwanderergeneration wird sich<br />
in den Ballungszentren niederlassen. Denn hier<br />
treffen sie auf Landsleute und damit auf soziale<br />
Anschlussmöglichkeiten, die ihnen das Ankommen<br />
in ihrer neuen Heimat erleichtern.<br />
Der demografische Wandel verbindet sich mit<br />
Urbanisierung und Individualisierung. Die Folge<br />
ist, dass sich auch die Art und Weise verändert,<br />
wie Menschen wohnen möchten. Statt<br />
Mehrpersonenhaushalten mit zwei bis drei<br />
Kindern dominieren inzwischen die Ein- bis<br />
Zweipersonenhaushalte mit Alleinlebenden<br />
und älteren Menschen. Vor allem in Großstädten<br />
sind mehr als 50 Prozent der Haushalte<br />
sogenannte Singlehaushalte. Zudem hat sich<br />
die Quadratmeterzahl einer Wohnung pro Person<br />
erhöht. Die Wohnungen in <strong>NRW</strong> sind heute<br />
um ein Viertel größer als noch in den 1980er<br />
Jahren. Das gilt auch für Regionen, in denen die<br />
Einwohnerzahlen rückläufig sind.<br />
Die gesteigerte Nachfrage nach Wohnraum<br />
führt in den bereits dicht besiedelten Großstädten<br />
zu Wohnungsknappheit und treibt<br />
die Mieten in die Höhe. Die Folge sind Veränderungs-<br />
und auch Verdrängungsprozesse auf<br />
dem Mietermarkt eines Viertels, die mit den<br />
Begriffen „Gentrifizierung“ und „Segregation“<br />
beschrieben werden.
90 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: Trends und Herausforderungen für Städte und Gemeinden<br />
STADT IST NICHT GLEICH STADT.<br />
UND LAND IST NICHT GLEICH LAND.<br />
Gleichwohl gibt es in <strong>NRW</strong> auch strukturschwache<br />
Städte (z. B. im Ruhrgebiet), die genauso mit<br />
Wohnungsleerstand und Bevölkerungsrückgang<br />
zu kämpfen haben wie ländliche Regionen.<br />
Oft geht durch diese Städte ein Riss: Wachsende<br />
und wohlhabende Stadtteile grenzen an<br />
schrumpfende und relativ arme Stadtteile. In<br />
diesen Städten ist die Urbanisierung noch nicht<br />
oder erst langsam zu spüren. Sie leiden noch<br />
immer an den Folgen des Strukturwandels, der<br />
viele Langzeitarbeitslose und überdurchschnittlich<br />
viele Einwohner mit nur geringen Einkommen<br />
hinterlassen hat. Das ist auch der Grund für<br />
die großen Haushaltsdefizite dieser Städte. Ihre<br />
Steuereinnahmen sind geringer, die Ausgaben<br />
für Sozialleistungen aber deutlich höher als in<br />
anderen Städten.<br />
Auf der anderen Seite gibt es in Nordrhein-Westfalen<br />
auch ländliche Regionen, die wachsen und<br />
prosperieren: Dazu zählen zum Beispiel das<br />
Münsterland, der Kreis Borken oder der Kreis<br />
Gütersloh. Ihr Vorteil ist die zentrale Lage in<br />
ihrer Region oder ihre Nähe zu Großstädten. Das<br />
prosperierende Land ist der Standort neuer mittelständischer<br />
Unternehmen und Handwerksbetriebe,<br />
wie z. B. aus der Logistikbranche, dem<br />
Dienstleistungsgewerbe oder der Informationstechnik.<br />
Das ehemals durch die Landwirtschaft<br />
geprägte Münsterland z. B. ist heute eine ländliche<br />
Industrie- und Mittelstandsregion.<br />
i<br />
WAS BEDEUTEN “<br />
GENTRIFIZIERUNG“<br />
UND “<br />
SEGREGATION“?<br />
Von „Gentrifizierung“ ist die Rede, wenn immer mehr<br />
Menschen mit höheren Einkommen in preisgünstige<br />
Viertel ziehen. Durch die neue Nachfrage zahlungskräftiger<br />
Wohnungsinteressenten und gezielte „Luxussanierungen“<br />
steigen die Mieten und Immobilienpreise. Ist ein bestimmtes<br />
Preisniveau überschritten, können sich viele der bisherigen<br />
Einwohner das Leben in ihrem einstigen Heimatviertel<br />
nicht mehr leisten. Sie ziehen weg und werden durch noch<br />
mehr Besserverdienende ersetzt. Im schlechtesten Fall droht<br />
diese Entwicklung in „Segregation“ zu münden: Eine ganze<br />
Stadt teilt sich in Akademiker-Viertel und „Luxusghettos“<br />
auf der einen sowie benachteiligte Quartiere und soziale<br />
Brennpunkte auf der anderen Seite.<br />
Segregation nimmt einer Stadt Entwicklungschancen und<br />
gefährdet ihren sozialen Zusammenhalt. Sie ist Gift für eine<br />
Stadt. Immer. Für Gentrifizierung gilt das nicht unbedingt.<br />
Hier macht die Dosis das Gift. Denn unter bestimmten Voraussetzungen<br />
kann eine dosierte Gentrifizierung durchaus<br />
erwünscht sein. Wenn Menschen aus der Mittelschicht in<br />
ein ehemaliges „Problemviertel“ ziehen, ist das ein Beweis<br />
für den Erfolg aller Maßnahmen zur Steigerung der öffentlichen<br />
Lebensqualität. Nicht zuletzt stabilisieren die neuen<br />
Bewohner diesen Erfolg, weil soziale Vielfalt einen Stadtteil<br />
gegen den sozialen Abstieg immunisiert.<br />
Gentrifizierung<br />
Segregation
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: Trends und Herausforderungen für Städte und Gemeinden 91<br />
Festzuhalten ist: Im Hinblick auf die Lebensqualität<br />
unserer Städte und Gemeinden gibt es<br />
weder die eine Herausforderung noch die eine<br />
Lösungsstrategie. Wir haben es mit sehr unterschiedlichen,<br />
zum Teil gegenläufigen Trends und<br />
Problemlagen zu tun, die man grob in vier Typen<br />
einteilen kann (siehe Grafik). Für jeden Typ muss<br />
eine eigene Strategie entwickelt werden, die auf<br />
die Probleme vor Ort zugeschnitten ist.<br />
STRUKTURSCHWACHE<br />
GROSSSTÄDTE<br />
mit innerstädtischer<br />
Segregation und Polarisierung<br />
PROSPERIERENDE<br />
GROSSSTÄDTE<br />
mit innerstädtischer Segregation<br />
und Polarisierung<br />
TYP 1 TYP 4<br />
STRUKTURSCHWACHE<br />
LÄNDLICHE RÄUME<br />
PROSPERIERENDE<br />
LÄNDLICHE RÄUME<br />
TYP 2 TYP 3
92 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
<strong>NRW</strong> 20<strong>30</strong>: Trends und Herausforderungen für Städte und Gemeinden<br />
NORDRHEIN-WESTFALEN 20<strong>30</strong>:<br />
UNGEAHNTE FREIHEIT – UNGEZÄHLTE<br />
MÖGLICHKEITEN – NEUE LEBENSQUALITÄT<br />
Allen Herausforderungen zum Trotz gibt es in<br />
Nordrhein-Westfalen eine Vielzahl von Beispielen,<br />
die beweisen, wie erfolgreich eine ehrgeizige<br />
Struktur- und Stadtentwicklungspolitik sein<br />
kann. Heute stehen die Werkbänke der produzierenden<br />
Unternehmen in Ost- und Südwestfalen<br />
und die Metropole Ruhr positioniert sich neu:<br />
als modernere und dynamische Wissens- und<br />
Dienstleistungsregion und damit weiterhin als<br />
eine der stärksten Wirtschaftsregionen Europas.<br />
Ein beispielloser Wandel in nur wenigen Jahrzehnten.<br />
Insgesamt wächst die Wirtschaft im Ruhrgebiet<br />
wieder stärker als im Bundesdurchschnitt.<br />
Das Gleiche gilt für die Anzahl neuer sozialversicherungspflichtiger<br />
Arbeitsplätze. Ein neuer<br />
Mittelstand entsteht und mit ihm eine neue<br />
Mittelschicht. Köln wird international um seine<br />
Weltoffenheit, Lebensqualität und wirtschaftliche<br />
Stärke beneidet.<br />
<strong>NRW</strong> zeichnet sich in fast allen Wohlstandsbereichen<br />
durch gute Werte aus – ökonomisch<br />
und ökologisch, gesellschaftlich und individuell.<br />
Gerade junge Menschen schauen optimistisch in<br />
die Zukunft.<br />
Und tatsächlich: Es gibt keine Region in Deutschland,<br />
die für junge und tatendurstige Menschen<br />
aus ganz Europa bessere Startbedingungen in<br />
ein selbstbestimmtes Leben bietet als Nordrhein-Westfalen.<br />
Hier gibt es Bildung, Wissenschaft<br />
und Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung,<br />
Wohnraum und moderne Mobilität<br />
auf sehr hohem Niveau. Und trotzdem ist all das<br />
noch bezahlbar und erschwinglich.<br />
Wir sind ein Land mit ungeahnten Freiheiten und<br />
ungezählten Möglichkeiten. Hier gibt es Platz für<br />
Neues, auch und gerade weil es hier eine offene<br />
und tolerante Gesellschaft gibt.<br />
All das hat Gründe: Das Ipsos-Institut hat zwischen<br />
2012 und 2014 20.000 Menschen in<br />
Deutschland nach ihrer Lebensqualität befragt.<br />
Das Ergebnis: Die Lebensqualität ist in Nordrhein-Westfalen<br />
im Vergleich zu den anderen<br />
Bundesländern überdurchschnittlich hoch.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Um Heimat muss man sich kümmern! 93<br />
UM HEIMAT MUSS MAN<br />
SICH KÜMMERN!<br />
Heimat nennen wir den Ort, an dem wir geboren und aufgewachsen sind.<br />
Wir können aber auch an neuen Orten heimisch werden – dort, wo wir leben können,<br />
wie wir leben wollen, wo wir Familie und Freunde haben, wo man uns kennt und<br />
schätzt und wo wir Teil von Gemeinschaft sind. Heimat ist der Ort, mit dem wir uns<br />
verbunden fühlen und den wir unser Zuhause nennen. Ob und wo sich Menschen<br />
zuhause fühlen, hat viel mit ihren individuellen Bedürfnissen, Lebensentwürfen und<br />
Lebensumständen zu tun. Und doch ist die Frage nach dem Ob und Wo auch von<br />
großer politischer Bedeutung. Denn nur dort, wo sich Menschen zuhause fühlen,<br />
übernehmen sie Verantwortung für ihre Stadt, ihr Wohnviertel oder ihr Dorf. Nur dort<br />
gibt es intakte Nachbarschaften, nur dort hält man zusammen und nur dort hat man<br />
eine gemeinsame Zukunft.<br />
I<br />
m großen Maßstab heißt das nichts anderes,<br />
als dass über den Zusammenhalt unseres<br />
ganzen Landes, über unsere Zukunft als<br />
Kulturregion und als Wirtschaftsraum in unseren<br />
Städten und Gemeinden entschieden<br />
wird. Aus dieser politischen Bedeutung erwächst<br />
eine politische Verantwortung für die öffentliche<br />
Lebensqualität vor Ort. Öffentliche Lebensqualität<br />
umfasst all das, wovon bereits die Rede war: Sicherheit<br />
und Sauberkeit, gute<br />
Verkehrsanbindungen<br />
und<br />
schnelles Internet, Kultur- und<br />
Freizeitangebote, nicht zuletzt<br />
gute Schulen, Ärzte und<br />
Kitas in erreichbarer Nähe.<br />
Das ist aber noch nicht alles.<br />
Denn öffentliche Lebensqualität<br />
bemisst sich nicht allein an<br />
Nutzwerten im Alltag. Man<br />
kann sie sehen und spüren,<br />
etwa in begrünten Straßenzügen und an ansehnlichen<br />
Häusern, in schönen Parkanlagen, auf guten<br />
Spielplätzen oder belebten Wochenmärkten.<br />
» HEIMAT IST MEHR<br />
ALS GELUNGENE<br />
ARCHITEKTUR<br />
ODER DIE SUMME<br />
ÖFFENTLICHER<br />
DIENSTLEISTUNGEN «<br />
Gewiss: Heimat ist immer mehr als gelungene<br />
Architektur oder als die Summe öffentlicher<br />
Dienstleistungen. Aber ohne öffentliche Lebensqualität<br />
schwindet über kurz oder lang auch<br />
das Heimatgefühl. Jeder kennt Gemeinden oder<br />
Stadtteile, die der wirtschaftliche Strukturwandel<br />
oder der demografische Wandel gezeichnet hat.<br />
Im Verwaltungsdeutsch ist dann zum Beispiel<br />
von Stadtteilen mit „besonderem Erneuerungsbedarf“<br />
die Rede. Gemeint<br />
