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Schicksal im Blut - Wie alles beginnt

Die extra lange Leseprobe zum neuen Fantasy-Roman!

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Prolog<br />

„Mom, Dad! Ich bin wieder da!“ Kaja trat durch die<br />

Terrassentür in die Küche, lehnte ihr Skateboard gegen die<br />

Wand und kickte ihre Turnschuhe von den Füßen.<br />

Summend lief sie über die kühlen Fliesen zum<br />

Kühlschrank und riss die Tür auf. Einen Moment lang blieb<br />

sie mit geschlossenen Augen davor stehen und genoss, wie<br />

die kalte Luft herausströmte und auf ihrer erhitzten Haut<br />

kondensierte. Von wegen in Hamburg gäbe es keinen<br />

Sommer. Selbst jetzt, Ende September, liefen die meisten<br />

ihrer Klassenkameraden rot wie Krebse herum. Zum Glück<br />

war die 19-jährige dank ihres dunklen Typs nicht sonderlich<br />

anfällig.<br />

Kaja schnappte sich eine Tomate und eine Gurke,<br />

stapelte Käse und Schinken auf ihren Armen, schob die<br />

Kühlschranktür mit dem Fuß zu und breitete ihre<br />

Lebensmittel auf der Arbeitsplatte aus. Kaum hatte sie es<br />

geschafft, die Butter auf ihr Brot zu streichen, zog ihre Mutter<br />

sie in eine feste Umarmung und drückte ihr Gesicht in den<br />

weißen Kittel.<br />

Wenig später trat auch ihr Vater in die Küche und<br />

hauchte ihr einen Kuss auf den Haaransatz, bevor er sich zu<br />

seiner Frau neben die Kaffeemaschine stellte. „Grüß deine<br />

Kollegen schön von mir.“<br />

Kajas Mom gab ihm mit ihrer freien Hand einen Klaps<br />

gegen die Schulter, lachte aber und reichte eine Tasse


Kaffee weiter. „Ach, hör bloß auf. Nur weil du heute frei hast,<br />

musst du dich nicht über mich lustig machen.“<br />

Ihr Dad nahm die Tasse lächelnd an. „Würde ich nie<br />

wagen.“<br />

„Zur Strafe darfst du heute Rasen mähen“, verkündete<br />

Kajas Mutter siegessicher und stibitzte eine von Kajas<br />

Gurkenscheiben.<br />

Ein lautes Geräusch durchbrach die Stille des<br />

Sommernachmittags. <strong>Wie</strong> ein plötzlicher Donner, nur, dass<br />

es keiner war. Kajas Herz blieb stehen. Das Messer fiel ihr<br />

klappernd aus der Hand. Das war doch nicht wirklich ein<br />

Schuss! Die Momente verstrichen. Oder waren es nur<br />

wenige Sekunden?<br />

„Was war das?“, fragte Kaja irgendwann.<br />

Als sie keine Antwort bekam, drehte sie sich zu ihren<br />

Eltern um. Ihrer Mom liefen Tränen von den Wangen. Die<br />

Augen starr, als würde das Leben aus ihr gewichen sein. Ihr<br />

Dad ballte die Hände zu Fäusten. Vor Wut kniff er die Augen<br />

stöhnend zusammen, ehe er sie öffnete und Kaja einen<br />

erstaunlich sanften Blick zuwarf. Was war nur los? Die<br />

extremen Reaktionen ihrer Eltern machten Kaja gerade fast<br />

so viel Angst wie der Schuss selbst. Wussten sie etwa, was<br />

da vor sich ging?<br />

„Was war das?“, wiederholte Kaja und spürte<br />

Feuchtigkeit über ihre Wangen rinnen. Ihre Eltern machten<br />

ihr plötzlich unglaubliche Angst. Was wussten sie? Was war<br />

das? <strong>Wie</strong>so nur antwortete ihr niemand? Sie blickte auf ihre<br />

Handflächen, auf die die Tränen tropften, als würde sie sich<br />

vergewissern müssen. Wann hatte sie angefangen zu<br />

weinen? Zeitgleich mit ihrer Mutter wahrscheinlich. Denn<br />

3


noch nie hatte Kaja ruhig bleiben können, wenn ihre Mutter<br />

litt. Wann <strong>im</strong>mer ihr Tränen von den Wangen hinabgelaufen<br />

waren, weil ein liebgewonnener Patient es nicht geschafft<br />

hatte, hatte auch Kaja die Trauer mitgetragen.<br />

Doch dies hier war anders. Denn während ihre Mutter<br />

weinte, war ihr Vater wütend. Oder? Vielleicht war schon<br />

längst wieder <strong>alles</strong> gut? Vielleicht hatte sie sich <strong>alles</strong> nur<br />

eingebildet? Den Schuss genauso wie das Verhalten ihrer<br />

Eltern. Zögerlich hob sie den Kopf, traute sich kaum, ihre<br />

Eltern anzusehen, denn sie ahnte Schl<strong>im</strong>mes. Ahnte, dass<br />

sie sich nichts eingebildet hatte.<br />

Die beiden tauschten ein stummes Blickduell aus. Ihr<br />

Dad deutete mit seinem Kinn und fest zusammengepresstem<br />

Kiefer auf Kaja, während ihre Mutter so vehement den Kopf<br />

schüttelte, dass Tränen umherflogen. Was sollte das nur<br />

bedeuten? „Redet mit mir!“, schrie Kaja viel zu laut, denn<br />

mehrfach hatte sie ihre Eltern seit dem Schuss<br />

angesprochen und wurde seither doch nur ignoriert. „Sagt<br />

einfach was. Egal was. Bitte.“<br />

Der Kopf ihrer Mutter ruckte zu ihr. Ihre Augen glänzten<br />

<strong>im</strong>mer noch rot und nass, doch sie setzte auch ein gequältes<br />

Lächeln auf, während sie die wenigen Schritte zu Kaja ging.<br />

Sie blieb stehen und musterte Kaja von Kopf bis Fuß, als<br />

wollte sie sich jedes Detail ihrer Tochter einprägen. Dann<br />

schloss sie sie in eine feste, warme Umarmung, die sie nach<br />

kurzem Zögern wieder löste, um Kaja an den Schultern so zu<br />

halten, dass sie ihr in die geröteten Augen blicken konnte.<br />

„Kaja, mein Schatz, vergiss nie, wie sehr wir dich<br />

lieben“, flüsterte sie mit gebrochener St<strong>im</strong>me und wischte<br />

sich mit dem Handrücken Tränen von den Wangen.<br />

4


Auch ihr Vater kam zu ihr. Er hob seine Hand, um die<br />

nassen Spuren von Kajas Wangen zu wischen. „Alles wird<br />

gut, Kaja“, sagte er mit erstaunlich kräftiger St<strong>im</strong>me, doch<br />

auch seine Augen waren verräterisch gerötet.<br />

„Was war das?“, schrie Kaja zum dritten Mal und<br />

verzweifelte beinahe an den Worten, die Schwierigkeiten<br />

hatten, sich aus ihrem Mund zu befreien, so sehr zitterte sie.<br />

Ihre Mutter schüttelte schnell den Kopf. Ihr Vater blickte<br />

zu Boden. Dann, ohne Vorwarnung, setzten sie sich in<br />

Bewegung.<br />

Kaja stellte sich den beiden wichtigsten Menschen in<br />

ihrem Leben in den Weg. „Was habt ihr vor?“<br />

„Es tut mir so leid, Kaja. Du ahnst nicht, wie sehr“,<br />

flüsterte ihre Mutter. Kurz warf sie ihrem Mann einen<br />

vielsagenden Blick zu. Als dieser nickte, schaute sie wieder<br />

zu Kaja. „Du bleibst hier, bis der nächste Schuss erklungen<br />

ist.“<br />

„Nein!“, schrie Kaja und nahm Anlauf, um sich ihren<br />

Eltern in den Weg zu stellen. Doch es war, als ob ihre Füße<br />

mit dem Boden verschmolzen wären. So sehr sie auch an<br />

ihnen zerrte, sie bewegten sich keinen Mill<strong>im</strong>eter. Kaja<br />

schluchzte heftig und zog mit ihren Armen an ihren Füßen,<br />

bis sie auf den Boden fiel und weinend zusammenbrach.<br />

„Geht nicht“, presste sie hervor, doch ihr Herz bebte so<br />

heftig, dass sie sich an diesen Worten verschluckte.<br />

„Wir müssen, meine Kleine.“ Ihr Vater versuchte gefasst<br />

zu wirken, doch auch seine St<strong>im</strong>me wackelte verdächtig.<br />

Mit einem letzten langen Blick verabschiedeten sich ihre<br />

Eltern von der noch <strong>im</strong>mer am Boden sitzenden Kaja.<br />

Sie warf den Kopf in ihre Hände und weinte bitterlich.<br />

5


Kurz wollte sie dem Impuls nachgeben, ihre Hände über die<br />

Ohren zu legen. Doch sie widerstand dem Drang und presste<br />

ihre Finger stattdessen auf ihre nassen Augen. Auf gar<br />

keinen Fall wollte sie das nächste Geräusch verpassen.<br />

Wenn sie schon nichts als den Küchenboden sehen konnte,<br />

wollte sie zumindest <strong>alles</strong> hören.<br />

Ein weiterer Schuss erklang.<br />

Kaja schrie so sehr, dass ihre Kehle brannte. Sie<br />

presste ihre Hände an ihre Brust, wo ein durchdringender<br />

Schmerz sich ausbreitete, wie eiskalte Säure, die durch ihre<br />

Adern zog. Sie stand so schnell auf, dass sie auf dem glatten<br />

Fliesenboden rutschte, und stürmte zur Eingangstür, die<br />

sperrangelweit offen stand und den Blick auf den Vorgarten<br />

und die vom Sonnenlicht glitzernde Straße freigab. Niemand<br />

war zu sehen.<br />

Außer … da war jemand. Ein Mann in einem schwarzen<br />

Anzug und mit schwarzen Haaren verschwand gerade um<br />

eine Ecke.<br />

Von ihren Eltern fehlte jedoch jede Spur.<br />

6


1<br />

Das eigensinnige<br />

Wetter<br />

„Bis heute Abend, ihr zwei“, sagte Kaja und zwang sich ein<br />

Lächeln auf, als sie liebevoll über einen Bilderrahmen strich.<br />

Auf dem Foto war ein Paar zu sehen. Die Frau <strong>im</strong><br />

Schwesternkittel lachte so breit, dass man beinahe meinte,<br />

das Lachen aus dem Rahmen dringen zu hören und<br />

umarmte dabei den Mann neben sich. Sie reichte ihm gerade<br />

einmal bis zur Brust, sodass ihre Arme um seine Hüften<br />

geschlungen waren. Der Mann blickte gerade zur Seite, an<br />

die Stelle, wo Kaja gestanden und Faxen gemacht hatte. Er<br />

7


lachte ebenso offen wie die Frau. Seine Hausmeisteruniform<br />

verlieh ihm ein stattliches Aussehen und ließ ihn jünger<br />

wirken, als er auf diesem Foto war. Das Foto war inzwischen<br />

drei Jahre alt.<br />

„Hab euch lieb, Mom und Dad.“ Kaja zog sich ihre<br />

Jeansjacke über – für den angekündigten Nieselregen<br />

musste sie reichen –, warf ihren Rucksack über die Schultern<br />

und nahm ihr Skateboard. Als Letztes setzte sie sich<br />

Kopfhörer auf und trat nach draußen.<br />

Die Hitze schlug ihr wie eine Wand entgegen. Die<br />

Sonne schien von einem strahlendblauen, wolkenlosen<br />

H<strong>im</strong>mel herab und blendete Kaja, sodass sie ihre Augen<br />

abschirmen musste. Nicht das kleinste Lüftchen regte sich,<br />

sodass die ausgetrockneten Büsche und Bäume <strong>im</strong> Park auf<br />

der gegenüberliegenden Straßenseite starr blieben. Stand<br />

nicht <strong>im</strong> Wetterbericht, dass es kalt werden sollte? Mit einem<br />

