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Agoraphobie-Patienten erzählen – Sprachliche Verfahren bei der ...

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ein und verleiht auf diese Weise <strong>der</strong> Schlagartigkeit und Unerwartbarkeit ihrer<br />

Reaktion lexikalisch Ausdruck (vgl. Kap. 6.1 zum Konzept: Der Beginn/das Eintreten<br />

von Panik ist abrupt/unvorhersehbar). Der rhetorisch inszenierte Stimmungsbruch<br />

(vgl. 548f.) wird auch prosodisch realisiert, indem Tina Irritation markiert. Durch die<br />

Wie<strong>der</strong>gabe des eigenen Gedankens in Form von eingeleiteter direkter Rede "oweija<br />

was isn JETZT los" (553) lässt Tina die Hörerin direkt an ihrem Erleben teilhaben<br />

und reaktualisiert ihre damalige Wissens- und Wahrnehmungsbasis. Das zeigt sich<br />

auch durch die eingeleitete Wie<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong> direkten Rede in Z.554, in <strong>der</strong> Tina<br />

ihrem Mann gegenüber die Symptome als "HERZinfakt" deutet und ihn auffor<strong>der</strong>t,<br />

schnell aufzuessen. Die folgende Rede wird nicht mehr durch ein verbum dicendi<br />

eingeleitet. Die Aufeinan<strong>der</strong>folge <strong>der</strong> drei kurzen und lauter gesprochenen Ausrufe<br />

(555-557) vermittelt Hektik und Panik, wenngleich die Panik, die damalige<br />

Wahrnehmungs- und Wissensperspektive einnehmend, nicht als solche benannt<br />

wird.<br />

Das Modalverb "MUß" in Z. 556 unterstreicht die typische Zwanghaftigkeit des kom-<br />

munizierten Fluchtstrebens (vgl. Kap. 6.1 zum Konzept: Auf ein Ich in Panik wirken<br />

äußere Zwänge), und <strong>der</strong> Ausruf, gleich zu sterben, stuft die Relevanz hoch.<br />

In Z. 558 beginnt Tina mit <strong>der</strong> genaueren Beschreibung ihrer körperlichen Wahrneh-<br />

mungen. Der Tempuswechsel weist darauf hin, dass Tina dazu eine distanziertere<br />

Perspektive einnimmt. Die Symptome werden in Form einer Liste präsentiert 116 , die<br />

"minimale Setzungen" 117 (559: "SCHWEIßausbrüche") und "Subjektlose<br />

Infinitkonstruktionen" (560: "GLEICHzeitig och geFRORN") kombiniert. So wird die<br />

116<br />

Listenbildungen im Kontext <strong>der</strong> Symptombeschreibung finden sich in allen vorliegenden<br />

Gesprächen überaus häufig. Dadurch wird dem Erleben Ausdruck verliehen, dass sich eine<br />

ungemeine Vielzahl von beunruhigenden (teilweise wie<strong>der</strong>sprüchlichen) Wahrnehmungen<br />

gleichzeitig einstellt und das Ich völlig einnimmt und "überrollt". Diese "Symptomlisten",<br />

meist in Form "minimaler Setzungen" können sich nach <strong>der</strong> Intensität <strong>der</strong> Attacke<br />

verlängern. Pascal sieht gerade im "↑ALles auf ↑EINmal" (150) das entscheidende Kriterium<br />

für eine "RICHtige panikattacke" (692-702) und Tina den Grund für ihr Beschreibungsproblem<br />

(Tina II: 102f.).<br />

117<br />

"Minimale Setzungen" sind eine "Kondensierungsstrategie, die innerhalb szenischer<br />

Darstellung zur Porträtierung einer verstärkten Dynamik eingesetzt wird" (Günthner 2005).<br />

Sie bilden selbstständige TCUs mit eigenen Intonationsverläufen in denen jedoch nur die<br />

Mittelfedposition besetzt ist (Günthner 2005: 23-25). "Subjektlose Infinitkonstruktionen"<br />

sparen die Nennung des Ereignisträgers aus und ermöglichen wie an<strong>der</strong>e<br />

Kondensierungsstrategien "eine ikonische Abbildung von 'Schlag-auf-Schlag' eintretenden<br />

Handlungsfolgen" (Günthner 2005: 21).<br />

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