sind Orte mit unansehnlichen<br />
Häuserfassaden, Leerständen<br />
im Wohnungsbestand<br />
oder erhöhten Kriminalitätsraten.<br />
Wer kann, zieht<br />
weg. Neue Einwohner kommen<br />
nur, wenn sie müssen.<br />
Ein anderes, aber nicht minder<br />
bedrückendes Schicksal<br />
droht Städten und Dörfern auf dem strukturschwachen<br />
Land. Die Bewohner werden älter und<br />
weniger. Junge Familien ziehen nicht mehr her
94 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Um Heimat muss man sich kümmern!<br />
und auch Unternehmen wandern ab. Das einst<br />
muntere Dorfleben erlischt. Das Alltagsleben in<br />
diesen Vierteln und Dörfern rutscht auf einer Spirale<br />
abwärts, bis alteingesessene Einwohner ihre<br />
einstige Heimat nicht mehr wiedererkennen.<br />
Manche politische Lager sehen das als ein unausweichliches<br />
Schicksal. Der demografische Wandel<br />
fordere seinen Preis. Arbeits- und Wohnungsmärkte<br />
sorgten eben für „disruptive Erneuerung“<br />
und irgendwann und irgendwo auch wieder für<br />
einen Ausgleich.<br />
All das halten wir für falsch. Die Zeit der kalten<br />
„Privat vor Staat-Ideologie“ ist vorbei. Fast nichts<br />
im Leben ist Schicksal. Wandel kann man gestalten<br />
und Märkte muss man gelegentlich lenken,<br />
korrigieren oder neu in Gang setzen.<br />
Jeder Ort kann Heimat sein, bleiben oder<br />
wieder werden. Man muss sich nur um ihn<br />
kümmern. Und genau das werden wir tun.<br />
ÖFFENTLICHE INVESTITIONEN IN<br />
ÖFFENTLICHE LEBENSQUALITÄT<br />
Es gibt fünf große Bund-Länder-Programme für<br />
Stadtentwicklung und Städtebau. Sie sind der<br />
Werkzeugkasten, aus dem sich unsere Kommunen<br />
bedienen können, um die Lebensqualität in<br />
ihren Stadtteilen und Quartieren zu erneuern.<br />
Je nach Bedarf werden über diese Programme<br />
Gebäude modernisiert, Fassaden renoviert oder<br />
Straßenzüge begrünt. Um die Familienfreundlichkeit<br />
eines Quartiers zu steigern, werden Bürger-<br />
und Jugendzentren eröffnet, Spielplätze und<br />
Grünflächen angelegt oder Verkehrszonen beruhigt.<br />
Baumaßnahmen zur Barrierefreiheit erhöhen<br />
die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen.<br />
Bildungsangebote und Kulturprojekte<br />
bringen die Einwohner zusammen, stabilisieren<br />
ihre Nachbarschaft und erhöhen die Identifikation<br />
mit ihrem Stadtteil.<br />
ÖFFENTLICHE DASEINSVORSORGE<br />
Öffentliche<br />
Verkehrsmittel<br />
Stadtwerke<br />
Bildungsorte<br />
Stadtgrün<br />
und Freizeit<br />
Strom, Wärme<br />
und Wasser
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Um Heimat muss man sich kümmern! 95<br />
Sozialdemokratische Politik für mehr öffentliche<br />
Lebensqualität folgt einem ganzheitlichen Ansatz:<br />
Städtebau wird mit Wirtschaftsförderung<br />
kombiniert, Stadtplanung auch als Bildungs-,<br />
Sozial- und Kulturpolitik konzipiert. All das wird<br />
zusammengedacht und aufeinander abgestimmt.<br />
Entscheidend ist, dass alle an der Entwicklung<br />
einer Quartierserneuerung beteiligt werden,<br />
die an ihr mitwirken und von ihr profitieren sollen:<br />
zuallererst die Menschen, die dort leben;<br />
ferner Unternehmen, Sozialverbände, Kirchen<br />
oder andere Non-Profit-Organisationen. Das<br />
Programm „Soziale Stadt“ fördert Kooperation,<br />
Mitbestimmung und bürgerschaftliches Engagement.<br />
UNSER ZIEL: SECHS MILLIARDEN EURO<br />
FÜR DIE STADTENTWICKLUNG IN <strong>NRW</strong><br />
Seit 2010 sorgen wir dafür, dass die Wohnraumförderung<br />
mit der Städtebauförderung enger verzahnt<br />
wird. Die öffentlichen Investitionen in die<br />
Aufwertung von Stadtteilen und Quartieren wirken<br />
wie eine Initialzündung. Sie ziehen private<br />
Initiativen und Investitionen in vielfacher Höhe<br />
nach sich und steigern die Lebensqualität dauerhaft.<br />
Aus diesem Grund wollen wir die öffentlichen<br />
Mittel für dieses Bund-Länder-Programm<br />
deutlich erhöhen. Auf Bundesebene ist es uns bereits<br />
gelungen, das entsprechende Investitionsvolumen<br />
seit 2011 zu verfünffachen. Doch wir<br />
wollen noch mehr. Bis 20<strong>30</strong> sollen bis zu sechs<br />
Milliarden Euro in die Steigerung der öffentlichen<br />
Lebensqualität in unseren Städten und Gemeinden<br />
geflossen sein.<br />
ZENTRALE UNTERSTÜTZUNG<br />
FÜR EINZIGARTIGE KONZEPTE<br />
Jede Stadt und jeder Stadtteil ist einzigartig.<br />
Ganz gleich wie viel Geld man in ein Entwicklungsprogramm<br />
steckt, es wird nur dann erfolgreich<br />
sein, wenn es genau auf den Ort zugeschnitten<br />
ist, an dem es wirken soll. Das ist der<br />
Grund, warum es unsere Städte und Gemeinden<br />
sind, die ein zukunftsfähiges Leitbild für ihre<br />
Quartiere entwickeln müssen. Das kann niemand<br />
anders, denn niemand anders kennt die<br />
Lage vor Ort besser als Menschen in der Kommune<br />
selbst.<br />
Doch nicht jede Kommune verfügt über genügend<br />
Fachwissen und Personal, um für sich das<br />
Beste aus den vielfältigen Förderprogrammen<br />
der EU, des Bundes und auch des Landes herauszuholen.<br />
Dieses Problem werden wir durch ein<br />
neues, zentrales Fördermanagement lösen. Wir<br />
wollen alle Förderprogramme für die Quartiere<br />
zusammenführen. Das Land muss die Betreuung<br />
seiner über 50 Einzelprogramme für Stadtund<br />
Quartiersentwicklung stärker bündeln und<br />
neues Fördermanagement einrichten. Es wird<br />
seinen Städten einen kompetenten Partner an<br />
die Seite stellen, der direkte Beratung, Hilfe und<br />
Unterstützung bietet, und das sowohl bei der<br />
Ausarbeitung von Leitbildern als auch bei der<br />
Beantragung von Förderprogrammen. Gleichzeitig<br />
wollen wir mit den Kommunen verbindliche<br />
Zielvereinbarungen für die Verwirklichung ihrer<br />
Leitbilder treffen.<br />
VORBEUGEN IST BESSER ALS REPARIEREN:<br />
QUARTIERSANALYSEN ALS „FRÜHWARNSYSTEM“<br />
UND ERFOLGSKONTROLLE<br />
Unser Ansatz einer vorausschauenden und<br />
vorbeugenden Politik lässt sich auch für die<br />
Stadt- und Regionalentwicklung nutzen. Wir<br />
werden sogenannte Quartiersanalysen einführen.<br />
Sie fungieren als Erfolgskontrolle für Förderprogramme<br />
und als „Frühwarnsystem“, weil sie<br />
schnell belastbare Daten über erwünschte oder<br />
unerwünschte Entwicklungen in einem Stadtteil<br />
oder Dorf bereitstellen können.<br />
Mit ihrer Hilfe wird es zum Beispiel möglich sein,<br />
den Verdrängungsdruck (Segregation und Gentrifizierung)<br />
auf alteingesessene Einwohner in<br />
einem Quartier abzuschwächen, bevor er seine<br />
Wirkung voll entfalten kann. Je eher man ein Problem<br />
erkennt, desto schneller und einfacher kann<br />
man es lösen.
96 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Um Heimat muss man sich kümmern!<br />
NEUE STANDARDS FÜR DIE STADTENTWICK-<br />
LUNG: GEMEINSCHAFT, SPORT UND KULTUR,<br />
BEGRÜNUNG UND VERBRAUCHERSCHUTZ<br />
Wir werden die bewährten Elemente des Programms<br />
„Soziale Stadt“ um neue erweitern.<br />
Unser Ziel ist es, jedes Quartier zu einer familienund<br />
altersgerechten Heimat seiner Einwohner<br />
zu machen. Hier sollen alle Generationen miteinander<br />
leben können, nicht nur nebeneinander.<br />
Kindergärten und gute Schulen gehören genauso<br />
dazu wie wohnortnahe Pflege. Jedes Quartier<br />
und jeder Stadtteil braucht mindestens einen<br />
Ort für das Gemeinschafts-, Kultur- und Nachbarschaftsleben<br />
seiner Einwohner – ganz gleich<br />
welchen Alters. Aus diesem Grund werden wir<br />
wieder stärker Jugend-, Familien-, Senioren- und<br />
Bürgerzentren fördern. Die Offenheit und Multifunktionalität<br />
öffentlicher Gebäude als Förderkriterium<br />
werden wir aufwerten.<br />
i<br />
DASEINSVORSORGE<br />
Daseinsvorsorge meint die Grundversorgung aller Bürgerinnen<br />
und Bürger mit allen Gütern und Dienstleistungen, die<br />
für das alltägliche Leben notwendig sind. Zur Grundversorgung<br />
gehören z. B. die Verwaltung mit ihren sozialstaatlichen<br />
Leistungen, zudem Verkehrs- und Beförderungswesen,<br />
Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr,<br />
Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen,<br />
Krankenhäuser, Friedhöfe, Bäder.<br />
Zu den neuen Standards gehört auch ein Nachbarschaftsleben<br />
mit einem breiten Sport- und<br />
Kulturangebot im Stadtteil. Wir werden Sportvereine,<br />
Sportanlagen und Kulturinitiativen noch<br />
stärker unterstützen als bisher. Denn Kultur und<br />
Sport ertüchtigen – nicht nur Körper und Geist,<br />
sondern auch den Zusammenhalt und die Selbstbestimmung<br />
in einer Stadt. Bis 20<strong>30</strong> soll es in<br />
jedem Quartier gemeinnützige Sportanlagen und<br />
Bürgerzentren geben.<br />
Grünflächen und Spielplätze sind wichtige Elemente<br />
öffentlicher Lebensqualität. Wir werden<br />
das Leitbild „Grüne Infrastruktur“ fortentwickeln<br />
und verkehrsfreie Flächen für Kinder und Jugendliche<br />
zum Standard einer dauerhaft erfolgreichen<br />
Quartiersentwicklung machen. Das Gleiche gilt<br />
für Parkanlagen und die Fassadenbegrünung.<br />
Schließlich werden wir „aufsuchende Verbraucherberatungen“<br />
einrichten. Ihre Zielgruppe sind Menschen,<br />
die aufgrund von Bildungs-, Sprach- oder<br />
Wissensdefiziten in ihrer Rolle als Verbraucher<br />
zu oft überfordert sind. Die aufsuchenden Verbraucherberatungen,<br />
die als Teil der integrierten<br />
Quartiersentwicklung zu verstehen sind, werden<br />
die bestehenden Verbraucherzentralen ergänzen,<br />
indem sie diese Menschen direkt aufsuchen, um<br />
Rat und Unterstützung anzubieten.<br />
<strong>NRW</strong> TROTZT DEM DEMOGRAFISCHEN<br />
WANDEL – DURCH SOLIDARITÄT,<br />
INTERKOMMUNALE ZUSAMMENARBEIT<br />
UND DIGITALE DIENSTLEISTUNGEN<br />
Jeder Ort kann Heimat sein, bleiben oder wieder<br />
werden. Vorausgesetzt, die öffentliche Hand<br />
garantiert ein ausreichendes Niveau an öffentlicher<br />
Lebensqualität und Daseinsvorsorge. Wie<br />
aber garantieren wir ein solches Niveau in ländlichen<br />
Regionen, deren Einwohner weniger und<br />
älter werden?<br />
Unsere Antwort besteht aus vier Teilen:<br />
stärkere interkommunale Zusammen arbeit<br />
Bereitstellung digitaler Dienstleistungen<br />
Förderung von bürgerschaftlichen Engagements,<br />
von Solidarität und gemeinwohlorientierten<br />
Unternehmensformen<br />
Modernisierung und Aufwertung von<br />
Dorfkernen
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Um Heimat muss man sich kümmern! 97<br />
Keines der vier Instrumente allein ist ein Allheilmittel<br />
gegen die negativen Folgen einer schrumpfenden<br />