Stirnrunzeln nahm Kaja ihre Jeansjacke ab und stopfte sie in<br />

ihren Rucksack, bevor sie die Ärmel ihres Strickpullovers<br />

hochschob.<br />

Sie stieg auf ihr Board und fuhr los. Ihr krauser<br />

Lockenkopf wehte selbst be<strong>im</strong> starken Fahrtwind wenig hin<br />

und her. Sie fuhr so schnell, dass die Sonne es kaum<br />

schaffte, sie zum Schwitzen zu bringen, weil der angenehme<br />

Fahrtwind die drückende Hitze zusammen mit all ihren<br />

Sorgen fortblies. Das angedeutete Lächeln in ihrem Gesicht<br />

wurde zu einem vollen Grinsen, als sie mit ihrem Körper das<br />

Skateboard um enge Kurven manövrierte. Diese Momente<br />

waren es, in denen sie sich so frei fühlte, dass sie meinte zu<br />

schweben.<br />

Sie kam vor dem Eingang zur U-Bahn an und kickte das<br />

8


Skateboard hoch. Mit dem Board in der einen und der<br />

unförmig ausgebeulten Stofftasche in der anderen Hand<br />

schlängelte sie sich an einem geschniegelten Herrn <strong>im</strong><br />

Anzug und einem <strong>im</strong> Weg stehenden Kinderwagen samt<br />

junger Mami vorbei, sprang durch die sich schließende U-<br />

Bahn-Tür und macht es sich auf einer Sitzbank gemütlich.<br />

Sie fischte Stephen Kings Es aus ihrem Rucksack und<br />

schlug das Buch dort auf, wo ihr Alien-Lesezeichen lag.<br />

Bereits die erste Seite musste sie zwe<strong>im</strong>al lesen, doch sie<br />