Bevölkerung. Sie entfalten ihre Wirkung<br />
durch ihre Kombination. Das Alltagsleben in einer<br />
ländlichen Gemeinde, deren Einwohner weniger<br />
und älter geworden sind, wird anders als heute<br />
sein. Aber es muss nicht schlechter sein. Die alltägliche<br />
Daseins- und Gesundheitsversorgung<br />
muss und wird in allen Regionen unseres Landes<br />
gewährleistet bleiben. Wir müssen sie aber neu<br />
organisieren.<br />
EINE NEUE ÄRA DER KOOPERATION UND<br />
INTERKOMMUNALEN ZUSAMMENARBEIT<br />
Ländliche Städte und Gemeinden werden in Zukunft<br />
stärker füreinander Verantwortung übernehmen<br />
müssen. Es geht um nicht weniger als<br />
um eine neue Ära der Kooperation und Zusammenarbeit.<br />
Für die Organisation dieser neuen<br />
Zusammenarbeit gibt es bereits ein Konzept: das<br />
„Zentrale-Orte-Konzept“. Im Kern handelt es sich<br />
dabei um eine Neuverteilung von Aufgaben und<br />
Zuständigkeiten. Unterschiedlichen Städten und<br />
ZENTRALE-ORTE-KONZEPT<br />
Oberzentren mit<br />
Verflechtungsbereich<br />
(= Region)<br />
OZ<br />
Mittelzentren mit<br />
Mittelbereichen<br />
MZ<br />
MZ<br />
(OZ)<br />
MZ<br />
MZ<br />
Unterzentren und<br />
Kleinzentren mit<br />
Nahbereichen<br />
KLZ<br />
UZ<br />
(MZ)<br />
UZ<br />
KLZ
98 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Um Heimat muss man sich kümmern!<br />
Regionen werden unterschiedliche Versorgungsfunktionen<br />
für sie selbst und ihre Nachbarstädte<br />
zugeteilt.<br />
Insbesondere dynamische Städte und Gemeinden<br />
auf dem Land werden zu Versorgungszentren<br />
und Regiopolen ausgebaut, die ihrem Umland<br />
hochwertige öffentliche Dienstleistungen<br />
bieten und Teile der Grundversorgung übernehmen.<br />
So kann z. B. eine gute Gesundheitsversorgung<br />
auch in den Randlagen des ländlichen<br />
Raumes garantiert werden. In jedem Fall muss<br />
ein „zentraler Ort“ von den Bürgerinnen und Bürgern<br />
mit zumutbarem Zeit- und Kostenaufwand<br />
erreichbar sein. Und auch das ist wichtig: Auch<br />
wenn in Zukunft nicht mehr jeder Ort das volle<br />
Spektrum öffentlicher Dienstleistungen wird<br />
bieten können, so wird doch keine Gemeinde die<br />
Mindeststandards öffentlicher Daseinsvorsorge<br />
unterschreiten.<br />
FLÄCHENDECKENDE BREITBANDNETZE<br />
FÜR DIGITALE DIENSTLEISTUNGEN<br />
Viele Dienstleistungen, für die heute noch Wege<br />
zurückgelegt werden müssen, können bis 20<strong>30</strong><br />
durch digitale Angebote abgelöst werden. Und<br />
damit sind nicht nur digitale Verwaltungsgänge<br />
oder das längst gängige Online-<br />
Shopping gemeint. Über das Netz<br />
werden wir schon bald derart<br />
komplexe Leistungen anbieten<br />
und erhalten, dass es einiges an<br />
Phantasie erfordert, um sich das<br />
heute schon vorstellen zu können:<br />
z. B. Routine-Untersuchungen<br />
beim Arzt, der noch dazu via<br />
Internet bestimmte Körperfunktionen<br />
überwacht; Online-Studiengänge<br />
und -Ausbildungen<br />
inklusive der dazugehörigen Experimente<br />
oder handwerklichen<br />
Prüfungsleistungen; Fernwartung<br />
von Haushaltsgeräten und Ersatzteile aus dem<br />
3D-Drucker. Dann spielt es keine Rolle mehr, von<br />
wo aus eine Dienstleistung angeboten wird oder<br />
» DAS FLÄCHEN-<br />
DECKENDE<br />
BREITBANDNETZ<br />
IST FÜR UNS<br />
EIN MINDEST-<br />
STANDARD<br />
DER ALLGEMEI-<br />
NEN DASEINS-<br />
VORSORGE «<br />
wo ein Mensch wohnt, der sie schnell und zuverlässig<br />
in Anspruch nehmen will.<br />
All das wird aber nur dann möglich sein und die<br />
negativen Folgen des demografischen Wandels<br />
entschärfen, wenn es an jedem Ort in jedem Dorf<br />
schnelles Internet gibt. Das flächendeckende<br />
Breitbandnetz ist für uns ein Mindeststandard<br />
der allgemeinen Daseinsvorsorge.<br />
GELEBTE SOLIDARITÄT: DORFLÄDEN,<br />
BÜRGERBUSSE ODER TAUSCHBÖRSEN<br />
Schon heute gibt es Gemeinden auf dem Land,<br />
die für private Handels- und Dienstleistungsunternehmen<br />
keine Perspektive mehr bieten. Wo<br />
es zu wenige Kunden gibt, lohnt es nicht mehr,<br />
einen Supermarkt, ein Fachgeschäft oder einen<br />
Handwerksbetrieb zu unterhalten. Gleiches gilt<br />
für öffentliche Verkehrsbetriebe, die ihr Angebot<br />
nicht aufrechterhalten können. Doch das muss<br />
nicht bedeuten, dass die Versorgung mit Waren<br />
und Dienstleistungen für den alltäglichen Bedarf<br />
komplett ausfällt. Es sind die Bürgerinnen<br />
und Bürger selbst, die sich ihre Versorgung selbst<br />
organisieren und Lücken im Angebot auffüllen<br />
können – und das oft auch schon tun. Die Rede<br />
ist von nichtkommerziellen und gemeinnützigen<br />
Dorfläden, Tauschbörsen für<br />
handwerkliche Leistungen, Bürgerbussen<br />
und vielem mehr.<br />
Nordrhein-Westfalen ist seit<br />
mehr als <strong>30</strong> Jahren das Pionierland<br />
der Bürgerbusse: Mit<br />
der Unterstützung von Land<br />
und Kommunen ergänzen über<br />
5.000 Bürgerbusse mit ihren<br />
ehren amtlichen Fahrerinnen und<br />
Fahrern das Angebot des ÖPNV.<br />
Gemeinnützige Dorfläden bieten<br />
Lebensmittel und ersetzen die<br />
geschlossene Postfiliale. Über<br />
Tauschbörsen im Netz biete ich Hilfe bei der<br />
Gartenarbeit und bekomme beizeiten Hilfe bei<br />
der Reparatur von Haushaltsgeräten.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Um Heimat muss man sich kümmern! 99<br />
Wir werden alle Formen ehrenamtlicher Nachbarschaftshilfe<br />
bzw. gemeinnütziger Handelsund<br />
Tauschmodelle noch stärker unterstützen,<br />
z. B. durch großzügige Anschubfinanzierungen<br />
oder Mittel für den Alltagsbetrieb. Die öffentliche<br />
Hand kann derartige Projekte zwar nicht komplett<br />
durchfinanzieren, aber am „letzten Euro“<br />
dürfen sie nicht scheitern. Mindestens genauso<br />
wichtig wie Finanzhilfen sind (steuer-)rechtliche<br />
Vereinfachungen und Absicherungen der ehrenamtlichen<br />
und gemeinnützigen Arbeit, die dem<br />
Erhalt der Grundversorgung dient und nicht auf<br />
kommerzielle Gewinne abzielt.<br />
MODERNISIERUNG UND AUFWERTUNG<br />
VON DORFKERNEN<br />
Jeder Ort hat eine Zukunft, in die es zu investieren<br />
lohnt. Ein Mittel zur Steigerung der öffentlichen<br />
Lebensqualität in schrumpfenden und strukturschwachen<br />
Gemeinden ist die Verschönerung<br />
und Modernisierung ihrer Dorfkerne. Denn sie<br />
verleihen einem Ort Reputation und Identität.<br />
Das gilt es zu erhalten und – wo nötig – wiederzubeleben,<br />
z. B. indem man Fassaden erneuert, den<br />
Einzelhandel unterstützt, ggf. Dorfläden gründet<br />
und Bürgerzentren eröffnet. Modernisierung<br />
kann auch den Abriss maroder Gebäude und den<br />
Neubau attraktiver und moderner Häuser und<br />
Straßenzüge bedeuten.<br />
Sozial: gerechte<br />
Verteilung von<br />
Ressourcen<br />
Siedlungsstruktur<br />
Versorgung<br />
NACHHALTIGE<br />
ENTWICKLUNG<br />
Ökonomisch:<br />
effizienter Einsatz<br />
von Ressourcen<br />
ZENTRALE-ORTE-KONZEPT<br />
Verkehr<br />
Ökologisch:<br />
Begrenzung des<br />
Verbrauchs von<br />
Ressourcen<br />
Gewerbliche Wirtschaft
100 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Der Normalfall, kein Glücksfall: eine gute und bezahlbare Wohnung in einer intakten Nachbarschaft
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Der Normalfall, kein Glücksfall: eine gute und bezahlbare Wohnung in einer intakten Nachbarschaft 101<br />
DER NORMALFALL, KEIN GLÜCKSFALL:<br />
EINE GUTE UND BEZAHLBARE WOHNUNG<br />
IN EINER INTAKTEN NACHBARSCHAFT<br />
Lebenswertes Wohnen ist je nach Bedarf familienfreundlich, altersgerecht und barrierefrei.<br />
In jedem Fall muss es bezahlbar sein. Doch eine gute und bezahlbare Wohnung ist<br />
heute viel zu oft ein Glücksfall. Sie muss wieder zum Normalfall werden. Lebenswertes<br />
Wohnen ist für uns ein soziales Grundrecht. Es ist zwar kein Recht auf Luxus, aber eine<br />
gute Wohnung darf auch kein Luxusgut sein. Denn Wohnraum ist keine Handelsware<br />
wie jede andere. Wer für sich und seine Familie eine Wohnung in einer Stadt sucht, in<br />
der die Marktmechanismen versagen, versteht sofort, wovon hier die Rede ist.<br />
Wo es einen Trend zu stetig<br />
steigenden Mieten gibt,<br />
werden wir ihn brechen. Wo<br />
Leerstände und der Mangel<br />
an öffentlicher Lebensqualität<br />
ein Leben in intakten Nachbarschaften beeinträchtigen,<br />
werden wir sanieren und modernisieren.<br />
Der Wohnungsmarkt in Nordrhein-Westfalen<br />
braucht faire Regeln für faire Mieten. Er braucht<br />
moderne Mindeststandards für Wohnqualität<br />
und ein deutlich größeres Angebot in unseren<br />
wachsenden Städten und Regionen.<br />
BIS ZU ZWEI MILLIONEN WOHNUNGEN<br />
FÜR NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
Wohnungsnot und Wohnungsleerstand sind<br />
zwei Symptome der gleichen Ursache: des wachsenden<br />
Missverhältnisses zwischen Bedarf und<br />
Angebot an guten und günstigen Wohnungen.<br />
Stetig steigende Mieten sind die Folge einer stetig<br />
wachsenden Nachfrage bei einem schrumpfenden<br />
Angebot. Die Leerstände in unseren<br />
Metropolregionen sind die Folge von Mängeln<br />
im Wohnumfeld oder der Wohnungen selbst.<br />
Städte oder Quartiere mit Wohnungsleerständen<br />
werden erst dann die steigende Nachfrage nach<br />
gutem Wohnraum ausgleichen können, wenn<br />
ihre Wohn- und Lebensqualität wieder steigt. In<br />
jedem Fall braucht unser Land guten Wohnraum,<br />
den sich Normal- und Geringverdiener leisten<br />
können. Wir werden Angebot und Nachfrage in<br />
Bezug auf gute und bezahlbare Wohnungen<br />
wieder in ein entspanntes Gleichgewicht bringen.<br />
Das kann – abhängig von der Dynamik auf<br />
den Wohnungsmärkten in <strong>NRW</strong> – den Neubau<br />
oder die Sanierung von zwei Millionen Wohnungen<br />
bis 20<strong>30</strong> erfordern. Die Herausforderung<br />
nehmen wir an!<br />
DIE ÖFFENTLICHE HAND SPIELT<br />
WIEDER MIT: INVESTITIONEN IN NEUBAU<br />
UND MODERNISIERUNG<br />
Die öffentliche Hand muss wieder zu einem<br />
mächtigen Spieler auf dem Wohnungsmarkt<br />
werden. Wenn private Investitionen nicht ausreichen,<br />
um ein Gleichgewicht zwischen Angebot<br />
und Nachfrage herzustellen, sind andere Akteure<br />
gefragt: Dann müssen öffentlich-rechtliche, kommunale<br />
oder genossenschaftliche Baugesellschaften<br />
die Nachfrage nach guten und günstigen<br />
Wohnungen bedienen. Wir werden sie derart<br />
fördern und stärken, dass sie sowohl den Neubau<br />
als auch den Aufkauf und die Modernisierung<br />
bestehender Wohnungen finanzieren können.