konnte sich bei der stickigen Luft <strong>im</strong> Waggon kaum<br />

konzentrieren. Die Buchstaben verschwammen und ergaben<br />

einfach keinen Sinn. Schließlich klappte sie das Buch wieder<br />

zu.<br />

Kleine Fernseher, die in den U-Bahn-Abteilen hingen,<br />

zeigten abwechselnd denselben Wetterbericht, den Kaja auf<br />

ihrem Handy gesehen hatte, und Fakten über Hamburg, die<br />

selbst Touristen wahrscheinlich nicht sonderlich spannend<br />

fanden.<br />

Kaja schaute gerade rechtzeitig auf, um den Beginn<br />

einer kurzen Nachrichtenmeldung zu sehen. Das Bild eines<br />

Tornados erstreckte sich über den Bildschirm des kleinen<br />

Fernsehers, während der Nachrichtentext stumm unter dem<br />

Bild lief.<br />

„Die Vermisstenstatistik hat einen erneuten Höchstwert<br />

erreicht. In diesem Monat gab es mehr Meldungen als jemals<br />

zuvor. Die Polizei ist wie <strong>im</strong>mer für jeden sachdienlichen<br />

Hinweis dankbar, kann sich die steigenden<br />

Vermisstenzahlen aber nicht erklären. Die neuen Zahlen<br />

stellen die Regierung ebenso sehr vor Rätsel, wie die<br />

neuerdings stärkeren Wetterumschwünge. St<strong>im</strong>men, dass es<br />

9


ei diesen beiden Phänomenen einen Zusammenhang<br />

geben muss, werden lauter.“<br />

Genervt rollte Kaja mit den Augen und blickte wieder in<br />

ihr Buch. Vermisste Personen? Wetterumschwünge? Es gab<br />

garantiert für beides logische Erklärungen. Zum Beispiel die<br />

Tatsache, dass die Regierung mal wieder versuchte einen<br />

Skandal zu vertuschen.<br />

***<br />

Sobald Kaja aus der U-Bahn getreten war, stieg sie wieder<br />

auf ihr Board. Sie flog den Weg entlang, so dringend wollte<br />

sie an ihr Ziel kommen. Mit Schwung sprang Kaja hoch, flog<br />

über eine Flasche hinweg, die ihr den Weg versperrte, und<br />

landete klappernd wieder auf dem Boden. Ein Passant<br />

erschreckte sich, als Kaja ihm in letzter Sekunde auswich<br />

und dann grinsend abbremste.<br />

Vor ihr lag ein kleines Geschäft, über dessen Tür die<br />

Aufschrift GamingParadise in bunten Farben zu sehen war.<br />

Kaja stieg von ihrem Skateboard, kickte es mit ihrem Fuß<br />

hoch und hielt es dann fest. Sie stellte sich bereits in einiger<br />

Entfernung zum Laden auf die Zehenspitzen, konnte aber<br />

doch nicht über die Köpfe der Passanten hinwegsehen.<br />

„Darf ich mal?“, fragte sie, wartete aber gar nicht erst<br />

auf eine Antwort. Die empörten Rufe der umstehenden Leute<br />

ignorierend, schlängelte sie sich durch.<br />

<strong>Wie</strong> ein Kind am Weihnachtsmorgen blickte sie die<br />

Auslage vor sich an. FarCry war endlich herausgekommen.<br />

Ein Computerspiel, mit dem sie sich zumindest für ein paar<br />

Stunden in einer anderen Welt verlieren konnte. Einer<br />

brutalen, ja, aber zumindest einer aufregenden. Kaja konnte<br />

10


es kaum erwarten Abenteuer zu erleben. Aus ihrem tristen<br />

Alltag herauszubrechen und ein paar unglaublich spannende<br />

Stunden zu erleben.<br />

Das Grinsen in ihrem Gesicht war so echt, dass es<br />

beinahe ihre Augen erreichte.<br />

Endlich trat sie in den kleinen Laden. Ein Glöckchen<br />

signalisierte dem Verkäufer, dass jemand eingetreten war.<br />

Normalerweise. Denn diesmal war es so laut und voll in dem<br />

Laden, dass Kaja unter dem St<strong>im</strong>mengewirr kaum den<br />

Grund für die empörten Rufe ausmachen konnte.<br />

Sie konnte nicht einmal bis zum Tresen blicken,<br />

sondern sah nur die letzte Reihe der Menschen, die sich<br />

genau wie sie nach vorne drängen wollten. Ein ihr bekannter<br />

Haarschopf stand kaum ein paar Schritte neben ihr.<br />

„Hey, Jan!“, begrüßte sie den 19-Jährigen. Jan war der<br />

neue Auszubildende in ihrer Firma. Kaja beschäftigte sich<br />

nicht viel mit ihren Kollegen, doch durch ihr gemeinsames<br />

Hobby kam sie öfters mit Jan ins Gespräch.<br />

„Was ist los?“, fragte Kaja über den Lärm der Menge<br />

hinweg und deutete mit einem Daumen auf die<br />

Menschenmasse.<br />

„FarCry ist ausverkauft“, stöhnte Jan und ließ seine<br />

Schultern herabfallen. Sein ohnehin eher schlaksiger Körper<br />

wirkte mit einem Mal noch schmaler.<br />

„Ausverkauft?“<br />

Nichts weiter als ein Nicken war Jans Antwort.<br />

Kaja stöhnte herzzerreißend. Sie hatte sich doch so<br />

gefreut jetzt gleich noch ein bisschen zu spielen! Ein paar<br />

Stunden nur, ehe der langweilige Arbeitsalltag begann.<br />

Wollte sie sich das etwa wegnehmen lassen?<br />

11


Kurz dachte sie darüber nach, sich bis nach vorn zum<br />

Tresen durchzudrängeln und den Verkäufer ihres<br />

Lieblingsladens persönlich zur Rede zu stellen. Ihre Finger<br />

kribbelten, doch ihr Handy summte und zeigte ihr an, dass<br />

ihr Chef ihr schon die erste E-Mail geschrieben hatte. Schnell<br />

fischte sie das kleine Gerät aus ihrer Hosentasche und las<br />

sich die Mail durch.<br />

„Guten Morgen Frau Tierny, heute müssen wir den<br />

Zahllauf auf jeden Fall vor zwölf durchführen, weil die IT-<br />

Abteilung dann ein Update installieren will. Ich hoffe das<br />

haben sie nicht vergessen?“<br />

Fluchend stopfte Kaja ihr Handy wieder weg. Und ob sie<br />

das vergessen hatte. Da sie normalerweise bis sechs für den<br />

Zahllauf Zeit hatte, hatte sie es für Gewöhnlich nicht eilig in<br />

die Firma zu kommen. Für heute hatte sie sich deshalb<br />

vorgenommen, FarCry zu kaufen und noch ein bisschen zu<br />

spielen, ehe sie zur Arbeit ging. Da das Spiel aber sowieso<br />

ausverkauft war, war es wohl nicht schl<strong>im</strong>m, dass sie nun<br />

früher <strong>im</strong> Büro sein musste.<br />

„Wir sehen uns nachher“, sagte Kaja daher und ging mit<br />

der Hand in der Hosentasche und dem Skateboard unterm<br />

Arm wieder nach draußen.<br />

Das Wetter war traumhaft. Es roch nach frisch<br />

gemähtem Gras und blühenden Blumen, die in den kleinen<br />

Zierbeeten ihre Köpfe der Sonne entgegenreckten. Kaja zog<br />

ihren Pullover aus und stopfte ihn zur Jeansjacke in die<br />

Stofftasche. Die wenigen Leute, die Kaja entgegenkamen,<br />

als sie durch die engen Straßen mit wenigen Läden<br />

wanderte, trugen Sommerkleider und Flip-Flops oder bunte,<br />

luftige Hemden. Ein Mann mit weißen Socken und Sandalen<br />

12


kramte etwas aus seiner Bauchtasche hervor, das Kaja nicht<br />

erkennen konnte. Vermutlich eine Kamera, mit der er die<br />

hübschen Seitenstraßen Hamburgs einfangen wollte.<br />

Es sah <strong>alles</strong> in allem aus wie der allerschönste<br />

Sommertag. Mit ihrer Jeans und ihrem Wollpullover passte<br />

Kaja wohl kaum zur Sonne, die noch <strong>im</strong>mer erbarmungslos<br />

herunterschien. Aber es war ja schließlich längst Herbst –<br />

November sogar – und zudem schlechtes Wetter angesagt<br />

gewesen, weshalb Kaja sich lieber wärmer eingepackt hatte.<br />

Ein dicker Tropfen fiel Kaja ins Gesicht. Sie streckte ihre<br />

Hand aus und sah zu, wie weitere große Tropfen sich auf ihr<br />

sammelten. Innerhalb von Sekunden zog der eben noch<br />

strahlende H<strong>im</strong>mel zu und wurde verborgen von bauschigen,<br />

schwarzen Wolken. Ein Blitz zuckte, dann ertönte ein<br />

Donnergrollen. Plötzlich brach der H<strong>im</strong>mel auf. Regen fiel in<br />

dicken Fäden herunter und schlug auf dem Asphalt auf.<br />

Hagel mischte sich unter die Regentropfen. Innerhalb<br />

kürzester Zeit war der Boden durchnässt und mit ihm<br />

zusammen Kaja, die das Schauspiel beobachtet hatte. Es<br />

hatte nur wenige Sekunden gedauert. Sie schüttelte ihren<br />

Kopf und kam endlich aus ihrer Schockstarre heraus.<br />

Sie blinzelte und versuchte in der plötzlichen Dunkelheit<br />

des wolkenverhangenen H<strong>im</strong>mels etwas zu erkennen. Die<br />

Straßen waren komplett leer. Keine Menschenseele war<br />

mehr zu sehen. Wo bitte hatten es alle geschafft, so schnell<br />

Unterschlupf zu finden?<br />

Kaja rannte noch <strong>im</strong>mer mit dem Skateboard <strong>im</strong> Arm<br />

los. Zum Fahren war es längst viel zu glatt. Ihre Firma war<br />

noch einige Straßen weit weg, mindestens zwanzig Minuten<br />

Fußweg. Auch eine U-Bahn war nicht in der Nähe. Doch<br />

13


Kaja war diesen Weg schon so oft gegangen, dass sie jeden<br />

noch so kleinen Winkel von ihm kannte. So wusste sie, dass<br />

in der nächsten Gasse zumindest ein kleiner Unterschlupf<br />

auf sie wartete.<br />

Sie bog um eine Ecke und landete in einer winzigen<br />

Seitenstraße. Ihre Füße krachten in eine bereits erstaunlich<br />

weite und tiefe Pfütze. Fluchend hob Kaja ihren nassen Fuß<br />

an und bedachte angewidert ihr schmutziges Hosenbein. Es<br />

war schon voll mit Matsch. Sie trat einen Schritt zur Seite,<br />

um die Wasserlache zu umrunden, überlegte es sich dann<br />

aber anders. Kaja nahm Anlauf und sprang über die Pfütze<br />

hinweg. Ha! Für einen kurzen Augenblick hatte sie schon<br />

befürchtet, dass sie gleich wieder mitten <strong>im</strong> schmutzigen<br />

Nass landen würde, doch die vielen Sprünge mit dem<br />

Skateboard hatten sich ausgezahlt.<br />

Grinsend ging sie ein paar Schritte weiter, bis sie in der<br />

Mitte der Seitenstraße stehenblieb, wo sie ihr Skateboard<br />

gegen die Wand lehnte. Über ihr war ein Balkon, der ihr ein<br />

wenig Schutz vor dem Regen bot.<br />

„Verdammt“, fluchte sie, obwohl niemand sie hören<br />

konnte. Ihre einst weißen Chucks waren schon fast völlig<br />

braun vom Matsch. Ihre Hose war bis zu den Knien voll mit<br />

Schlammspritzern und ihr Oberteil klebte an ihrem Körper.<br />

Es war so dunkel, als wäre es tiefste Nacht. Um Kaja<br />

herum krachten noch <strong>im</strong>mer die Regentropfen in die Pfützen<br />

und ein Wind toste und zerrte an ihren Haaren.<br />

Es war nicht das erste Mal, dass so etwas passierte.<br />

Ganz <strong>im</strong> Gegenteil. Diese Wetterumschwünge, bei denen es<br />

<strong>im</strong> ersten Moment noch aussah wie am schönsten Tag des<br />

Jahres und <strong>im</strong> nächsten so, als würde eine Arche<br />

14


auftauchen, das passierte seit einigen Jahren häufiger und<br />

häufiger. Meist war Kaja aber <strong>im</strong> Büro oder lag <strong>im</strong> Bett. Es<br />

war das erste Mal, dass Kaja draußen überrascht wurde. Oh<br />

Mann, wieviel lieber würde sie jetzt in ihrem warmen Bett<br />

liegen und ihr Buch weiterlesen?<br />

Ein tiefes Donnergrollen holte Kaja aus ihren Gedanken<br />

und ließ sie erschrocken zusammenzucken. Der Regen<br />

klatschte so laut auf die zent<strong>im</strong>eterdick mit Wasser gefüllten<br />

Pfützen, dass sie nichts anderes mehr hörte. War es jedes<br />

Mal so schl<strong>im</strong>m oder hatte Kaja besonderes Pech und den<br />

schl<strong>im</strong>msten Wetterumschwung bisher erwischt? Welch<br />

Ironie, dass sie nur kurze Zeit zuvor noch die Worte der<br />

Nachrichtensprecherin als lächerlich abgetan hatte.<br />

Genervt stieß Kaja ihren Atem aus, der in einer weißen<br />

Wolke in der Luft kondensierte. Wasser perlte von ihren<br />

Haaren. Sie waren ohnehin meist ein brauner, lockiger<br />

Wuschelkopf, doch dank des Regens und des Windes<br />

standen sie kraus in alle Richtungen ab. Ein Schwall Wasser<br />

tropfte von ihnen Haarspitzen herunter und landete neben<br />

ihren Füßen.<br />

Minutenlang starrte sie mit ihren mandelförmigen,<br />

braunen Augen auf den Boden. Minutenlang beobachtete<br />

sie, wie die Tropfen neben ihr in den langsam<br />

anwachsenden Pfützen aufschlugen. Tropfen und<br />

Hagelkörner, die in erschreckender Lautstärke auf Pfützen<br />

und Pflastersteine knallten.<br />

Ein anderes Geräusch mischte sich zu den<br />

unverkennbaren Klängen des Gewitters. Ein Geräusch wie<br />

Sandkörner, die auf Wellblech trafen. Erst war es nur ganz<br />

leise, und Kaja war sich sicher, dass ihre Sinne ihr bereits<br />

15


Streiche spielten. Dann wurde es <strong>im</strong>mer lauter, so als<br />

würden die Klänge sich auf sie zu bewegen.<br />

Fröstelnd schlang Kaja ihre Arme um ihren Körper. Ihre<br />

Augen suchten die Öffnung der kleinen Gasse ab, als<br />

plötzlich jemand langsam am Eingang vorbeischlenderte. Ein<br />

Mann rannte nicht, um sich vor dem Regen zu schützen,<br />

sondern spazierte langsam und vor sich hin pfeifend an ihr<br />

vorbei. Er hielt sich nicht schützend die Hände über seinen<br />

Kopf, sondern hatte sie in seinen Jackettaschen vergraben.<br />

Es schien, als würde er den Regen, der unerbittlich auf<br />

seinem Körper einschlug, nicht einmal bemerken.<br />

Hagelkörner schlugen dem Mann ins Gesicht, fielen in seine<br />

Augen und prasselten doch nur von ihm ab. Er blinzelte nicht<br />

einmal.<br />

Das Geräusch von Sandkörnern auf Wellblech pulsierte<br />

so laut in Kajas Ohren, dass es kaum von einem erneuten<br />

Donnergrollen übertönt wurde.<br />

Der Mann hob plötzlich eine Hand aus seiner Tasche<br />

und hielt sie sich vors Gesicht. Kaja kniff die Augen<br />

zusammen, um nichts zu verpassen, doch ihre Sicht wurde<br />

vom Regen und dem langsam aufkommenden Nebel<br />

eingeschränkt. Langsam bewegte der Mann seine Finger.<br />

Etwas Leuchtendes schlängelte sich um seine Knöchel und<br />

bildete einen starken Kontrast zu der sonst tristen<br />

Umgebung.<br />

War das etwa Feuer? Kaja schüttelte den Kopf, als ob<br />

sie damit diese völlig absurde Idee loswerden wollte, und<br />

ging automatisch einen weiteren Schritt auf den Mann zu.<br />

Doch in diesem Augenblick war er schon verschwunden.<br />

Irritiert legte sie eine Hand an ihre Stirn. Was war nur<br />

16


los mit ihr? Feuer? Das war natürlich völlig abwegig. Der<br />

Mann hatte sich mit Sicherheit nur eine Zigarette<br />

angezündet. Der Regen und Nebel hatte dann sicher ihr<br />

übriges getan, damit sie diesen Effekt für Feuer hielt.<br />

Gerade wollte Kaja die Idee aufgeben, doch noch<br />

trocken zur Arbeit zu kommen. Ihr Handy vibrierte wieder in<br />

ihrer Hosentasche und zeigte ihr damit eine weitere<br />

Nachricht ihres Chefs an.<br />

„Frau Tierny, die Jungs von der IT haben nochmal<br />

angerufen. Sie wissen doch, dass wir heute eher fertig sein<br />

müssen? Oder habe ich Ihnen freigegeben?“<br />

Mist. Sie musste sich mittlerweile echt beeilen, wenn sie<br />

alle Buchungen noch vor zwölf durchkriegen wollte. Das<br />

würde noch ein verdammt ungemütlicher Arbeitstag werden.<br />

Ihr Chef nervte. Ihr war kalt. Sie war nass und schmutzig.<br />

Und so langsam bildete sie sich sehr komische Sachen ein.<br />

Doch plötzlich beschlich sie ein Gefühl, als ob sie nicht<br />

mehr alleine wäre. Sie wusste, dass sie nun nicht mehr fror,<br />

weil die klamme Nässe sich an ihrer Haut festgesetzt hatte.<br />

Sie fror, weil sie wusste, dass dort jemand hinter ihr stand.<br />

Ihr Herz setzte aus und <strong>alles</strong> in ihr schrie danach, sofort<br />

loszurennen. Doch ihre Füße waren schwer wie Blei und<br />

wollten sich einfach nicht bewegen. Schon spürte sie eine<br />

Hand auf ihrer Schulter. Sobald diese auf Kajas nassem<br />

Oberteil auflag, jagte ein kleiner elektrischer Schlag durch<br />

ihren Körper.<br />

„Wehr dich nicht, Kaja“, hörte sie die St<strong>im</strong>me eines<br />

Mannes hinter sich. „Alles wird gut. Ich weiß, dass du noch<br />

eine Aufgabe vor dir hast. Ich bin gekommen, damit du<br />

endlich dein <strong>Schicksal</strong> erfüllen kannst.“<br />

17


Kajas Augen weiteten sich vor Schreck. Sie wusste,<br />

dass sie sich nicht bewegen konnte, weil ein Zauber des<br />

Mannes hinter ihr sie an Ort und Stelle hielt. Sie wusste nur<br />

nicht, woher sie das wusste. Sie spürte instinktiv, dass jedes<br />

Wort, das dieser Mann sagte, der Wahrheit entsprach. Weil<br />

ihr Herz ihr genau dasselbe sagte.<br />

„Welche Aufgabe?“, war das Einzige, das sie fragte. Sie<br />

wollte nicht wissen, wer da hinter ihr stand und sie wollte<br />

noch nicht einmal wissen, woher dieser Mensch sie kannte.<br />

Denn sie fühlte mit einer unerschütterlichen Klarheit, dass<br />

dieser Mensch hinter ihr von ihren Eltern geschickt worden<br />

sein musste. Sie fühlte es.<br />

„Das darf ich dir noch nicht sagen, Kaja. Verzeih mir.<br />

Verzeih mir bitte auch, dass du dich an diese Begegnung<br />

nicht mehr erinnern wirst“, flüsterte die sanfte St<strong>im</strong>me nah an<br />

ihrem Ohr.<br />

Sofort wollte Kaja protestieren. Sofort wollte sie<br />

schreien und sich nun endlich umdrehen, um dem Mann<br />

hinter sich in die Augen zu blicken. Doch noch bevor sie es<br />

schaffte einen ihrer Gedanken in die Tat umzusetzen,<br />

flatterten ihre Augen langsam zu. Ihre Glieder wurden<br />

schwach und Kaja fiel. Jedoch nicht auf den Boden, sondern<br />

in kräftige Arme.<br />

18


2<br />

Der Beginn von<br />

etwas Neuem<br />

Als Kaja erwachte, fühlte sie sich erstaunlich gut.<br />

Ausgeschlafen, weich und warm in eine Decke eingepackt.<br />

Sie öffnete die Augen und brauchte einen Moment, bevor die<br />

Erinnerung sie wieder einholte. Das wohlige Gefühl, das sie<br />

nur Sekunden zuvor verspürt hatte, verflog.<br />

Mist! Wo bin ich? Was mache ich hier? Es beschlich sie<br />

ein dumpfes Gefühl irgendwo <strong>im</strong> Hinterkopf, etwas Wichtiges<br />

verpasst zu haben. Panisch durchsuchte sie den Raum, in<br />

dem sie erwacht war, nach Hinweisen. Nach Sachen, die ihr<br />

gehörten. Nach Möglichkeiten wegzukommen.<br />

Der Raum war klein, sodass zwischen dem Bett, in dem<br />

19


sie lag, der dunkelbraunen Kommode und dem<br />

Kleiderschrank nur eine winzige Fläche war, auf der man<br />

sich um die eigene Achse drehen konnte. Durch das Fenster<br />

rechts von ihr fiel die untergehende Sonne zwischen<br />

Gitterstäben hindurch und reflektierte an den strahlend<br />

weißen Wänden. An den zwei freien Raumseiten war jeweils<br />

eine Tür.<br />

Kaja sprang aus dem Bett und stürmte auf den Ausgang<br />

zu. Ihre Hand umklammerte den Griff und rüttelte daran,<br />

doch es rührte sich nichts.<br />

Enttäuscht wandte sie sich der zweiten Tür zu, welche<br />

tatsächlich unverschlossen war. Aber Kaja ahnte bereits,<br />

was das bedeuten musste. Hinter der Tür befand sich ein<br />

Badez<strong>im</strong>mer. Ein kurzer Blick verriet ihr, dass dort ein Klo,<br />

ein Waschbecken und eine Dusche waren. In einer Ecke lag<br />

außerdem ein Stapel Handtücher.<br />

Irritiert ging sie ein paar Schritte zurück und stolperte<br />

mit den nackten Füßen über den weichen Teppich. Sie hatte<br />

nicht vor, länger als nötig hier zu bleiben, aber anscheinend<br />

hatten ihre Entführer etwas ganz anderes mit ihr geplant.<br />

Eine unangenehme Gänsehaut breitete sich auf ihrem<br />

Körper aus. Ich will nach Hause.<br />

Kaja umschlang fröstelnd ihren Oberkörper. Sie hatte<br />

zwar ihre Chucks und Socken nicht mehr an, dennoch trug<br />

sie noch <strong>im</strong>mer die Kleidung vom Vorabend. Ihr feuchtes Top<br />

klebte an ihrem Oberkörper und der Dreck verfärbte ihre<br />

Jeans. Sie hätte jetzt <strong>alles</strong> für einen wärmenden Pullover<br />

gegeben. Doch in dem Raum war nichts.<br />

Kajas Knie drohten unter ihr nachzugeben. Nicht nur,<br />

weil sie noch <strong>im</strong>mer nicht die geringste Ahnung hatte, wo sie<br />

20


sich befand, sondern auch, weil sie viel zu schnell<br />

aufgesprungen war. Schwindel packte sie, und sie hielt sich<br />

an den Gittern des Fensters neben sich fest. Bis zum<br />

Horizont bauschten sich unter ihr Baumkuppeln wie rot-grüne<br />

Wolken auf, so weit Kaja blicken konnte. Sonst war nur der<br />

wolkenverhangene H<strong>im</strong>mel zu sehen, der sich noch <strong>im</strong>mer in<br />

dicken Tropfen über die Erde ergoss.<br />

Erst jetzt fiel Kaja auf, welch einen Durst sie hatte. Ihr<br />

Hals kratzte, als hätte sie zu viel geschrien. Sie ging ins<br />

Badez<strong>im</strong>mer, wo sie ihren Kopf unter den laufenden<br />

Wasserhahn hielt. Als sie ihr Gesicht wieder getrocknet<br />

hatte, nahm sie einen Zahnputzbecher und füllte ihn mit<br />

Wasser. Sie leerte ihn in einem langen Zug und wischte sich<br />

dann abwesend über ihren Mund. Sie musste so schnell wie<br />

möglich abhauen. Soviel war ihr klar. Denn sie wollte<br />

keinesfalls ihren Entführern begegnen, die vermutlich sonst<br />

was mit ihr geplant hatten.<br />

Ihre Hände durchsuchten mechanisch die Taschen ihrer<br />

Jeans und fanden nichts. Auch ein Blick zurück in ihr kleines<br />

Z<strong>im</strong>mer half ihr nicht. Sie hatte ihr Handy nicht hier und ihre<br />

Entführer hatten auch ihre Tasche genommen. Nicht einmal<br />

ihr Skateboard hatten sie ihr gelassen.<br />

Noch einmal stellte Kaja sich vor die Tür, die in die<br />

Freiheit führen musste, trat dagegen, so fest sie konnte, fiel<br />

jedoch nur vor Schmerzen gekrümmt auf ihren Hintern und<br />

rieb sich ihren Fuß. So funktionierte es definitiv nicht. Sie war<br />

nicht stark genug. Was konnte sie nur tun? <strong>Wie</strong> konnte sie<br />

hier wegkommen?<br />

Sie konnte nur darauf warten, dass ihre Entführer zu ihr<br />

kamen. Die Erkenntnis traf Kaja, noch während sie ihren<br />

21


malträtierten Fuß rieb. Dann würde sie versuchen diese zu<br />

überwältigen. Und ja, sie würden kommen, denn schließlich<br />

hatten sie es für Kaja ziemlich angenehm eingerichtet.<br />

Früher oder später würden sie ihr sicher auch Essen bringen.<br />

Und <strong>alles</strong>, was Kaja tun musste, war warten und dann<br />

zuschlagen.<br />

Sie durchsuchte den Raum nach etwas, das als Waffe<br />

dienen konnte. Jedoch war hier <strong>alles</strong> auf den ersten Blick<br />

glatt und makellos. Nur Flächen, keine Kanten. Dann<br />

entdeckte sie den Griff an ihrem Nachttisch. Eine zwanzig<br />

Zent<strong>im</strong>eter lange Holzstange. Besser als nichts.<br />

Unter einiger Anstrengung löste sie den Griff von seiner<br />

Halterung und rammte ein Ende der Holzstange in den<br />

Boden. Die Stange brach und splitterte. Zurück blieb ein<br />

zugespitztes Stück Holz. Fast wie ein Pfahl. Das musste<br />

reichen.<br />

Bereit zu kämpfen, stellte Kaja sich neben die Tür und<br />

grinste zum ersten Mal, seitdem sie in diesem merkwürdigen<br />

Raum aufgewacht war. Oh ja, sie würde ihrem Entführer<br />

schon noch zeigen, dass sie sich das falsche Opfer<br />

ausgesucht hatten!<br />

***<br />

Ungeduldig verlagerte Kaja ihr Gewicht von einem Fuß auf<br />

den anderen, jedes Mal, wenn ihre Beine schwach wurden.<br />

<strong>Wie</strong> lange hatte man sie hier wohl schon allein gelassen? Ob<br />