102 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR! Der Normalfall, kein Glücksfall: eine gute und bezahlbare Wohnung in einer intakten Nachbarschaft<br />
Die Privatisierung öffentlichen Wohnungseigentums<br />
lehnen wir ab. Stattdessen werden wir uns<br />
im Bund für die Wiedereinführung der „Wohnungsgemeinnützigkeit“<br />
einsetzen. Es handelt<br />
sich um ein Gesetz, das gemeinnützige Wohnungsunternehmen<br />
– z. B. eine noch zu gründende<br />
Wohnungsgesellschaft des Landes – von<br />
Gewerbe- und Körperschaftssteuern befreit. Das<br />
allerdings nur unter einer Bedingung: Die Unternehmen<br />
müssen sich dazu verpflichten, alle<br />
Gewinne oberhalb einer bestimmten Rendite in<br />
die Modernisierung oder den Neubau von Wohnungen<br />
zu investieren.<br />
DIE RENAISSANCE DES MIETPREISGEBUNDENEN<br />
WOHNUNGSBAUS<br />
Kein Bundesland investiert mehr in den sozialen<br />
Wohnungsbau als Nordrhein-Westfalen. Ein Drittel<br />
aller mietpreisgebundenen Wohnungen in<br />
Deutschland wird bei uns in <strong>NRW</strong> gebaut. Doch<br />
das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass<br />
jedes Jahr bundesweit ca. 100.000 Sozialwohnungen<br />
verschwinden, weil ihre Mietpreisbindung<br />
ausläuft. Von den einst vier Millionen Sozialwohnungen<br />
sind nur noch 1,5 Millionen übrig.<br />
Allein in <strong>NRW</strong> hat sich ihre Anzahl seit 2002 fast<br />
halbiert und liegt nunmehr bei ca. 500.000 Wohnungen.<br />
Kurzum: Der soziale<br />
und mietpreisgebundene Wohnungsbau<br />
hat viel von seiner<br />
Kraft verloren. Wir wollen sie<br />
ihm zurückgeben. Es ist Zeit für<br />
eine Renaissance.<br />
<strong>NRW</strong> verzeichnet bereits große<br />
Erfolge bei der Wohnbauförderung.<br />
Unsere Förderinstrumente<br />
sind heute vielfältiger und effektiver<br />
als noch vor Jahren. Diesen<br />
Kurs setzen wir fort. Zudem<br />
wollen wir die Regeln für Mietpreisbedingungen<br />
reformieren: In wachsenden<br />
Städten, die unter Wohnungsnot leiden, müssen<br />
auch Normalverdiener der Mitte von Preisbindungen<br />
profitieren können.<br />
» KEIN<br />
BUNDESLAND<br />
INVESTIERT<br />
MEHR IN DEN<br />
SOZIALEN<br />
WOHNUNGSBAU<br />
ALS NORDRHEIN-<br />
WESTFALEN «<br />
NEUE FLÄCHEN FÜR WACHSENDE STÄDTE<br />
Der Mangel an bezahlbaren Wohnungen in unseren<br />
wachsenden Städten ist auch die Folge eines<br />
anderen Mangels: des Mangels an Bauflächen.<br />
Die besten Markt- und Förderbedingungen für<br />
den Wohnungsbau bleiben wirkungslos, solange<br />
es nicht ausreichend Flächen gibt, die bebaut<br />
werden können.<br />
Gewiss: In einem dicht besiedelten Land wie<br />
<strong>NRW</strong> darf man schon allein aus ökologischen<br />
Gründen unbebaute Flächen nicht vergeuden.<br />
Aus diesem Grund setzen wir weiterhin auf die<br />
flächenschonende Innenverdichtung unserer<br />
Städte. Aber nicht jeder Flächenverbrauch ist<br />
auch eine Flächenverschwendung. Und nicht<br />
jede unbebaute Fläche ist ein Wert an sich. Im<br />
Zweifelsfall haben gute und bezahlbare Wohnungen<br />
für uns Priorität. Deshalb werden wir<br />
die Erschließung neuer Wohnflächen in den Außenbereichen<br />
der wachsenden Städte in <strong>NRW</strong><br />
beschleunigen und vereinfachen.<br />
FAIRE REGELN FÜR FAIRE MIETEN<br />
Für Vermieter muss sich das Vermieten lohnen.<br />
Aber Wohnraum für Normal- und Geringverdiener<br />
darf weder ein Spekulationsobjekt sein<br />
noch zu Wucher verführen. Mit<br />
der Mietpreisbremse und dem<br />
Wohnungsaufsichtsgesetz haben<br />
wir neue Regeln für faire Mieten<br />
in Kraft gesetzt. Durch eindeutige<br />
Mindeststandards für Wohnqualität<br />
können sich Mieterinnen<br />
und Mieter jetzt gegen die<br />
schwarzen Schafe unter Wohnungseigentümern<br />
und Wohnungsgesellschaften<br />
wehren, die<br />
ihre Wohnungsbestände verwahrlosen<br />
lassen.<br />
Die Mietpreisbremse begrenzt bereits in 59 Kommunen<br />
den Anstieg von Mieten auf 15 Prozent in<br />
drei Jahren. Das ist ein Anfang, aber noch nicht<br />
ausreichend. Weil wir Mietwucher flächen-
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Der Normalfall, kein Glücksfall: eine gute und bezahlbare Wohnung in einer intakten Nachbarschaft<br />
103<br />
deckend unterbinden wollen, muss die Mietpreisbremse<br />
flächendeckend wirken können. Es<br />
muss verbindliche und qualifizierte Mietspiegel<br />
geben: bundesweit für jede Kommune, unabhängig<br />
erhoben, nachvollziehbar und transparent.<br />
Nicht zuletzt müssen Ausnahmen von der Mietpreisbremse<br />
kritisch überprüft und im Zweifel<br />
abgeschafft werden.<br />
GEMEINSAM LEBEN UND WOHNEN IN<br />
NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
Nordrhein-Westfalen soll ein Land der arbeitenden<br />
Mitte sein, ein Land im Lot. Das gilt auch<br />
für das Wohnen. Es wird zwar immer Stadtteile,<br />
Quartiere und Wohnviertel geben, die teurer als<br />
andere sind. Was wir aber nicht hinnehmen werden,<br />
ist ein Zerfall in Luxus- und Armenghettos,<br />
jeweils abgekapselt und verschlossen. Wir werden<br />
nicht länger dulden, dass Bürgerinnen und<br />
Bürger durch Luxussanierungen und erzwungene<br />
Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen<br />
aus ihren Heimatvierteln verdrängt werden.<br />
Wo sich heute nur Besser- und Bestverdiener eine<br />
Wohnung leisten können, muss es auch wieder<br />
einen planungsrechtlich quotierten Mindestbestand<br />
an guten Wohnungen für Facharbeiter und<br />
Angestellte geben. Wir werden zudem dafür sorgen,<br />
dass nach Sanierungen und Modernisierungen<br />
ein bestimmter Anteil an Wohnungen mit<br />
Mietpreisbindung erhalten bleibt und im besten<br />
Fall sogar noch ausgeweitet wird. Wir werden<br />
durch eine attraktivere finanzielle Förderung,<br />
kooperative Baulandmodelle und verbesserte<br />
Flächennutzung den sozialen Wohnungsbau<br />
auf alle Städte und Quartiere mit angespannten<br />
Wohnungsmärkten ausweiten. Dafür werden wir<br />
auch Bündnisse mit der Bau- und Wohnungswirtschaft<br />
schließen und uns für eine Reduzierung<br />
der Baukosten einsetzen. Nicht zuletzt gilt es,<br />
Planungs- und Genehmigungsverfahren zu vereinfachen,<br />
um den Wohnungsbau insgesamt zu<br />
beschleunigen.<br />
Im Gegenzug muss sich die Wohn- und Lebensqualität<br />
in strukturschwachen Stadtteilen derart<br />
verbessern, dass sie auch für Alleinstehende<br />
und Familien mit mittleren und höheren Haushaltseinkommen<br />
wieder attraktiv werden.<br />
Das verlangt oft nicht weniger, als überalterte<br />
Wohngebäude durch Neubauten zu ersetzen, für<br />
Grünanlagen um und auch auf den Häusern zu<br />
sorgen, nicht zuletzt die Verkehrsinfrastruktur<br />
zu erneuern. Das Angebot an Kindergärten und<br />
Schulen, an Verbraucherberatungen und Gesundheitsdienstleistungen<br />
wird an die Bedürfnisse<br />
vor Ort angepasst. Wir wollen unsere Stadtviertel<br />
und Quartiere zu „urbanen Mischgebieten“ weiterentwickeln,<br />
in denen man nicht nur wohnen,<br />
sondern auch arbeiten und seine Freizeit verbringen<br />
kann. Das heißt aber auch, dass es dort<br />
Zeit und Platz für Volksfeste, Brauchtum und ein<br />
lebendiges Kultur- und Freizeitleben geben muss.<br />
In jedem Fall ist ein Kulturwandel in der Wohnungs-<br />
und Stadtentwicklungspolitik notwendig.<br />
Die lokale Stadt- und Wohnraumentwicklung<br />
darf nicht an den kommunalen Grenzen enden.<br />
Mehr Koordination und Kooperation sind gefragt!
104 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Eine neue Stadt für Nordrhein-Westfalen:<br />
Das Rheinische Revier wird zum weltweiten Vorbild für öffentliche Lebensqualität und moderne Stadtentwicklung<br />
EINE NEUE STADT FÜR NORDRHEIN-<br />
WESTFALEN: DAS RHEINISCHE REVIER<br />
WIRD ZUM WELTWEITEN VORBILD<br />
FÜR ÖFFENTLICHE LEBENSQUALITÄT<br />
UND MODERNE STADTENTWICKLUNG<br />
Mit Mut, Ehrgeiz und Tatkraft kann das Rheinische Braunkohlerevier<br />
zu einem weltweiten Vorbild für Lebensqualität in Metropolregionen werden.<br />
Wir wollen hier die modernste Stadt Europas bauen. Die Gestaltung ihrer Siedlungen<br />
und Architekturen, ihrer Sozialräume und Verkehrsangebote auf den Flächen des Braunkohletagebaus<br />
bietet eine einzigartige Chance: Wir können die drei Ziele moderner<br />
Stadtentwicklung gleichzeitig verwirklichen. Mit Hilfe modernster Technologien und mit<br />
dem Erfahrungsschatz der Stadtplaner schaffen wir sozialen Zusammenhalt, ökologische<br />
Nachhaltigkeit und wirtschaftlichen Erfolg an einem Ort.<br />
Das Rheinland erwartet ein starkes<br />
Bevölkerungswachstum in allen<br />
seinen Teilregionen, nicht nur in<br />
Köln und Düsseldorf, sondern auch<br />
in Aachen, Leverkusen, dem Rhein-<br />
Erft-Kreis oder dem Rhein-Kreis Neuss. Mit der<br />
Bevölkerung wächst der Bedarf an Flächen für<br />
den Wohnungsbau oder für die Ansiedlung von<br />
Handel, Gewerbe und Industrie. Inmitten dieser<br />
Wachstumsregion liegt das Rheinische Revier.<br />
Hier hat der Braunkohlenbergbau über Jahrzehnte<br />
Flächen in Anspruch genommen und Entwicklungschancen<br />
begrenzt. Durch die Tagebaue und<br />
ihre Rekultivierung sind aber auch neue Siedlungen<br />
und Landschaften entstanden.<br />
Jetzt bietet sich die Möglichkeit, den Wachstumsdruck<br />
durch die Erschließung der freigeräumten<br />
und rekultivierten Flächen des Braunkohlereviers<br />
in mehr Lebensqualität zu verwandeln<br />
und gleichzeitig einen ungesteuerten Verbrauch<br />
von Frei- und Grünflächen zu verhindern. Den<br />
freigeräumten Tagebaulandschaften, nur <strong>30</strong> bis<br />
45 S-Bahn-Minuten vom Kölner und Düsseldorfer<br />
Hauptbahnhof entfernt, kommt dabei eine strategische<br />
Bedeutung zu. Wir wollen einen mutigen<br />
Zukunftsentwurf: innovative Konzepte für<br />
neue Landschaften, Dörfer und Quartiere.<br />
Dieses Projekt ist nicht nur ein Beitrag zum Strukturwandel<br />
im Rheinischen Braunkohlerevier. Die<br />
Innovationsregion Rheinisches Revier wird zur<br />
Referenzadresse nachhaltiger Stadtplanung und<br />
-entwicklung mit globaler Ausstrahlungskraft.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Schnell, digital und flexibel: moderne Mobilität für jeden an jedem Ort! 105<br />
SCHNELL, DIGITAL UND FLEXIBEL:<br />
MODERNE MOBILITÄT<br />
FÜR JEDEN AN JEDEM ORT!<br />
Nur wer mobil ist, führt ein selbstbestimmtes Leben.<br />
Je besser es uns gelingt, von A nach B zu kommen, desto unabhängiger sind wir von<br />
den beruflichen oder kulturellen Beschränkungen unseres Heimatortes – und zwar<br />
ohne auf seine Vorteile verzichten oder ihn dauerhaft verlassen zu müssen. Mobilität<br />
steigert nicht nur die Lebensqualität. Sie ist auch eine Voraussetzung für Teilhabe,<br />
Gemeinschaft und beruflichen Erfolg. Eine halbe Stunde Wegzeit mehr oder weniger<br />
kann darüber entscheiden, ob für einen besseren Arbeitsplatz die ganze Familie<br />
umziehen muss oder nicht.<br />
Sozialdemokratische Politik für mehr<br />
Selbstbestimmung muss also eine<br />
Politik für kürzere Wegzeiten und flexiblere<br />
Mobilitätsangebote sein. Aber<br />
das ist noch nicht alles. Denn Mobilität<br />
hat auch ihren Preis, nicht zuletzt in Form von<br />
Verkehr und seinen Nachteilen, wie zum Beispiel<br />
Staus und Wartezeiten, Unfällen oder Umweltbelastungen.<br />
Moderne Mobilität verkürzt also nicht<br />
nur Wegzeiten. Sie bietet auch mehr Sicherheit<br />
und Flexibilität, ist für jeden (auch für die öffentliche<br />
Hand) bezahlbar und reduziert Schadstoffemissionen.<br />
Bis 20<strong>30</strong> wollen wir Nordrhein-Westfalen zum<br />
Pionierland moderner Mobilität in Deutschland<br />
machen: schnell, digital und flexibel. Unser Anspruch<br />
ist moderne Mobilität für alle Menschen in<br />
Nordrhein-Westfalen, ganz gleich ob sie auf dem<br />
Land oder in der Stadt zuhause sind. Wir werden<br />
unser Straßen- und Schienennetz modernisieren,<br />
die Kapazitäten des öffentlichen Personennahverkehrs<br />
deutlich ausbauen und ein Internet der<br />
Mobilität für Nordrhein-Westfalen schaffen.<br />
INVESTITIONEN IN DAS BESTE<br />
VERKEHRSWEGENETZ EUROPAS<br />
Das Straßen- und Schienennetz in Nordrhein-<br />
Westfalen ist dichter geknüpft und besser ausgebaut<br />
als jedes andere in Europa. Diese Stärke<br />
müssen wir erhalten. Aber das erfordert Investitionen<br />
in beträchtlicher Höhe. Die Zeit drängt. Zu<br />
lange hat der Bund zu wenig investiert. Denn er<br />
ist es, der für den Erhalt von Autobahnen, Autobahnbrücken,<br />
Schienen und Wasserwegen die<br />
finanzielle Verantwortung trägt.<br />
Wir in <strong>NRW</strong> haben lange für eine Trendumkehr<br />
gekämpft. Mit Erfolg. Das größte Anti-Stauprogramm<br />
der jüngeren Geschichte wurde auf den<br />
Weg gebracht – durch <strong>NRW</strong> und für <strong>NRW</strong>.<br />
Das Land selbst wird ein Investitionsprogramm<br />
für seine Landesstraßen initiieren. Aus Rücksicht<br />
auf die öffentlichen Haushalte muss dabei das<br />
Prinzip „Erhalt vor Neubau“ gelten. Mit einer Ausnahme:<br />
Wo neue Wohn- und Gewerbegebiete<br />
erschlossen werden, muss natürlich auch die<br />
notwendige Infrastruktur neu gebaut werden.
106 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Schnell, digital und flexibel: moderne Mobilität für jeden an jedem Ort!<br />
Wir werden neue Konzepte für öffentliche Investitionen<br />
entwickeln und umsetzen. Öffentlichprivate<br />
Partnerschaften (ÖPP) können genauso<br />
ein effektives Beschaffungsinstrument sein wie<br />
öffentliche Sondervermögen mit verbindlichen<br />
und transparenten Tilgungsplänen. In jedem Fall<br />
muss die für die Steuerzahler günstigste Finanzierungsform<br />
gewählt werden.<br />
EINE NEUE INFRASTRUKTUR FÜR DEN<br />
(ÖFFENTLICHEN) NAHVERKEHR IN <strong>NRW</strong><br />
Wir werden in den kommenden Jahren das Leistungsspektrum<br />
und die Kapazitäten des ÖPNV in<br />
Nordrhein-Westfalen deutlich ausbauen. Er wird<br />
schnell und flexibel sein. Für kürzere Wegzeiten,<br />
mehr Pünktlichkeit und Komfort sorgen dann<br />
z. B. die sechs Linien des neuen RRX (Rhein-Ruhr-<br />
Express), die im 15-Minuten-Takt die Metropolen<br />
Nordrhein-Westfalens auf einem eigenen<br />
Schienennetz verbinden. Durch den RRX können<br />
über <strong>30</strong>.000 Personenfahrten von der Straße auf<br />
die Schiene verlagert werden – und zwar täglich.<br />
Gleichzeitig eröffnen sechs Radschnellwege<br />
neue Möglichkeiten für den Berufs- und Nahverkehr.<br />
Über 250 Kilometer sind in <strong>NRW</strong> bereits<br />
in Planung. Radfahren wird schneller und<br />
sicherer. Mobilität im Wohn- und Arbeitsumfeld<br />
(„Nahmobilität“) ist nicht weniger wichtig als<br />
die schnelle Überwindung längerer Distanzen.<br />
Unser Ziel ist ein flächendeckendes Radfahrnetz<br />
in allen Großstädten in <strong>NRW</strong>. Entscheidend ist,<br />
dass alle Verkehrsmittel besser als bisher miteinander<br />
verknüpft werden. Denn die schnellste<br />
Bahn nutzt wenig, wenn auf dem letzten Kilometer<br />
die Zeitersparnis durch moderne Verkehrsmittel<br />
wieder verloren geht.<br />
Minden<br />
Münster<br />
Bielefeld<br />
Emmerich<br />
Oberhausen<br />
Duisburg<br />
Hamm<br />
Gelsenkirchen<br />
Kamen<br />
Dortmund<br />
Essen Bochum<br />
Mülheim a. d. R.<br />
Düsseldorf<br />
Leverkusen<br />
Aachen<br />
Köln<br />
Flughafen<br />
Köln/Bonn<br />
Bonn
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Schnell, digital und flexibel: moderne Mobilität für jeden an jedem Ort!<br />
107<br />
In Gemeinden des ländlichen Raumes ohne standardisierten<br />
ÖPNV werden wir über das Internet<br />
Alternativangebote aus Anruf-Sammel-Taxis,<br />
Taxibussen, gemeinnützigen Bürgerbussen oder<br />
Car-Sharing-Angeboten miteinander vernetzen,<br />
weiter fördern und ausbauen. Durch Regionalbusse<br />
werden wir die Kommunen des ländlichen<br />
Raumes ohne Schienenanbindung mit den Ballungszentren<br />
verknüpfen. Dieses Alternativangebot<br />
kann sogar schneller, individueller und nutzerfreundlicher<br />
sein als der Standard-ÖPNV mit<br />
seinen festen Fahrzeiten und Haltestellen. Wir<br />
werden eine Energiewende im ÖPNV einleiten:<br />
Neue Elektro- und Wasserstoffantriebe für Busse<br />
und Bahnen werden die alten Wagen und Züge<br />
mit Verbrennungsmotoren ersetzen.<br />
EIN INTERNET DER MOBILITÄT FÜR<br />
NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
Schritt für Schritt entwickeln wir ein Internet<br />
der Mobilität für Nordrhein-Westfalen, das alle<br />
öffentlichen und privaten Verkehrsträger und<br />
Mobilitätsangebote digital vernetzt. Das Internet<br />
der Mobilität – konzentriert und nutzbar in<br />
einer App – erfasst in Echtzeit die Auslastung von<br />
Autobahnen, Straßen oder Bahnen. Es berechnet<br />
(und prognostiziert!) für jede beliebige Strecke zu<br />
jedem beliebigen Zeitpunkt den schnellsten Weg<br />
und die optimale Verknüpfung von Transportmitteln.<br />
Mobilität in <strong>NRW</strong> wird „intermodal“. Für jedes<br />
individuelle Ziel gibt es per Touchscreen den<br />
optimalen individuellen Weg inklusive der ggf.<br />
notwendigen Tickets. Das Internet der Mobilität<br />
ermöglicht das fahrerlose Fahren und optimiert<br />
Verkehrsströme. Nicht zuletzt erhöht es die Sicherheit,<br />
vermeidet Umweltbelastungen und<br />
reduziert Wartezeiten.<br />
Die Digitalisierung des ÖPNV hat bereits begonnen.<br />
Wir werden ein zentrales Mobilitätsportal<br />
für alle öffentlichen Verkehrsträger in <strong>NRW</strong> eröffnen,<br />
das Echtzeit-Information, Vertrieb und Tarif<br />
vereint. Ein einheitliches E-Ticket-Tarifsystem<br />
(Tickets aufs Smartphone) gehört genauso dazu<br />
wie die fortlaufende Integration von privaten und<br />
gemeinnützigen Mobilitätsangeboten (wie z. B.<br />
Car-Sharing, Anruf-Sammel-Taxis, Bürgerbusse).<br />
MOBIL IN <strong>NRW</strong>: EIN LAND –<br />
EIN VERKEHRSRAUM – EIN TARIFSYSTEM<br />
Wir werden eine auskömmliche Finanzierung<br />
des ÖPNV in <strong>NRW</strong> sicherstellen. Die Verkehrsverbünde,<br />
Aufgabenträger und Zweckverbände in<br />
<strong>NRW</strong> müssen enger als bisher zusammenarbeiten.<br />
Denn zu einem gemeinsamen Verkehrsraum<br />
gehört auch eine gemeinsame Beförderungsqualität<br />
durch gemeinsame Fahrzeug-, Qualitätsund<br />
Sicherheitsstandards.<br />
Für uns gilt das Prinzip „Ein Land – ein Verkehrsraum“.<br />
Deshalb wollen wir auch ein einheitliches<br />
Tarifsystem schaffen: den <strong>NRW</strong>-Tarif. Er<br />
soll attrak tiv, leistungsgerecht und für jeden<br />
bezahlbar sein. Dazu gehören auch die bereits<br />
erfolgreichen „Zielgruppentarife“, wie z. B. das<br />
Schüler-Ticket, das Senioren-Ticket oder das Sozial-Ticket,<br />
das ordnungspolitisch richtig im Rahmen<br />
des ALG II vom Bund finanziert an arbeitslose<br />
Bürgerinnen und Bürger ausgegeben werden<br />
sollte. Diese Zielgruppentarife sind auf individuelle<br />
Bedürfnisse zugeschnitten und steigern die<br />
Attraktivität des ÖPNV. Diese Angebote werden<br />
wir ausbauen, z. B. indem wir das Job-Ticket in<br />
einen echten Zielgruppentarif für Unternehmen<br />
verwandeln. Der Preisnachlass für Job-Tickets soll<br />
nicht mehr von der Menge abhängig sein, die die<br />
Unternehmen für ihre Beschäftigten bestellen.<br />
Der Preisnachlass soll auf jedes einzelne Ticket<br />
gewährt werden.<br />
MOBILITÄT FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNG<br />
Die Teilhabe an Mobilitätsangeboten wollen wir<br />
weiter durch attraktive Angebote steigern. Dazu<br />
gehört auch der Ausbau barrierefreier Angebote<br />
des ÖPNV. Hierzu wollen wir entsprechende Förderprogramme<br />
schaffen und mit der Umsetzung<br />
des Bahnsteighöhen- und -längenkonzepts die<br />
Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten für alle mobilitätsbeeinträchtigten<br />
Menschen weiter verbessern.