überhaupt jemand hier war? Sie trat genervt von der Tür weg<br />

und ging zum Fenster, um nachzusehen, ob überhaupt<br />

jemand aus dem Gebäude rein oder raus ging, sah jedoch<br />

minutenlang niemanden. Noch irritierter als zuvor ging sie<br />

22


zurück zu der Tür, die in die Freiheit führte, und lauschte, ob<br />

sie jemanden vorbeilaufen hören konnte. <strong>Wie</strong>der nichts. Also<br />

musste Kaja weiterhin stumm warten. Bis sich endlich etwas<br />

rührte.<br />

Doch es tat sich nichts. Es tat sich eine ganze Ewigkeit<br />

lang nichts. Kaja hatte ausgeschlafen, aber fühlte sich <strong>im</strong>mer<br />

noch matt. Doch sie wollte nicht zurück ins Bett. Es war nass<br />

und schmutzig von den Klamotten, mit denen sie darin<br />

gelegen hatte. Vor allem wollte sie ihren Platz neben der Tür<br />

nicht aufgeben. Sie wollte ihre Entführer schließlich<br />

überraschen und das konnte sie wohl kaum, wenn sie sich<br />

erst aus der Bettdecke schlängeln musste. Genervt wandte<br />

sie sich mit dem Werkzeug in der Hand ab und holte ein<br />

weiteres Glas Wasser.<br />

Das Prasseln des sich unerbittlich ergießenden Regens<br />

lullte Kaja ein. Bald wurde es so dunkel, dass nur wenige<br />

Mondstrahlen die Konturen der Möbel erleuchteten. Ihre<br />

Lider senkten sich <strong>im</strong>mer wieder langsam herab. Ihr Körper<br />

war müde und schlapp. Kaja konnte kaum mehr das leichte<br />

Stück Holz aufrechthalten, das sie seit Stunden<br />

umklammerte. Ihre Kleidung war getrocknet und ihre Jeans<br />

fühlte sich von dem Schmutz ganz hart an. Doch Kaja ließ<br />

die Tür nicht aus den Augen, bis die Sonne langsam aufging<br />

und orangerote Lichtreflexe auf sie warf.<br />

Dann, als sie gerade aufgeben und sich doch in ihr Bett<br />

legen wollte, bewegte sich der Griff der Tür. <strong>Wie</strong>so hörte sie<br />

eigentlich keinen Schlüssel? Es war abgeschlossen, dessen<br />

war sich Kaja sicher. Doch daran durfte sie jetzt nicht<br />

denken. Sie konzentrierte sich nur auf die Tür. Ihre Hände<br />

hielt sie kampfbereit hoch – in der Faust noch <strong>im</strong>mer ihre<br />

23


provisorische Waffe.<br />

Als die Tür sich öffnete, wartete Kaja nur wenige<br />

Sekunden ab, um zu sehen, wie viele Personen gekommen<br />

waren. Wenn es mehr als eine war, würde sie sich kaum<br />

wehren können. Doch zu ihrer großen Freude trat nur eine<br />

einzige Person in den Raum und Kaja stieß diese zu Boden.<br />

Sie ignorierte das scheppernde Geschirr und die Flüssigkeit,<br />

die ihr ins Gesicht spritzte, und hielt ihr spitzes Holzwerkzeug<br />

an die Kehle des Mannes.<br />

„Kaja, was zur Hölle machst du da?“, stöhnte der junge<br />

Mann, der kaum älter als sie selbst sein durfte. Es<br />

überraschte sie nicht, dass er ihren Namen kannte. Es<br />

überraschte sie jedoch sehr, dass er anscheinend nicht mit<br />

einem Angriff ihrerseits gerechnet hatte.<br />

„Ich will wissen, was ich hier mache“, zischte sie.<br />

Seine Haare und Augen waren pechschwarz. Er hatte<br />

hohe Wangenknochen und trug einen schwarzen Anzug. Bis<br />

auf die Überreste des Müslis, welches er ihr mitgebracht<br />

hatte, war es ein sehr hübscher Mann.<br />

„Nun beruhige dich doch“, flüsterte er und versuchte<br />

sich aufzurappeln. Er stieß jedoch nur gegen das spitze<br />

Holz, das Kaja noch <strong>im</strong>mer gegen seine Kehle hielt und ließ<br />

sich zurück auf den Boden fallen.<br />

„<strong>Wie</strong> soll ich mich bitte beruhigen? Was ist das hier?<br />

Bist du ein Triebtäter? Willst du Lösegeld erpressen? Willst<br />

du mich umbringen?“, brüllte sie.<br />

Der Mann wischte mit den Daumen eine Haferflocke<br />

von seinen Wangenknochen und pustete eine Locke aus der<br />

Stirn, die er nachdenklich kraus zog, bevor er sie mit dunklen<br />

Augen ansah. „Kannst du bitte von mir runtergehen, Kaja?“<br />

24


„Nein, ich kann nicht von dir runtergehen, Ben“, ahmte<br />

sie seinen Ton nach und hielt <strong>im</strong> nächsten Moment<br />

geschockt inne. Ben? Kannte sie etwa seinen Namen?<br />

Ihre Panik verflog. Nicht nur, weil ihr Ben bekannt<br />

vorkam, sondern auch, weil er noch <strong>im</strong>mer reglos am Boden<br />

lag. Ihr Entführer hatte nicht vor, ihr etwas anzutun. Soviel<br />

war sicher. Er war allein bei ihr aufgetaucht, hatte sie nicht<br />

bedroht, sich nicht einmal gewehrt, und ihr sogar etwas zu<br />

Essen mitgebracht.<br />

Allmählich erhob Kaja sich aus ihrer Hocke und setzte<br />

sich auf das Bett. Sie schob ihre widerspenstigen Locken<br />

hinters Ohr, doch die Haare fielen ihr wieder in die Stirn.<br />

Ben erhob sich langsam, während Kaja ihn aus<br />

zusammengekniffenen Augen beobachtete. Sein Gesicht<br />

verriet nicht, was er dachte, während er sich klebriges Müsli<br />

vom Körper strich. Mit einem Seufzen gab er auf, steckte<br />

seine Hände in die Taschen seiner Anzughose und musterte<br />

sie von oben bis unten.<br />

Noch <strong>im</strong>mer streckte Kaja ihm den abgebrochenen<br />

Holzgriff entgegen. Und sie hatte nicht vor ihre Waffe so<br />

schnell aus der Hand zu legen. Auch wenn von Ben keine<br />

unmittelbare Gefahr auszugehen schien, konnte er ein<br />

Verrückter sein und bei denen war man sich nie sicher, was<br />

sie vorhatten.<br />

Mit erhobenen Händen trat Ben einen Schritt auf sie zu<br />

und zeigte, dass er unbewaffnet war. Kaja nickte zufrieden.<br />

Sie senkte ihren Holzstab ein bisschen, ohne ihn jedoch<br />

ganz wegzulegen.<br />

„Bist du jetzt in der richtigen St<strong>im</strong>mung, um zu reden?“,<br />

fragte Ben irgendwo zwischen mitfühlend und genervt.<br />

25


„Das kommt wohl darauf an, was du mir zu sagen hast“,<br />

antwortete Kaja widerwillig. Dieser Ben hatte besser schnell<br />

eine verdammt gute Erklärung, denn sonst würde sie ihm<br />

diesen Holzstab schon bald dorthin schieben, wo es wehtat.<br />

Bens Mundwinkel zuckten ganz leicht, als wollte er sie<br />

gerade anlächeln, doch sofort blickte er wieder ernst. „Du<br />

hast natürlich Recht. Du hast keinen Grund, mir zu<br />

vertrauen.“<br />

Ihre Neugierde hatte er mit dieser Aussage schon mal<br />

entfacht. Wenn er bereits von Vertrauen sprach, war er<br />

entweder ein verdammt gerissener Entführer, der sie in<br />

Sicherheit wiegen wollte – oder überhaupt kein Entführer,<br />

sondern vielmehr eine Art Verbündeter. Mit ihrem Holzstück<br />

deutete Kaja an, dass er weiterreden sollte. Sie wollte<br />

wissen, was von beidem dieser Ben sein würde.<br />

„Wenn ich dir jetzt erzähle, was wir vorhaben, willst du<br />

mir sicher schon aus Prinzip nicht glauben“, fing er an.<br />

Mit einem Schulterzucken und einem entschuldigenden<br />

Lächeln bestätigte Kaja seine Vermutung. Sie hatte schon zu<br />

viele Thriller gelesen, um einfach einem gutaussehenden<br />

Typen zu vertrauen. Jemandem, der sie entführt, dem würde<br />

sie best<strong>im</strong>mt nicht so einfach glauben. Gespannt, was für<br />

eine Erklärung kommen würde, setzte sie sich bequemer hin,<br />

ließ Ben jedoch nicht aus den Augen.<br />

Ein steifes Nicken folgte, dann fragte er möglichst<br />

höflich: „Wenn du vielleicht bitte deine Waffe zur Seite legen<br />

würdest?“<br />

Die Worte waren so sanft, dass Kaja wirklich fast so<br />

weit war, Bens Wunsch nachzukommen. Ihre Hand zuckte<br />

bereits, denn Ben stand noch <strong>im</strong>mer genau dort, wo sie ihn<br />

26


gebeten hatte, stehenzubleiben. Bekleckert mit Müsli und mit<br />

den Händen in den Taschen. Alles andere als eine<br />

offensichtliche Gefahr. Aber dann entschied sie sich<br />

dagegen. Er sah zwar nicht wie eine Bedrohung aus, aber er<br />

hielt sie in einem Z<strong>im</strong>mer gefangen. Normal war das<br />

jedenfalls nicht.<br />

„Nein“, sagte sie. „Noch nicht. Erst will ich hören, was<br />

ich hier mache.“<br />

„<strong>Wie</strong> gesagt, Kaja, ich werde es dir noch nicht sagen.<br />

Ich habe einen anderen Vorschlag für dich. Ich bringe dir<br />

heute Abend <strong>alles</strong>, was du brauchst. Kleidung, wenn du<br />

möchtest. Dein Handy und deinen Laptop. Und …“ Bei den<br />

letzten Worten stockte er, sah Kaja tief in die Augen, als<br />

forschte er in ihnen nach einer best<strong>im</strong>mten Information, und<br />

lächelte dann. „Bücher“, schloss er seine Aufzählung. „<strong>Wie</strong><br />