108 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
In Sicherheit leben und sich sicher fühlen: hart gegen Kriminalität und hart gegen die Ursachen von Kriminalität!<br />
IN SICHERHEIT LEBEN UND SICH<br />
SICHER FÜHLEN: HART GEGEN<br />
KRIMINALITÄT UND HART GEGEN<br />
DIE URSACHEN VON KRIMINALITÄT!<br />
Heimat ist ein Ort, an dem Menschen Teil einer Gemeinschaft sind<br />
und sich sicher fühlen können.<br />
Die allermeisten Städte und Wohnviertel in Nordrhein-Westfalen bieten genau das:<br />
einen sicheren Ort zum Leben, eine Heimat. Das muss allerdings auch so bleiben.<br />
Für die SPD-Fraktion ist deshalb ein<br />
starker, entschlossener und handlungsfähiger<br />
Rechtsstaat unabdingbar.<br />
Sicherheit dient dem höchsten<br />
Zweck des demokratischen Rechtsund<br />
Sozialstaates: einem Leben in Freiheit und<br />
Selbstbestimmung für alle Bürgerinnen und<br />
Bürger. Mehr noch: Der Schutz vor Kriminalität<br />
ist auch ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit.<br />
Reiche Menschen können sich Sicherheit kaufen.<br />
Menschen mit mittleren oder geringen Einkommen<br />
können das nicht.<br />
Unsere Politik für öffentliche Sicherheit folgt<br />
dem Prinzip „Hart gegen Kriminalität und hart<br />
gegen die Ursachen von Kriminalität!“ Wir wollen<br />
für jeden Ort in Nordrhein-Westfalen das erreichen,<br />
was wir bei Gewalt- und Jugenddelikten<br />
schon geschafft haben: eine drastische Senkung<br />
aller Formen von Kriminalität. Die Gewaltkriminalität<br />
sank 2014 auf den niedrigsten Stand seit<br />
2001. Die Jugendkriminalität ist so niedrig wie<br />
seit 44 Jahren nicht mehr. Und Straftaten gegen<br />
das Leben sind auf dem niedrigsten Stand seit<br />
20 Jahren.<br />
Wir werden in den kommenden Jahren fortführen,<br />
was wir 2010 begonnen haben: mehr Polizei –<br />
landesweit und vor Ort in unseren Städten und<br />
Quartieren, Investitionen in eine bessere Ausstattung<br />
aller Sicherheitsbehörden, die Beschleunigung<br />
rechtsstaatlicher Strafverfahren und eine<br />
Aufwertung des Polizeiberufs.<br />
Die beste Kriminalitätsbekämpfung ist indes die<br />
Bekämpfung ihrer Ursachen. Vorbeugende Sozialpolitik<br />
verwirklicht nicht nur Gerechtigkeit und<br />
führt zu wirtschaftlicher Stärke. Sie ist auch ein<br />
unverzichtbarer Bestandteil einer umfassenden<br />
Kriminalpolitik.<br />
Kriminalität entsteht nicht unabhängig von der<br />
Gesellschaft, in der wir leben. Gute ökonomische<br />
und soziale Rahmenbedingungen hemmen<br />
Kriminalität. Zu diesen Rahmenbedingungen<br />
gehört auch die öffentliche Lebensqualität: In<br />
lebenswerten Städten und Quartieren mit intakten<br />
Nachbarschaften, einem lebendigen Kulturund<br />
Gemeinschaftsleben, guten Schulen und<br />
individuellen Zukunftsperspektiven, mit Grünanlagen<br />
und ansehnlichen Straßenzügen fühlen<br />
sich Menschen sicherer als in Wohnvierteln, in<br />
denen es all das nicht gibt. Und tatsächlich: Das<br />
Bauchgefühl täuscht nicht. Politik für öffentliche<br />
Lebensqualität ist immer auch eine Politik der<br />
Kriminalprävention.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
In Sicherheit leben und sich sicher fühlen: hart gegen Kriminalität und hart gegen die Ursachen von Kriminalität! 109<br />
50 Jahre Kriminalitätsforschung lassen keinen<br />
Raum für Zweifel: Wer Kriminalität bekämpfen<br />
will, muss hart gegen ihre gesellschaftlichen Ursachen<br />
vorgehen. Wo sich soziale Ungleichheit in<br />
Grenzen hält, Armut die Ausnahme ist und eine<br />
kluge Sozial- und Bildungspolitik für Chancengleichheit<br />
und sozialen Aufstieg sorgt, gibt es<br />
wenig Kriminalität. Ein gerechtes Land ist auch<br />
ein sicheres Land.<br />
Niemand wird als Krimineller geboren. Und Kinder,<br />
um die man sich kümmert, die man an die<br />
Hand nimmt und in ein gelingendes Leben führt,<br />
werden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nie einer<br />
werden. Deshalb setzen wir auf Prävention.<br />
Drei Beispiele: Das Projekt „Kein Kind zurücklassen!“<br />
hilft Kindern aus Familien, die – aus welchem<br />
Grund auch immer – schlechtere Bedingungen<br />
für den Start ins Leben haben. Nach dem<br />
Grundsatz „Vorbeugen ist besser als Heilen“ sorgt<br />
es für Bildung, Chancengleichheit und Gesundheitsvorsorge<br />
– lückenlos von der Geburt bis zum<br />
Eintritt in das Berufsleben.<br />
Das Programm „Kein Abschluss ohne Anschluss!“<br />
unterstützt junge Erwachsene beim Übergang<br />
von der Schule in den Beruf. Alle jungen Menschen<br />
in <strong>NRW</strong> sollen eine Perspektive für ihr<br />
Berufsleben erhalten: durch Ausbildung, Weiterbildung<br />
und gute Arbeit.<br />
Damit auch Jugendliche, die bereits kriminell<br />
geworden sind, noch die Kurve in ein gelingendes<br />
Leben kriegen, kümmert sich die Polizei mit<br />
tatkräftiger Unterstützung pädagogischer Fachkräfte<br />
seit 2011 erfolgreich um junge Intensivtäter.<br />
Das bundesweit einmalige Präventionsprojekt<br />
„Kurve kriegen“ setzt früh an und verhindert,<br />
dass Kinder und Jugendliche dauerhaft in die<br />
Kriminalität abrutschen.<br />
Speziell für „mehrfach Tatverdächtige und jugendliche<br />
Intensivtäter in besonderen sozialen Lagen“<br />
wurde die Idee vom „Haus des Jugendrechts“<br />
ausgebaut. Polizei, (Jugend-)Staatsanwaltschaft<br />
und Jugendamt arbeiten unter einem Dach zusammen<br />
und ermöglichen so direkte und unbürokratische<br />
Zusammenarbeit zwischen Polizei,<br />
Justiz und Jugendgerichtshilfe. Dabei werden<br />
nicht nur die Straftaten allein betrachtet, sondern<br />
auch soziale Risikofaktoren.<br />
Prävention wirkt und zahlt sich aus. Wir werden<br />
alle Präventionsprojekte ausbauen und weiterentwickeln.<br />
EINE VON UNS: DIE POLIZEI VOR ORT<br />
In jedem Stadtviertel und Quartier muss die Polizei<br />
präsent, sichtbar und ansprechbar sein. Wir<br />
setzen auf das Instrument der Bezirksdienstbeamtin<br />
bzw. des Bezirksdienstbeamten. Das<br />
sind Polizisten, die man vor Ort kennt, denen<br />
man vertraut und die selbst ihr Viertel, seine Einwohner<br />
und deren Probleme gut kennen. Diese<br />
Beamten gehören zur Gemeinschaft im Quartier.<br />
Ihre Polizeiarbeit ist immer auch Arbeit für die<br />
Nachbarschaft und den sozialen Zusammenhalt<br />
im Viertel.<br />
Wo Menschen aufeinander achtgeben und dabei<br />
von ihrer Polizei vor Ort unterstützt werden, gibt<br />
es „soziale Kontrolle“ in ihrem besten Sinne. Gemeint<br />
ist ein sanfter Druck für ein respektvolles<br />
Miteinander, eine hohe Schwelle für rücksichtsloses<br />
Verhalten und Belästigungen. Das trägt<br />
nicht nur zu einem verbesserten Sicherheitsgefühl<br />
bei, es verbessert die Sicherheit tatsächlich.<br />
Denn die Überhandnahme respektlosen Verhaltens<br />
steht oft am Anfang einer Entwicklung, an<br />
deren Ende ein Brennpunkt für Kriminalität entstanden<br />
ist.<br />
MEHR PERSONAL UND EINE VERBESSERTE<br />
AUSSTATTUNG FÜR POLIZEI, VERFASSUNGS-<br />
SCHUTZ UND JUSTIZ<br />
Seit 2010 haben wir konsequent in innere Sicherheit<br />
investiert. Die Haushaltsmittel für die Polizei<br />
haben wir um 700 Millionen Euro erhöht. Ein<br />
Plus von <strong>30</strong> Prozent. Noch stärker, um 33 Prozent,<br />
wurden die Sachausgaben für Polizeiarbeit auf
110 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR! In Sicherheit leben und sich sicher fühlen: hart gegen Kriminalität und hart gegen die Ursachen von Kriminalität!<br />
447 Millionen Euro erhöht. Diese Politik setzen<br />
wir fort. Für den Kampf gegen das organisierte<br />
Verbrechen, gegen Alltagskriminalität und politischen<br />
sowie religiösen Extremismus werden<br />
wir mehr Polizisten, Verfassungsschützer, Staatsanwälte<br />
und Richter ausbilden und einstellen.<br />
Auch die technische Ausrüstung unserer Sicherheitsbehörden<br />
muss stetig erneuert und verbessert<br />
werden. Gleiches gilt für ihre Vernetzung und<br />
Kooperation bei der Kriminalitätsbekämpfung –<br />
auch jene mit unseren europäischen Partnern.<br />
Wir werden in Nordrhein-Westfalen für bestimmte<br />
Straftaten und Tatmuster mehr Schwerpunktstaatsanwaltschaften<br />
einrichten. Hier werden<br />
Kompetenz und Erfahrung gebündelt, die es<br />
erlauben, Straftaten schneller und erfolgreicher<br />
aufzuklären.<br />
Wir werden unsere Justiz besser als bisher in die<br />
Lage versetzen, überführte Täter schneller zu<br />
bestrafen. Insbesondere jugendliche<br />
Straftäter müssen zügig<br />
ihrem Alter angemessene Sanktionen<br />
für ihr inakzeptables Verhalten<br />
erfahren.<br />
Darüber hinaus werden wir die<br />
bestehenden Rechtsgrundlagen<br />
für die Videobeobachtung des<br />
öffentlichen Raums ausschöpfen<br />
und an bekannten Kriminalitätsschwerpunkten<br />
dieses Instrument<br />
einsetzen. Kameras<br />
sind zwar keine Alternative zu<br />
der klassischen und präventiven Polizeiarbeit.<br />
Aber an bestimmten Orten sind sie eine sinnvolle<br />
Ergänzung.<br />
KONSEQUENT GEGEN ALLTAGSKRIMINALITÄT<br />
Wir werden gegen alle Formen der sogenannten<br />
Alltags- oder Massenkriminalität vorgehen. Gemeint<br />
sind z. B. Taschendiebstähle, Betäubungsmitteldelikte,<br />
Sachbeschädigungen, Betrugsdelikte<br />
oder Wohnungseinbrüche. Das 2013<br />
»DER RECHTS-<br />
STAAT MUSS<br />
AUCH IN DER<br />
VIRTUELLEN WELT<br />
DES INTERNETS<br />
SCHUTZ VOR<br />
KRIMINALITÄT<br />
BIETEN«<br />
eingeführte <strong>NRW</strong>-Fahndungskonzept „Mobile<br />
Täter im Visier“ (MOTIV), das sich speziell gegen<br />
bandenmäßig organisierte und überregional<br />
handelnde Einbrecher richtet, hat sich in bislang<br />
16 Schwerpunktbehörden bewährt und den<br />
Druck auf international reisende Täter erhöht.<br />
Der Erfolg hat inzwischen dazu geführt, dass die<br />
Innenministerkonferenz den anderen Bundesländern<br />
empfiehlt, das <strong>NRW</strong>-Konzept zu nutzen. Wir<br />
wollen dieses Konzept weiter ausbauen, denn<br />
gerade die psychischen Folgen bei Wohnungseinbrüchen<br />
sind oftmals gravierender als der<br />
erlittene materielle Schaden.<br />
CYBERKRIMINALITÄT BEKÄMPFEN!<br />
Der Rechtsstaat muss auch in der virtuellen<br />
Welt des Internets Schutz vor Kriminalität bieten.<br />
Denn die digitale Welt ist längst ein realer<br />
Lebensraum, in dem auch Verbrechen begangen<br />
werden und unsere Freiheit bedroht wird.<br />
Das Spektrum der Cyberkriminalität reicht von<br />
Online-Erpressung und Kreditkartenbetrug<br />
bis hin zu Waffenhandel<br />
und Hasskriminalität.<br />
Wir werden handeln, damit das<br />
Internet auch 20<strong>30</strong> noch ein<br />
freier, aber kein schutzloser<br />
Raum unseres Lebens sein wird.<br />
Wir werden uns für ein neues<br />
und modernes IT-Sicherheitsgesetz<br />
einsetzen, um neuen Gefährdungsszenarien<br />
angemessen<br />
begegnen zu können. Für<br />
neue Bedrohungen werden wir<br />
innovative Ermittlungsmethoden entwickeln<br />
lassen und einführen. Unsere Sicherheitsbehörden<br />
werden wir mit moderner IT-Technologie und<br />
mehr Fachexpertise ausstatten.<br />
SEXUELLE SELBSTBESTIMMUNG SCHÜTZEN!<br />
Die sexuelle Selbstbestimmung eines jeden<br />
Menschen verdient einen besonderen Schutz.<br />
Menschen zu schützen, bedeutet nichts anderes,<br />
als (sexuelle) Gewalt zu verhindern. Insbesondere
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
In Sicherheit leben und sich sicher fühlen: hart gegen Kriminalität und hart gegen die Ursachen von Kriminalität!<br />
111<br />
Frauen und Kinder sind bedroht. Wir müssen<br />
noch stärker als bisher auf ein Klima hinarbeiten,<br />