hört sich das an?“<br />

Kaja kniff ihre Augen zusammen. Bücher?<br />

Ausgerechnet Bücher? Wusste Ben etwa, wie gern sie las<br />

oder hatte er diesen Vorschlag nur so in den Raum<br />

geworfen? War er vielleicht ein Stalker? Das, was Kaja aus<br />

den Medien von Stalkern wusste, passte aber nicht zu Bens<br />

Verhalten. Stalker waren Verrückte, die den Bezug zur<br />

Realität verloren hatten und dachten, dass sie tatsächlich mit<br />

einer Person zusammen waren, obwohl das nicht st<strong>im</strong>mte.<br />

Ben wirkte aber ruhig und distanziert. Er fasste sie nicht<br />

einmal an, sondern versuchte lediglich mit ihr zu Reden. Es<br />

blieb Kaja wohl nichts anderes übrig, als über Bens<br />

Vorschlag nachzudenken.<br />

„Du willst mir all das besorgen?“, fragte sie mit noch<br />

<strong>im</strong>mer zusammengekniffenen Augen. „Und erwartest dafür,<br />

27


dass ich hier brav auf dich warte. Verstehe ich das richtig?“<br />

Ben nahm seine Hände aus seinen Taschen. Erneut<br />

versuchte er das langsam eintrocknende Müsli von seinem<br />

Anzug zu kratzen, erneut scheiterte er daran und<br />

verschmierte den hellen Matsch nur noch mehr. „Dafür<br />

werde ich dir aber heute Abend etwas erzählen, das dein<br />

gesamtes Weltbild auf den Kopf stellen wird. Den Grund,<br />

warum du hier bist und warum du selbst ein Interesse daran<br />

hast, auch hier zu bleiben.“<br />

Kaja lachte bei diesen Worten schallend. „Geht es nicht<br />

eine Spur dramatischer?“, fragte sie und legte nun doch<br />

ihren Holzpfahl neben sich aufs Bett. Sie stand auf, ging an<br />

Ben vorbei und spähte ins Bad. „Ich will mein Kosmetikzeug<br />

haben. Shampoo, Duschgel und so. Nicht nur das Zeug, das<br />

schon hier liegt.“<br />

„Alles klar.“<br />

Kaja drehte sich wieder um und stockte. Ben stand noch<br />

genau an derselben Stelle, an der er Sekunden zuvor<br />

gestanden hatte. Er hatte seine Hände wieder in seinen<br />

Taschen vergraben. Sein Anzug war aber auf einmal<br />

makellos sauber.<br />

„Was ist passiert?“ Kaja deutete auf das blaue Jackett.<br />

Der Boden hingegen war noch <strong>im</strong>mer voll mit matschigem<br />

Müsli.<br />

„Was meinst du?“, fragte Ben unschuldig. Sein Gesicht<br />

war völlig emotionslos. Fehlte nur noch, dass er summend<br />

durch die Gegend schaute.<br />

Kaja trat direkt vor ihn, fuhr mit einer Hand über den<br />

Kragen von Bens Jackett und begutachtete dann ihre Finger.<br />

Nichts. Sie waren sauber.<br />

28


„Da war doch eben noch <strong>alles</strong> voll mit Müsli!“, sagte sie<br />

in einem Ton, der keine weiteren Widerworte duldete. Ihre<br />

grünen Augen bohrten sich anklagend in Bens schwarze, der<br />

ihren Blick ohne zu blinzeln erwiderte.<br />

„Haben wir jetzt eigentlich einen Deal, Kaja?“<br />

Sie tippte sich mit ihrer Hand ans Kinn. „Wenn ich nicht<br />

bei deinem tollen Deal mitmachen will, muss ich in diesem<br />

Z<strong>im</strong>mer bleiben, nicht wahr? Nur dass du mir dann meine<br />

ganzen Sachen nicht bringen wirst, richtig? Und eben auch<br />

nichts verrätst?“<br />

<strong>Wie</strong>der zuckte Bens Mundwinkel verdächtig. Doch<br />

wieder hielt er sich mit seinem Lächeln zurück. Erst jetzt<br />

erkannte Kaja, dass Ben sich in den letzten Minuten keinen<br />

Mill<strong>im</strong>eter bewegt hatte. Noch <strong>im</strong>mer stand er da wie ein<br />

gegossener Zinnsoldat. Würde er nicht reden und hätte er<br />

nicht zuvor sein Jackett versucht zu säubern, Kaja hätte ihn<br />

für eine Statue halten können. Nein, ein Triebtäter oder<br />

etwas ähnlich Schl<strong>im</strong>mes konnte er definitiv nicht sein. Im<br />

Gegenteil. Da er sich so wenig bewegte, wirkte er wie<br />

jemand, der besonders beherrscht und zielgerichtet war. Die<br />

Frage war nur: Welches Ziel verfolgte er?<br />

„Ich bringe dir deine Sachen in jedem Fall. Ob du<br />

mitmachst oder nicht. Wenn du mir aber nicht zust<strong>im</strong>mst,<br />

wird es mit Sicherheit länger dauern, bevor du die Wahrheit<br />

erfährst. Und glaub mir, du willst die Wahrheit erfahren.“<br />

<strong>Wie</strong>der musste Kaja schallend lachen. Wenigstens<br />

schien dieser Ben ehrlich zu sein. Wenigstens verriet er ihr,<br />

dass sie ihre Sachen erhielt, egal ob sie zust<strong>im</strong>mte oder<br />

nicht. Doch vielleicht war auch das nur ein Trick? Um ihn<br />

freundlicher und ehrlicher wirken zu lassen?<br />

29


Kaja dachte angestrengt nach. Egal, ob es ein Trick war<br />

oder nicht, sie konnte ohnehin nicht viel machen. Sie konnte<br />

entweder weiterschmollen und riskieren, dass Ben doch<br />

noch irgendwie sauer wurde, oder sie konnte zust<strong>im</strong>men und<br />

zumindest frische Kleidung erhalten. Wenn sie dann die<br />

Wahrheit erfuhr, konnte sie <strong>im</strong>mer noch versuchen<br />

abzuhauen. Und mit Handy und frischer Kleidung war das<br />

um einiges leichter.<br />

„Okay.“ Schlussendlich hielt sie Ben eine Hand zum<br />

Einschlagen hin. Dieser blickte mehrere Sekunden darauf.<br />

Was ist? Ich dachte, er will so gern, dass ich mitmache?<br />

Um seine Augen bildeten sich sorgenvolle Fältchen,<br />

während seine Lippen zu einer einzigen Linie<br />

zusammengepresst waren. Endlich atmete er aus und schlug<br />

in Kajas Hand ein.<br />

Sofort wurde Kajas Körper von einem winzigen<br />

elektrischen Impuls durchgeschüttelt. Die Haare an ihren<br />

Armen stellten sich auf. Ihre Kopfhaut kribbelte und eine<br />

unerklärliche Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus.<br />

Geschockt blickte sie Ben an, der wortlos aus dem Raum<br />

stürmte.<br />

Kaja starrte ratlos auf ihre Hand. Das Gefühl des<br />

Stromschlags war längst abgeebbt, doch sie spürte das<br />

Kribbeln noch <strong>im</strong>mer in ihrem gesamten Körper. <strong>Wie</strong><br />

knisternde Brause. Was für ein komischer Kerl. Was für ein<br />

noch viel komischeres Gefühl. Endlich verschwand es und<br />

Kaja begann zu frieren. Die Härchen an ihrem Körper stellten<br />

sich vor Kälte auf. Best<strong>im</strong>mt hatte sie sich diesen<br />

Stromschlag nur eingebildet. Best<strong>im</strong>mt hatte sie bloß eine<br />

Gänsehaut gefühlt. Oder?<br />

30


Ihr Blick fiel auf den Boden an die Stelle, wo zuvor Ben<br />

in einem kreisrunden Fleck aus verschüttetem Müsli<br />

gestanden hatte. Doch der Fleck war verschwunden.<br />

Kaja kniete sich hin, um den Teppich zu betrachten.<br />

Nichts. Sie stand wieder auf. Mit einem Fuß rieb sie über die<br />

Fasern, konnte aber nichts Seltsames feststellen.<br />

Verwirrt wollte sie sich ins Bett fallen lassen, als sie sich<br />

daran erinnerte, wie schmutzig sie es gemacht hatte. Oh<br />

nein, stöhnte sie innerlich. Sie wappnete sich für den Anblick<br />

und drehte sich dann um.<br />

Doch ihr Bett war längst nicht mehr schmutzig. Weiße,<br />

trockene Decken und Kissen empfingen Kaja. Auf ihrem<br />

Nachttisch stand eine Schüssel, die zuvor noch nicht dort<br />

gestanden hatte. Dieselbe, die eben noch auf dem<br />

schmutzigen Teppichboden gelegen hatte. Aber die war Ben<br />

doch aus der Hand gefallen! Die Schüssel und ihr Inhalt<br />

hatten sich über Ben und den Teppich in dem Z<strong>im</strong>mer<br />

ergossen.<br />

Kaja drehte sich mehrfach <strong>im</strong> Kreis. Vor einigen<br />

Sekunden noch war das Bett schmutzig und das Müsli<br />

ausgeschüttet gewesen. Ganz sicher! Und jetzt? Bildete sie<br />

sich hier langsam Sachen ein?<br />

Sie trat langsam auf den Nachttisch zu. Sie tippte die<br />

blau gemusterte Schale mit einem Finger an, als erwartete<br />

sie, dass es sich um ein Hologramm handelte. Doch ihr<br />

Finger traf auf etwas Kaltes und Hartes. Also definitiv echt.<br />

Dann beugte sie sich nach vorn, sodass sie den Inhalt sehen<br />

konnte. Matschige Haferflocken, die in einem Meer von Milch<br />

schwammen. Keine Rosinen, dafür getrocknete Erdbeeren.<br />

Kajas Lieblingssorte. Genauso aß sie ihr Frühstück seit<br />

31


unzähligen Jahren.<br />

Völlig überfordert blickte Kaja zur verschlossenen Tür,<br />

als wartete sie darauf, dass Ben mit einer völlig logischen<br />

Erklärung zurückkam. Du hast die ganze Nacht nicht<br />

geschlafen, dein Verstand spielt dir lediglich Streiche, redete<br />

sie sich selbst ein. Zufrieden nickte sie. Ja, mit dieser<br />

Erklärung konnte sie leben.<br />

***<br />

Ungeduldig tigerte Kaja in ihrem Z<strong>im</strong>mer auf und ab.<br />

Draußen herrschte strahlender Sonnenschein. Es musste<br />

mindestens schon Mittag sein, zumindest hatte Kaja erneut<br />

verdammt Hunger. So viel, dass sie sich sogar den Geruch<br />

von Essen einbildete. Oder nein, es roch noch <strong>im</strong>mer nach<br />

der Milch von ihrem Müsli, weil die Schüssel neben Kaja auf<br />

ihrem Nachttisch lag.<br />

Fast freute sie sich darauf, Ben wiederzusehen. Sie<br />

konnte es kaum erwarten, zu duschen und in frische<br />

Kleidung zu schlüpfen, und sie konnte es vor allem nicht<br />

erwarten, endlich mehr über ihre Situation herauszufinden.<br />

Wo war sie? Warum war sie hier? Weshalb hatte Ben ihr<br />

nicht bei ihrer letzten Begegnung schon gesagt, was los<br />

war? Würde sie wirklich freiwillig bleiben wollen, wenn sie<br />

erfuhr, worum es hier ging?<br />

Von der anderen Seite der Tür scharrte ein Schlüssel <strong>im</strong><br />

Schloss. Neugierig blickte Kaja auf. Bei Ben hatte sie den<br />

Schlüssel gar nicht hören können. War es also jemand<br />

anderes?<br />

Der Türgriff wurde von außen heruntergedrückt und ein<br />

junger Mann in Hemd und Krawatte stand <strong>im</strong> Türrahmen. Er<br />

32


grinste so breit, dass es fast aussah, als bemühte er sich<br />

einem Zahnarzt jeden einzelnen seiner Zähne zu zeigen.<br />

Unterstützt wurde der Effekt noch von den Grübchen auf<br />

seinen Wangen. In seinen Händen hielt er ein Tablett, von<br />

welchem aus es köstlich nach Spaghetti Bolognese roch.<br />

„Prinzessin“, sagte er anstelle eines Grußes und neigte<br />

seinen blonden Lockenkopf, bis ihm einige Strähnen vor die<br />

Augen fielen.<br />

„Prinzessin?“, fragte Kaja irritiert zurück und setzte sich<br />

aus ihrer halb liegenden Position auf.<br />

Unaufgefordert trat er ein und stellte das Tablett neben<br />

Kaja aufs Bett, bevor er sich neben der Tür an die Wand<br />

lehnte. Kaja blickte den Kerl herausfordernd an und wartete<br />

darauf, dass er verschwand. Am besten um Ben zu holen.<br />

Wo zur Hölle war dieser Kerl überhaupt? Er hatte ihr doch<br />

versprochen, mit ihren Sachen zurückzukommen. Kaja ballte<br />

die Hände so fest zu Fäusten, dass sie fast taub wurden.<br />

Dieser Bastard hatte sie angelogen. Er würde garantiert<br />

niemals kommen und erst recht nicht mit ihren Sachen. <strong>Wie</strong><br />

hatte sie nur so leichtgläubig sein können? Sie war wütend.<br />

So wütend, dass ihr Körper beinahe zitterte.<br />

„Und du bist?“, zischte sie ihrem Mitentführer entgegen,<br />

ohne den Blick von seinen belustigt leuchtenden Augen zu<br />

nehmen.<br />

„Viktor.“ Er drehte sich einmal grinsend <strong>im</strong> Kreis, bevor<br />

er sich wieder gegen die Wand lehnte. „Das bin ich.“<br />

Falls dieser Viktor zu ihren Entführern gehörte, dann<br />

war er der mit Abstand merkwürdigste Kr<strong>im</strong>inelle, den Kaja<br />

jemals hatte kennenlernen dürfen. Auch wenn er nach Ben<br />

erst der zweite war.<br />

33


„Möchtest du mir nicht vielleicht sagen, was ich hier in<br />

diesem Z<strong>im</strong>mer mache?“, fragte sie sichtlich genervt und<br />

legte den Teller mit ihren Spaghetti auf ihren Schoß. Ihren<br />

Holzpfahl hatte sie dummerweise in ihrer<br />

Nachttischschublade versteckt, weil sie mit Ben gerechnet<br />

hatte. Doch die heißen Nudeln konnte sie Viktor zur Not auch<br />

ins Gesicht werfen, um dann abzuhauen.<br />

„Ich darf dir leider nichts sagen, Prinzessin. Das ist<br />

Bens Aufgabe“, war Viktors wenig hilfreiche Antwort.<br />

„Prinzessin?“, grummelte sie mit schlecht unterdrückter<br />

Wut in der St<strong>im</strong>me. Wenn sie schon nichts anderes sagen<br />

konnte, dann konnte sie wenigstens ihren Ärger deutlich<br />

machen. Sie begann mit ihrer Gabel ein paar der Nudeln<br />

aufzuwickeln, hielt den Teller aber noch <strong>im</strong>mer so, dass sie<br />

ihn zur Not als Waffe nutzen konnte.<br />

„Ich kann dich auch Kaja nennen, wenn dir das lieber<br />

ist.“ Er richtete seine Krawatte, behielt sie dann aber in der<br />

Hand und wedelte abwesend mit ihr in der Luft, während er<br />

neugierig Kajas Z<strong>im</strong>mer musterte. „Gefällt es dir hier? Kann<br />

ich etwas für dich tun?“<br />

„Kaja wäre gut. Und ich würde verdammt nochmal gern<br />

wissen, was ich hier mache!“, schrie sie und der Teller, den<br />

sie mit nur einer Hand am Rand festhielt, drohte bereits von<br />

ihrem Schoß zu fallen, so fest drückte sie dagegen. <strong>Wie</strong>so<br />

war Ben nicht hier? <strong>Wie</strong>so verschwendete sie Zeit mit<br />

diesem Viktor? <strong>Wie</strong>so sagte ihr niemand, weshalb sie<br />

gefangen gehalten wurde?<br />

Amüsiert schüttelte Viktor seinen Kopf. Er stieß sich von<br />

der Wand ab und wandte sich pfeifend der Tür zu.<br />

Unfassbare Wut packte Kajas ganzen Körper. Viktor haute<br />

34


einfach ab? Sein Ernst? Ohne ihr zu antworten?<br />

Als Viktor gerade die Hand an den Türgriff legte,<br />

schmiss Kaja ihm den Teller Pasta entgegen. Sie zielte nicht<br />

direkt auf ihn, obwohl sie dazu nicht übel Lust gehabt hätte.<br />

Nein, sie zielte und traf auf die Tür. Direkt neben Viktor. Mit<br />

einem schmatzenden Geräusch klatschten die Nudeln auf<br />

das Holz. Der Teller schepperte in kleinen Stückchen zu<br />

Boden.<br />

Viktor wirbelte zu Kaja herum, welche in dem kurzen<br />

Moment seiner Irritation bereits ihre provisorische Waffe aus<br />

ihrer Nachttischschublade geholt hatte. Sie stand direkt vor<br />

ihm und hielt ihm das spitze Ende ihres Holzstabes direkt vor<br />

die grauen Augen, sodass er schielend darauf blickte.<br />

Wenn Kaja keine Antworten erhielt, dann musste sie<br />

eben abhauen. Zum Teufel mit Ben und dem blöden Deal.<br />

<strong>Wie</strong>der lächelte Viktor, während er seine Hände nach<br />

oben nahm und Kaja damit zeigte, dass er unbewaffnet war.<br />

„Was ist bitte in dich gefahren?“, fragte er extrem ruhig, was<br />

Kaja noch wütender machte. Sein Blick wanderte am Holz<br />

entlang, dann ihren Arm herauf, bis er in ihre Augen sah.<br />

„Ich mag es nicht, wenn man mich gefangen hält und<br />

nicht einmal sagt, weshalb. Wollt ihr eine Lösegeldforderung<br />

stellen? Da kann ich dich gleich enttäuschen. Da draußen ist<br />

keine einzige Menschenseele mehr, die noch für mich<br />

aufkommen würde. Ich habe keine Familie mehr.“<br />

Mitgefühl schlich sich in Viktors fröhliches Gesicht. Sein<br />

übliches Grinsen verschwand und seine Augenbrauen zogen<br />

sich zusammen. Er nahm seine Hände herunter. „Heute<br />

Abend kommt Ben und wird dir <strong>alles</strong> erklären, okay? Es<br />

dauert eben, in deine Wohnung zu fahren und deine Sachen<br />

35


zu besorgen.“<br />

„<strong>Wie</strong>so? Weil wir so weit weg von Hamburg sind?“<br />

Endlich nahm Kaja ihre Waffe herunter und legte sie auf ihre<br />

Kommode. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie sie benutzen<br />

würde. An einem Kampf schienen weder Ben noch Viktor<br />

sonderlich interessiert zu sein. Beide schienen sich lieber<br />

unterhalten zu wollen. Mal schauen, was dieser Viktor <strong>alles</strong><br />