in dem Sexismus, Gewalt, Diskriminierungen,<br />
Demütigungen und Belästigungen nicht geduldet<br />
und mit gesellschaftlicher Ächtung bestraft werden<br />
– und zwar zuhause, in der Öffentlichkeit, in<br />
der Schule, am Arbeitsplatz und auf der Straße.<br />
Das Sexualstrafrecht kommt zumeist erst dann<br />
zum Zug, wenn es für die Opfer schon zu spät ist.<br />
Dann aber muss jeder die Macht des Rechtsstaates<br />
erfahren können. Dieser ergreift Partei für die<br />
Opfer und schützt die Rechte von Beschuldigten.<br />
Wir wollen bestehende Strafbarkeitslücken<br />
schließen und ein Prozessrecht schaffen, das auf<br />
die verletzte Würde und Intimsphäre der Opfer<br />
sexueller Gewalt Rücksicht nimmt. Wir sind uns<br />
mit den Frauen- und Opferverbänden einig, dass<br />
der Grundsatz „Nein heißt Nein!“ unmissverständlich<br />
ist und uneingeschränkt gelten muss.<br />
Der Zugang zu Hilfeeinrichtungen darf nicht<br />
an unzureichenden Finanzmitteln scheitern.<br />
Wir werden uns für einen bundesgesetzlichen<br />
Rechtsanspruch auf professionelle Hilfe und<br />
Unterstützung für die Opfer von Gewalt – insbesondere<br />
sexueller Gewalt – starkmachen. Wir in<br />
<strong>NRW</strong> werden vorangehen und die Hilfsangebote<br />
in Form von Frauenhäusern und Beratungsstellen<br />
ausbauen.<br />
und für mehr Durchlässigkeit zwischen dem<br />
öffentlichen und dem privaten Sektor. Wir werden<br />
flexible Arbeitszeitmodelle einführen und<br />
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern.<br />
Auch dynamische Besoldungssysteme und<br />
mehr Flexibilität bei Ausgleich und Abgeltung<br />
von Überstunden gehören zu einem modernen<br />
Dienstrecht. Nicht zuletzt werden wir die Karrierechancen<br />
von Frauen verbessern sowie die interkulturelle<br />
Öffnung des öffentlichen Dienstes<br />
vorantreiben, um ihn auch für Menschen mit<br />
Migrationshintergrund attraktiv zu machen.<br />
Wir wollen, dass unserer Polizei wieder mehr<br />
Wertschätzung und Respekt für ihre wichtige<br />
Arbeit entgegengebracht wird. Dafür werben wir,<br />
wo wir können.<br />
Vor allem wollen wir für einen besseren Schutz<br />
von Amtsträgern und Rettungskräften sorgen.<br />
Wer Polizistinnen und Polizisten und andere Einsatzkräfte<br />
vorsätzlich verletzen will, greift auch<br />
unseren Rechtsstaat an. Gewaltübergriffe müssen<br />
wir konsequent bestrafen und wir müssen<br />
sicherstellen, dass die Vorfälle zügig vor Gericht<br />
verhandelt werden.<br />
FÜR SICHERHEIT SORGEN:<br />
EIN ATTRAKTIVER BERUF!<br />
Wir werden alle Berufe in Polizei, Verfassungsschutz<br />
und Justiz aufwerten und attraktiver<br />
machen. Unsere Sicherheitskräfte müssen entlastet<br />
werden. Ihre Leistungen für die Sicherheit<br />
unserer Bürgerinnen und Bürger verdienen mehr<br />
Anerkennung, was sich auch im Recht des öffentlichen<br />
Dienstes widerspiegeln muss.<br />
Ein modernes Dienstrecht wird nicht nur die<br />
Attraktivität des öffentlichen Dienstes erhöhen.<br />
Es wird auch seine Leistungsfähigkeit verbessern.<br />
Wir sorgen für bessere Aufstiegsmöglichkeiten
112 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Anpacken! Mitbestimmen! Gemeinsam etwas erreichen! Ehrenamtliches Engagement und lokale Demokratie<br />
ANPACKEN! MITBESTIMMEN!<br />
GEMEINSAM ETWAS ERREICHEN!<br />
EHRENAMTLICHES ENGAGEMENT<br />
UND LOKALE DEMOKRATIE<br />
Die kleinsten Kicker des TuS Holsterhausen in Essen sind gerade mal vier Jahre alt.<br />
Die taktische Finesse von Dreier-Abwehrketten steht noch nicht auf dem Trainingsprogramm.<br />
Noch geht es um Grundsätzliches: Tore schießen ist gut, aber es ist nicht<br />
egal, in welches Tor man trifft. Die Geduld ihrer beiden Trainer ist sagenhaft, ihr<br />
Engagement nicht mit Geld aufzuwiegen. Denn sie bringen den zehn Jungs und zwei<br />
Mädchen Tugenden nahe, die viel wichtiger sind, als Tore zu schießen: Teamgeist,<br />
Fairness und Respekt. Sie geben den Kindern derart viel Selbstbewusstsein, dass sie<br />
auch Niederlagen aushalten können.<br />
Die beiden Jugendtrainer sind zwei<br />
von vielen tausend Menschen<br />
in Nordrhein-Westfalen, die ein<br />
Ehrenamt ausüben. Ohne sie gäbe<br />
es keinen Breitensport, keine gemeinnützigen<br />
Kulturangebote, weniger Naturschutz<br />
und keine freiwillige Feuerwehr. Sie übernehmen<br />
Verantwortung für ihre Mitmenschen,<br />
stiften Gemeinschaft und sorgen für Zusammenhalt<br />
und Lebensqualität in ihrer Stadt. Wer sich<br />
ehrenamtlich engagiert, kümmert sich um Dinge,<br />
um die sich der Staat nicht – oder nur schlecht –<br />
kümmern könnte und die man besser nicht dem<br />
Markt überlässt. Es gehört zu den vornehmlichen<br />
Aufgaben der Politik, das Ehrenamt zu schützen<br />
und zu fördern.<br />
Ehrenamtliches Engagement braucht Zeit, Räume<br />
und Plätze, natürlich auch finanzielle Unterstützung<br />
und Schutz vor rechtlichen Risiken. Und<br />
noch etwas anderes ist wichtig: Wer etwas für<br />
das Gemeinwohl tun möchte, erwartet zu Recht<br />
Beinfreiheit und Gestaltungsspielräume. Solche<br />
Spielräume wollen wir nicht nur ausweiten, wir<br />
wollen auch neue schaffen. Die Politik – insbesondere<br />
die Kommunalpolitik – kann weitaus<br />
mehr von den vielen gemeinnützigen Vereinen<br />
und ehrenamtlich Aktiven profitieren, als sie es<br />
ohnehin schon tut. Für die allermeisten Ehrenamtlichen<br />
ist ihr Engagement kein Opfer, sondern<br />
eine Bereicherung. Warum? Weil sie etwas bewegen,<br />
weil ihr Engagement wirkt. Genau diese<br />
Erfahrung können Menschen auch in der Kommunal-<br />
und Quartierspolitik machen. Denn sie<br />
besteht in konkretem Handeln auf kleinem Raum<br />
mit großer Wirkung – vorausgesetzt, die Politik<br />
sorgt für neue Gestaltungsspielräume und mehr<br />
Mitbestimmungsmöglichkeiten vor Ort. Und genau<br />
das werden wir tun.<br />
DEMOKRATIE VOR ORT:<br />
MEHR ALS WÄHLEN UND ABSTIMMEN<br />
In einer Demokratie sind Bürgerinnen und Bürger<br />
weder Bittsteller noch „Kunden“. „Alle Staatsgewalt<br />
geht vom Volke aus“ heißt es in Artikel 20<br />
des Grundgesetzes. Die Bürgerinnen und Bürger<br />
sind der Souverän. Es ist ihr Land, ihre Stadt und
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Anpacken! Mitbestimmen! Gemeinsam etwas erreichen! Ehrenamtliches Engagement und lokale Demokratie 113<br />
ihre Heimat. Ihr Wille muss für Politik und Verwaltung<br />
verbindlich sein. Die SPD-Fraktion hat<br />
in den vergangenen Jahren die Kommunalverfassung<br />
demokratisiert und vor allem die direkte<br />
Demokratie ausgebaut – sowohl im Land als<br />
auch in unseren Städten und Gemeinden. Aber<br />
eine lebendige Demokratie zeichnet sich nicht<br />
nur durch freie Wahlen und Abstimmungen aus.<br />
Wenn Bürgerinnen und Bürger jenseits von Wahlen<br />
und Plebisziten mit anpacken, sich einbringen<br />
und sich beteiligen, können sie auch politisch<br />
viel bewirken und verändern.<br />
Wir wollen neue Formen demokratischer Mitbestimmung<br />
einführen, die den Bürgerinnen und<br />
Bürgern mehr Verantwortung und Gestaltungsspielräume<br />
in ihren Stadtteilen und Quartieren<br />
überträgt. Denn die Einwohner eines Stadtteils<br />
sind „Experten“ für alles, was vor ihrer Haustür<br />
passiert. Ihr Wissen und ihre Bedürfnisse sollen<br />
durch Konsultationsverfahren in die politische<br />
Entscheidungsfindung eingehen. Das Vorbild<br />
sind sogenannte Mediationsverfahren, in denen<br />
Erfahrungsaustausch, Bürgerexpertise und Konsens<br />
im Mittelpunkt stehen, nicht Mehrheit und<br />
Hierarchie.<br />
Wir wollen politische Beteiligungsformen, für<br />
alle Menschen in einem Stadtteil oder Quartier.<br />
Das gilt insbesondere auch für jene Bewohner,<br />
die sich von demokratischen Beteiligungsverfahren<br />
nicht – oder nicht mehr – angesprochen<br />
fühlen, z. B. Menschen mit geringem Einkommen<br />
oder mit Migrationsgeschichte.<br />
MITBESTIMMUNG IM QUARTIER: STADTTEIL-<br />
MANAGEMENT UND STADTTEILBUDGETS<br />
Die ehrenamtlich aktiven Bürgerinnen und Bürger<br />
verdienen professionelle Unterstützung. Deshalb<br />
wollen wir ihnen in jedem Stadtteil einen<br />
hauptamtlichen Quartiersmanager bzw. eine<br />
hauptamtliche Quartiersmanagerin an die Seite<br />
stellen.<br />
Sie werden die Bürgerinnen und Bürger beraten<br />
und von Aufgaben entlasten, für die Ehrenamtliche<br />
weder Zeit noch Muße haben (wie z. B.<br />
Koordinations- und Bürokratieaufgaben). Um<br />
ihren Stadtteil oder ihr Quartier gestalten zu<br />
können, müssen sich sowohl die Bürgerinnen<br />
und Bürger als auch das hauptamtliche Quartiersmanagement<br />
auf die Unterstützung durch<br />
die Verwaltung verlassen können.<br />
In jedem Quartier wird es ein Forum geben, in<br />
dem seine Einwohner gemeinsam beraten, welche<br />
konkreten Ziele in ihrer Nachbarschaft verwirklicht<br />
werden sollten und welche Prioritäten<br />
gesetzt werden müssen. Zudem soll jeder Stadtteil<br />
ein Budget erhalten, über das er selbst entscheiden<br />
kann. An diesen Entscheidungsprozessen<br />
sind alle relevanten Akteure im Quartier zu<br />
beteiligen – von den Bürgern bis hin zu Vereinen,<br />
Sozialverbänden oder Kirchen. Ihre Beschlüsse<br />
werden durch die Bezirksvertretungen oder – in<br />
kleineren Gemeinden – durch den Rat abgesichert.<br />
LOKALE DEMOKRATIE 20<strong>30</strong>: ENGAGEMENT,<br />
ALTERNATIVEN UND GESUNDE FINANZEN<br />
Eine lebendige Demokratie gibt es in jeder<br />
Gemeinde, in der es Menschen gibt, die anpacken,<br />
mitbestimmen und sich gemeinsam für ein besseres<br />
Leben vor Ort engagieren. Wir wollen, dass<br />
die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen<br />
mehr lokalpolitische Mitbestimmungsrechte<br />
erhalten und damit auch mehr demokratische<br />
Verantwortung für ihre Heimat. Doch<br />
mehr Mitbestimmungsrechte führen nur dann<br />
zu mehr Demokratie, wenn es auch in der<br />
Sache etwas zu entscheiden gibt. Wer eine lebendige<br />
Demokratie vor Ort will, muss auch dafür<br />
sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger politische<br />
Alternativen entwickeln oder zumindest zwischen<br />
solchen entscheiden können. Der demokratische<br />
Entscheidungsspielraum darf nicht<br />
durch rechtliche oder finanzielle „Sachzwänge“<br />
derart eingeschränkt werden, dass nur noch<br />
die Verfahren, aber nicht mehr die Inhalte
114 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Anpacken! Mitbestimmen! Gemeinsam etwas erreichen! Ehrenamtliches Engagement und lokale Demokratie<br />
kommunalpolitischer Entscheidungen demokratischen<br />
Grundsätzen genügen.<br />
Wovon hier die Rede ist? Zum einen von dem in<br />
Artikel 28 des Grundgesetzes verankerten Recht<br />
einer jeden Gemeinde, „alle Angelegenheiten der<br />
örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze<br />
in eigener Verantwortung zu regeln“. Dieses<br />
Recht werden wir schützen und,<br />
wo möglich, die kommunalpolitische<br />
Selbstbestimmung wieder<br />
stärken.<br />
Zum anderen reden wir über<br />
Geld. Lokale Demokratie verlangt<br />
politische Handlungsfähigkeit.<br />
Und politische Handlungsfähigkeit<br />
setzt finanzielle<br />
Handlungsfähigkeit voraus. Wer<br />
kein Geld hat, kann wenig entscheiden<br />
und noch weniger gestalten – da<br />
helfen weder Volksentscheide noch andere Entscheidungsverfahren.<br />
Kurzum: Ein chronisches Haushaltsdefizit ist<br />
immer auch ein Demokratiedefizit. Außerdem<br />
leidet die öffentliche Lebensqualität, weil die<br />
Mittel für notwendige Investitionen fehlen.<br />
Wir werden die Haushaltskrisen in den betroffenen<br />
Städten und Gemeinden beenden und<br />
allen Kommunen zu neuer Handlungsfähigkeit<br />
verhelfen. Mit der Hilfe des Landes werden sie<br />
ihre Defizite zunächst ausgleichen und dann in<br />
Überschüsse verwandeln können. Wir haben<br />
dazu eine Strategie entwickelt, die seit 2010 umgesetzt<br />
wird.<br />
Mit Erfolg! Unser Ziel ist bereits in Sichtweite.<br />
Denn wir packen das Problem an seiner<br />
Wurzel:<br />
» EIN<br />
CHRONISCHES<br />
HAUSHALTS-<br />
DEF IZIT IST<br />
IMMER AUCH EIN<br />
DEMOKRATIE-<br />
DEFIZIT«<br />
EINE GERECHTE AUFTEILUNG VON<br />
SOZIALLEISTUNGEN<br />
Der Hauptgrund für die Haushaltsdefizite in vielen<br />
Kommunen sind die stetig steigenden Kosten<br />
für Sozialleistungen, wie z. B. Wohnkosten<br />
für Langzeitarbeitslose, Eingliederungshilfen<br />
für behinderte Menschen oder die Kinder- und<br />
Jugendhilfe. Der Bund beschließt, wer diese Leistungen<br />
in welcher Höhe erhält.<br />
Aber die Kommunen müssen<br />
sie bezahlen. Das ist keine faire<br />
Aufteilung. Der Bund muss unsere<br />
Städte und Gemeinden von<br />
solchen Kosten befreien. Dafür<br />
haben wir mit Erfolg gekämpft.<br />
Wir konnten durchsetzen, dass<br />
der Bund seit 2014 die Kosten für<br />
die Grundsicherung im Alter und<br />
die Erwerbsminderung vollständig<br />
übernimmt – also all jene unterstützt,<br />
die aus gesundheitlichen oder Altersgründen<br />
nicht allein für ihren Lebensunterhalt<br />
aufkommen können. Die entsprechenden Entlastungen<br />
für die nordrhein-westfälischen Kommunen<br />
betragen 2016 rund 1,7 Milliarden Euro.<br />
Ein weiterer Erfolg ist das kommunale Investitionsprogramm<br />
für Straßen, Krankenhäuser oder<br />
Kitas: Über eine Milliarde Euro fließen nach <strong>NRW</strong>.<br />
Eine weitere Entlastung steht noch aus: Der Bund<br />
hat zugesichert, alle Städte und Gemeinden ab<br />
2018 um fünf Milliarden Euro zu entlasten.<br />
DER STÄRKUNGSPAKT STADTFINANZEN<br />
Für insgesamt 61 überschuldete oder von Überschuldung<br />
bedrohte Kommunen stellen das Land<br />
und die kommunale Solidargemeinschaft Konsolidierungshilfen<br />
in Höhe von 5,7 Milliarden Euro bis<br />
2020 zur Verfügung. Die Kommunen verpflichten<br />
sich im Gegenzug dazu, bis 2021 einen aus eigener<br />
Kraft ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Der<br />
Stärkungspakt ist ein Erfolg. Noch 2010 konnten<br />
138 Kommunen nur einen Nothaushalt vorlegen<br />
und mussten sich strengen Auflagen der Kommunalaufsicht<br />
unterwerfen. Im Jahr 2015 befanden<br />
sich nur noch neun Städte in dieser Notsituation.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Anpacken! Mitbestimmen! Gemeinsam etwas erreichen! Ehrenamtliches Engagement und lokale Demokratie 115<br />
HÖHERE ZUWEISUNGEN AUS<br />
DEM LANDESHAUSHALT<br />
Wir erhöhen kontinuierlich die Zuweisungen des<br />
Landes an unsere Städte und Gemeinden: seit<br />
2010 auf rund 10,4 Milliarden Euro. Das ist ein<br />
Anstieg um fast <strong>30</strong> Prozent! Insbesondere Kommunen<br />
mit hohen Ausgaben für Sozialleistungen<br />
profitieren von den Zuweisungen des Landes.<br />
Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit:<br />
Sparen durch Vorbeugen!<br />
Das wirksamste Mittel, um Ausgaben für Sozialleistungen<br />
zu senken, ist noch immer, soziale<br />
Notlagen zu verhindern. Wer in Bildung, Gesundheitsvorsorge<br />
und Chancengleichheit investiert,<br />
muss später kein Geld für Arbeitslosigkeit,<br />
Zuschüsse zur Miete oder Therapien ausgeben.<br />
Im Gegenteil: Mit jedem Kind, das wir nicht zurücklassen,<br />
gewinnt unsere Gesellschaft einen<br />
Facharbeiter, eine Ingenieurin oder einen Wissenschaftler<br />
mehr. Unternehmen gewinnen<br />
Fachkräfte, die staatliche Gemeinschaft Steuereinnahmen<br />
und immer mehr Menschen die<br />
Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Das<br />
ist der Ansatz unserer vorbeugenden Bildungsund<br />
Sozialpolitik. Wir werden dafür sorgen, dass<br />
es in allen Städten und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen<br />
lückenlose Präventionsketten<br />
gibt. Wenn sich (Bildungs-)Armut nicht mehr<br />
vererbt und die Berufs- und Lebenschancen eines<br />
Kindes nicht mehr durch den sozialen Status der<br />
Eltern eingeschränkt werden, dann öffnen sich<br />
auch neue finanzielle Handlungsspielräume für<br />
unsere Städte und Gemeinden.<br />
Soziale Gerechtigkeit sorgt für gesunde<br />
Finanzen!
116 HEIMAT BEGINNT VOR DER HAUSTÜR!<br />
Ein Land der Kultur ist ein Land der Zukunft: Gemeinschaft braucht die Künste und Orte der Kultur<br />
EIN LAND DER KULTUR IST<br />
EIN LAND DER ZUKUNFT:<br />
GEMEINSCHAFT BRAUCHT DIE KÜNSTE<br />
UND ORTE DER KULTUR<br />
Nordrhein-Westfalen zeichnet sich durch ein dynamisches, vielfältiges<br />
und innovatives Kulturleben aus, das weltweit seinesgleichen sucht<br />
Von der Hoch- und Weltkultur bis hin zu einer Laienkulturszene, die sich über das<br />
ganze Land erstreckt – zusammen mit unseren Städten und Gemeinden werden wir<br />
diese einzigartige Kulturlandschaft schützen und weiterentwickeln.<br />
Es geht um kulturelle Daseinsvorsorge,<br />
kulturelle Bildung und die Bewahrung<br />
unseres kulturellen Erbes, die Digitalisierung<br />
und die Erinnerungskultur;<br />
natürlich auch um die Unterstützung,<br />
Ausbildung und Förderung von Künstlern und<br />
ihren Werken.<br />
Nicht zuletzt: Eine inklusive und integrierende<br />
Gesellschaft – eine Gesellschaft für alle – braucht<br />
auch eine inklusive Kulturpolitik.<br />
Nordrhein-Westfalen wird 20<strong>30</strong> mehr denn je ein<br />
Land der kulturellen Vielfalt, Dynamik und auch<br />
Bildung sein – in den Städten und im ländlichen<br />
Raum.<br />
EIN FLÄCHENDECKENDES<br />
KULTURANGEBOT FÜR <strong>NRW</strong><br />
Wir werden ein flächendeckendes Kulturangebot<br />
in allen Teilen des Landes sicherstellen. Wir<br />
wollen den dauerhaften Erhalt unserer Theater,<br />
Bibliotheken, Musikschulen, Museen, Opern,<br />
Orchester und anderer kultureller Einrichtungen.<br />
Deshalb werden wir gemeinsam mit den<br />
Kommunen die Kultureinrichtungen in Nordrhein-Westfalen<br />
stärken und mit ausreichend<br />
Geld ausstatten. Gleichzeitig werden wir uns im<br />
Bund dafür einsetzen, dass auch er zu einer auskömmlichen<br />
Finanzierung der Kommunen einen<br />
Beitrag leistet, damit diese ihre kommunalen<br />
Kultureinrichtungen unterhalten können. Wir in<br />
<strong>NRW</strong> werden den Theaterpakt und den Bibliotheksentwicklungsplan<br />
für <strong>NRW</strong> erneuern.<br />
Das Land fördert renommierte Kulturveranstaltungen<br />
und Festivals. Mit der Ruhrtriennale<br />
feiert es jährlich eine weltweit beachtete Kunstpräsentation.<br />
Die Spitzenkünstler aus <strong>NRW</strong> werden gefördert,<br />
ihre Werke und Arbeiten gilt es, in einem angemessenen<br />
Rahmen zu präsentieren. In den nächsten<br />
Jahren werden insbesondere Beethoven und<br />
Engels im Mittelpunkt stehen, deren 200. bzw.<br />
250. Geburtstag 2020 gefeiert wird und deren<br />
„Häusern“ sowie deren Präsenz besondere<br />
Beachtung zukommen soll. Dies gilt auch für<br />
Pina Bausch. Ihre Arbeiten und ihr Archiv werden<br />
im Internationalen Tanzzentrum eine neue Verortung<br />
und Strahlkraft finden. Ebenso ist das Werk<br />
von Joseph Beuys weiterhin herauszuheben und<br />
einer wissenschaftlichen Erforschung stärker<br />
zugänglich zu machen.
<strong>Abschlussbericht</strong> <strong>NRW</strong> Zweitausend-<strong>30</strong><br />
Ein Land der Kultur ist ein Land der Zukunft: Gemeinschaft braucht die Künste und Orte der Kultur 117<br />
Um Kunst und ihre Inhalte zu vermitteln, Werke<br />
zu erhalten und den Zugang dazu für viele leichter<br />
zu gestalten, ist die Digitalisierung in allen<br />
Sparten auszubauen, konsequent zu planen und<br />
umzusetzen.<br />
GUTE ARBEIT FÜR NORDRHEIN-WESTFALENS<br />
KÜNSTLERINNEN UND KÜNSTLER<br />
Nordrhein-Westfalen ist ein Land der Künstlerinnen<br />
und Künstler. Es soll auch ein Land für Künstlerinnen<br />
und Künstler sein. Für alle Beschäftigten<br />
im öffentlichen Kulturbereich müssen gute und<br />
faire Arbeitsbedingungen gelten. Dazu gehören<br />
auch die Förderung der künstlerischen Ausbildung<br />
und ein größeres Angebot an Aufführungsmöglichkeiten,<br />
zudem mehr Werkschauen, Auftragsarbeiten<br />
und Ankaufsetats. Wir werden das<br />
Angebot an Fördermöglichkeiten ausbauen, z. B.<br />
durch Preise, Stipendien, Residenzen, Zuschüsse<br />
zu Produktionsräumen oder Projekten. All diese<br />
Angebote werden wir in einem Programm zur<br />
individuellen Künstlerförderung bündeln. Über<br />
eine Internetplattform werden wir Förder- und<br />
Vernetzungsmöglichkeiten bewerben und Informationen<br />
aufbereiten.<br />
EINE KULTUR DES MITEINANDERS BRAUCHT DIE<br />
KÜNSTE UND KULTURELLE EINRICHTUNGEN<br />
Kunst und Kultur sind ein wichtiges Element<br />
eines selbstbestimmten Lebens. Das Versprechen<br />
der sozialen Demokratie, Anteil an gesellschaftlichem<br />
Fortschritt, ökonomischer Prosperität<br />
und demokratischer Mitbestimmung für<br />
alle zu ermöglichen, wird nur eingelöst, wenn<br />
jeder Mensch auch Zugang zu Kunst und Kultur<br />
hat. Denn sie stiften Gemeinschaft, fördern<br />
die individuelle Freiheit und regen zur Reflexion<br />
gesellschaftlicher Identitäten und Traditionen<br />
an. Sie stellen sie in Frage und begründen sie<br />
neu. Ohne Kunst und Kultur gibt es keine offene<br />
Gesellschaft.<br />
KULTUR DER ERINNERUNG PFLEGEN<br />
UND FORTSETZEN<br />
Um eine lebenswerte Zukunft vorzudenken und<br />
aktuellen und zukünftigen Aufgabenstellungen<br />
gewachsen zu sein, bedarf es eines Wissens um<br />
die Vergangenheit. Hierbei spielen die historischen<br />
Erlebnisse und Erfahrungen besonders des<br />
Holocaust, der Weltkriege des 20. Jahrhunderts,<br />
von Migration, Flucht und Vertreibung sowie<br />
von Zuwanderung und Integration in unser Land<br />
eine wichtige Rolle. Auch die Geschichte Nordrhein-Westfalens<br />
gehört dazu. Diese Erinnerungskultur<br />
werden wir pflegen und erhalten, was vor<br />
allem bedeutet: Wir werden sie auskömmlich<br />
finanzieren.<br />
EIN KULTURFÖRDERPLAN FÜR<br />
NORDRHEIN-WESTFALEN<br />
Wir werden einen Kulturförderplan für <strong>NRW</strong><br />
aufstellen. In einem landesweiten Diskurs sollen<br />
Schwerpunkte, Rahmenbedingungen und Ziele<br />
für Kunst und Kultur in <strong>NRW</strong> identifiziert werden.<br />
Gleichzeitig soll ein Bericht über Aussichten und<br />
Verfassung der Künste mit all ihren Sparten und<br />
Einrichtungen Auskunft geben. Die Kulturpolitik<br />
in <strong>NRW</strong> soll in Zukunft wissenschaftlich begleitet<br />
und evaluiert werden.
HERAUSGEBER<br />
SPD-Fraktion im Landtag <strong>NRW</strong><br />
Marc Herter MdL<br />
Parlamentarischer Geschäftsführer<br />
Platz des Landtags 1<br />
40221 Düsseldorf<br />
BEZUGSADRESSE<br />
SPD-Fraktion im Landtag <strong>NRW</strong><br />
Pressestelle<br />
Platz des Landtags 1<br />
40221 Düsseldorf<br />
oder unter<br />
@<br />
SPD-Fraktion@landtag.nrw.de<br />
www.spd-fraktion.nrw<br />
twitter.com/spd_fraktion_nw<br />
facebook.com/spdfraktionnrw<br />
TEXT<br />
Dr. Gordian Ezazi<br />
Dr. Timo Grunden<br />
Shazia Saleem<br />
Edgar Voß<br />
GESTALTUNG<br />
V-FORMATION – Agentur für visuelle Kommunikation<br />
Diese Veröffentlichung der SPD-Fraktion im Landtag <strong>NRW</strong><br />
dient ausschließlich der Information. Sie darf während<br />
eines Wahlkampfs nicht als Wahlwerbung verwendet werden.<br />
Stand: November 2016
www.spd-fraktion.nrw