aus Versehen ausplapperte.<br />

„Nein, wir sind eigentlich überhaupt nicht weit von<br />

Hamburg. Aber wir haben noch was anderes zu tun.“<br />

Kajas Schultern schüttelten sich vor Lachen. „Ist das<br />

so? Nun, ich habe aber nichts anderes zu tun, als hier<br />

herumzusitzen und auf Anweisungen zu warten.“<br />

Neugierig nahm Viktor das Holzwerkzeug von der<br />

Kommode und begutachtete es abwesend, bis ihm Kajas<br />

wütender Blick auffiel und er es schnell zurücklegte. „Und<br />

nun wirst du das auch noch hungrig tun.“<br />

Empört schrie Kaja auf und nahm ihre Waffe wieder in<br />

die Hand. Viktor hingegen lachte schallend, verschwand aus<br />

ihrem Z<strong>im</strong>mer und schloss die Tür. Der Schlüssel wurde so<br />

fix gedreht, als ob Viktor ihn die ganze Zeit hatte stecken<br />

lassen.<br />

Völlig fassungslos blieb Kaja zurück und starrte auf die<br />

mit roter Soße verschmierte Tür. Ihre kurze, naive Hoffnung,<br />

dass auch diese Mahlzeit sich zusammengesetzt wieder auf<br />

ihrem Nachttisch finden würde, war damit wohl auch<br />

vergebens. Aber Kaja hatte auch nicht wirklich<br />

angenommen, dass das passieren würde. Nein. Eigentlich<br />

war sie jetzt vielmehr erleichtert, weil dies bedeutete, dass<br />

sie sich die ganzen komischen Sachen mit Ben bloß<br />

36


eingebildet haben musste. Obwohl Kaja nun mit knurrendem<br />

Magen auf ihrem Bett saß, musste sie erleichtert grinsen.<br />

Wenigstens wurde sie nicht verrückt.<br />

37


3<br />

Neue Welten<br />

Nachdem Kaja wieder gefühlt stundenlang in dem kleinen<br />

Z<strong>im</strong>mer auf- und abgegangen war und das schmutzige<br />

Handtuch auf dem Bett gegen ein frisches ausgetauscht<br />

hatte, hatte sie sich schlussendlich mit knurrendem Magen<br />

wieder auf ihr Bett gesetzt und wutentbrannt die Tür<br />

angestarrt. Als jemand tatsächlich von außen an die Tür<br />

klopfte, war sie so überrascht, dass ihr Herz schneller<br />

schlug.<br />

„Herein?“, bat sie unsicher. Die ersten beiden Besuche<br />

hatten sich bei ihr nicht angekündigt. Dass diesmal geklopft<br />

wurde, war schon mal nicht schlecht. Sicher ein gutes<br />

Zeichen, dass sie nun langsam mehr zu einer Verbündeten<br />

38


und weniger zu einer Gefangenen wurde. Wenn sie dann<br />

auch noch einfach gehen konnte, wenn sie das wollte, wäre<br />

es perfekt.<br />

Kaja hoffte inständig, dass sie Ben sehen würde. Dass<br />

er tatsächlich kam, so wie er und nun auch Viktor es ihr<br />

versprochen hatten.<br />

Die Tür öffnete sich, kein Schlüssel war zu hören, und<br />

tatsächlich kam Ben herein. Mit einem schmalen Grinsen<br />

und ausdruckslosen Augen nickte er Kaja zu. Hinter sich zog<br />

er einen Koffer herein.<br />

Sofort sprang Kaja auf, nahm ihm den Koffer ab und<br />

öffnete ihn erwartungsvoll.<br />

„Ich hoffe, ich habe an <strong>alles</strong> gedacht“, sagte Ben,<br />

während er Kaja dabei beobachtete, wie sie die Inhalte ihres<br />

Koffers inspizierte. Nein, nicht ihres Koffers. Den Koffer<br />

selbst hatte sie nie zuvor gesehen. Doch als sie den Deckel<br />

öffnete, kam ihr <strong>alles</strong> darin bekannt vor.<br />

Sie staunte, als sie auf die säuberlich gefaltete Kleidung<br />

auf der linken Seite blickte. Ben musste jedes<br />

Kleidungsstück aus ihrer Schublade, wo <strong>alles</strong> einfach<br />

hineingestopft gewesen war, entnommen und<br />

zusammengelegt haben. Rechts waren die geforderten<br />

Badez<strong>im</strong>merprodukte in einer Kosmetiktasche verstaut. Sie<br />

besaß nur Billigshampoo, welches sie spontan aussuchte,<br />

wenn es gut roch oder <strong>im</strong> Angebot war. Sie hatte Ben nicht<br />

gebeten, ihr dieses Zeug mitzubringen, weil sie es brauchte,<br />

sondern einfach nur, um ihn zu testen, um zu sehen, ob er<br />

sich an jedes Versprechen hielt. Sie hätte etwas<br />

Schwierigeres wählen sollen. Sie hätte ihn bitten sollen, ihr<br />

Skateboard mitzubringen. Mist. Doch dieses lag entweder<br />

39


noch in der Gasse, in der Ben sie entführt hatte, oder war<br />

inzwischen gestohlen worden.<br />

Hatte Ben ihr nicht auch ihren Laptop zugesichert? Kaja<br />

wühlte weiter <strong>im</strong> Koffer und ihre Wangen färbten sich rot, als<br />

sie unter ihren T-Shirts Unterwäsche erblickte. Sie legte die<br />

T-Shirts schnell wieder oben auf und kramte lieber ihren<br />

Laptop und ihr Ladekabel hervor.<br />

Als sie ihn noch in der Hocke aufklappen wollte, spürte<br />

sie Bens Hand auf ihrer Schulter. „Ich weiß, es ist viel<br />

verlangt, aber bitte rufe noch niemanden hierher. Bitte.“<br />

Sofort nahm er seine Hand wieder herunter und steckte sie<br />

in seine Hosentasche.<br />

Kaja legte ihren Laptop auf eine saubere Ecke ihrer<br />

Bettdecke und warf das Ladekabel daneben, entschied sich<br />

aber auf Bens Bitte nicht zu antworten. Sie war sich in<br />

diesem Moment nicht sicher, ob sie ihr überhaupt<br />

nachkommen wollte, aber es schadete sicher nicht, Ben in<br />

dem Glauben zu lassen. „Mein Handy?“<br />

„Oh, entschuldige bitte.“ Er holte tatsächlich Kajas<br />

Handy aus der Hosentasche heraus. Während er ihr das<br />

kleine Gerät reichte, musterte sie ihn argwöhnisch. Er hatte<br />

sich an <strong>alles</strong> gehalten, was sie abgemacht hatten. Alles.<br />

<strong>Wie</strong>so? Weshalb brauchte er so dringend Kajas Vertrauen?<br />

Doch er lächelte milde. „Ich habe nicht reingeguckt, wenn es<br />

das ist, was du befürchtest.“<br />

Diese Möglichkeit hatte Kaja nicht einmal in Betracht<br />

gezogen! Vertraute sie Ben etwa schon? Sie warf<br />

kommentarlos auch das Handy zu ihrem Ladekabel, klappte<br />

den Koffer wieder zu – auspacken konnte sie schließlich<br />

später <strong>im</strong>mer noch – und setzte sich erwartungsvoll aufs<br />

40


Bett.<br />

„Jetzt aber. Weshalb bin ich hier? Was willst du von<br />

mir?“<br />

Ben verlagerte sein Gewicht leicht, blieb aber ansonsten<br />

völlig reglos in der Mitte des kleinen Raumes stehen. Kaja<br />

spürte bereits, wie sie innerlich unruhig wurde. Wollte er sie<br />

etwa schon wieder vertrösten? Falls ja, würde sie diese<br />

verdammte Tür eintreten und hinausstürmen. Sie ließ sich<br />

doch nicht ewig hinhalten!<br />

Langsam und konzentriert strich Ben sein Hemd glatt<br />

und ließ sich dabei so viel Zeit, als würde er auf eine<br />

Reaktion von Kaja warten.<br />

„Also?“, zischte sie daher.<br />

„Nun, ich hoffe wirklich, dass du mir glaubst. Das würde<br />

uns ziemlich viel Ärger ersparen.“<br />

Kaja überkreuzte die Arme vor der Brust, überschlug<br />

ihre Beine und begann ungeduldig mit ihrem Fuß zu<br />

wackeln. Sie würde wohl kaum sagen können, ob sie Ben<br />

denn nun glaubte, wenn er weiter so herumdruckste.<br />

„Du hast doch sicherlich diese Wetterumschwünge<br />

miterlebt. Nicht wahr?“, begann er vorsichtig, als machte er<br />

sich sehr viele Sorgen wegen ihrer Reaktion. Umsonst, denn<br />

Kaja blickte ihn einfach nur abwartend weiter an.<br />

Ben schien dies als stummes Ja aufzufassen. „Und<br />

auch diese Vermissten hast du sicher mitbekommen.“ Erneut<br />

machte Ben eine kunstvolle Pause, in der Kaja abwesend ihr<br />

Handy in die Hand nahm und <strong>im</strong>mer wieder drehte.<br />

Ben atmete kontrolliert aus, strich sich dann über sein<br />

Gesicht und ließ endlich die Bombe platzen. „Die<br />

Wetterumschwünge und die Vermissten – das tritt <strong>im</strong>mer<br />

41


zusammen auf. Dieses Phänomen ist schuld, dass die Leute<br />

verschwinden. Und wir wissen auch, was genau der Grund<br />

ist. Sie verschwinden in eine andere Welt.“<br />

Keuchend legte Kaja ihr Handy zur Seite. Sollte es etwa<br />

doch <strong>alles</strong> st<strong>im</strong>men? Sollten etwa doch die<br />

Wetterumschwünge die Menschen entführen? Diese<br />

Vermisstenmeldungen mussten doch irgendwo herrühren.<br />

Aber dass sie ausgerechnet – wie sagte Ben so schön – in<br />

eine andere Welt verschwinden sollten? Blödsinn. Andere<br />

Welten gab es nicht. Millionen Wissenschaftler suchten sie<br />

und keiner hatte bisher auch nur den kleinsten Hinweis<br />

gefunden. Irgendein Jugendlicher mit gestriegelten Haaren<br />

wird wohl kaum das Unmögliche geschafft haben. Sofort<br />

blickte Kaja wieder ungläubig. „Das ist nur Gerede, Ben. Das<br />

glaube ich dir nicht.“<br />

„Nicht?“, fragte er mit einem angedeuteten Lächeln.<br />

„Das habe ich mir gedacht, dabei solltest gerade du mir<br />

diese Information glauben.“<br />

Entrüstet stand Kaja auf. „Ich? <strong>Wie</strong>so das?“<br />

„Gestern erst. Da hast du es doch live gesehen.“<br />

Erschlagen ließ Kaja sich wieder auf ihr Bett plumpsen.<br />

Ihre Gedanken schwirrten. Ihre Handflächen schwitzten,<br />

während ihr Herz aufgeregt in ihrer Brust hämmerte.<br />

Sie hatte es tatsächlich miterlebt. Am Morgen zuvor.<br />

Das plötzliche Unwetter hatte sie überrascht und sie hatte<br />

sich gewundert, wo all die Menschen hin waren. Von einem<br />

Moment auf den nächsten war sie mutterseelenallein<br />

gewesen. Aber eine andere Welt? War es nicht um einiges<br />

wahrscheinlicher, dass das Wetter nur Teil des<br />

Kl<strong>im</strong>awandels war und die Leute es schnell geschafft hatten,<br />

42


Unterschlupf zu finden? Langsam beruhigte sich ihr Herz<br />

wieder.<br />

„Du hast recht, Ben“, sagte Kaja endlich. „Ich glaube dir<br />

kein Wort.“<br />

Erneut wischte Ben sich über sein Gesicht und lachte<br />

gequält. Kaja fiel erst jetzt auf, dass er irgendwie müde und<br />

abgekämpft aussah. Seine Haut wirkte fast ein bisschen<br />

gräulich. Unter seinen glasigen Augen waren tiefe<br />

Augenringe.<br />

Diese Augen! Sie kamen Kaja ganz entfernt vertraut<br />

vor. So als hätte sie sie schon früher einmal gesehen. Nicht<br />

nur heute Morgen, nein, noch früher.<br />

Ben kam langsam auf sie zu. Kaja stand schnell auf,<br />

weil sie nicht wollte, dass er sie so sehr überragte. Doch weil<br />

sie so klein war, reichte sie ihm auch stehend gerade einmal<br />

bis zur Brust.<br />

„Kaja, ich weiß, dass es viel zu verkraften ist“, fing er<br />

an, doch Kaja fiel ihm sofort ins Wort. Es gab <strong>im</strong>mer noch<br />

einen Teil seiner merkwürdigen Erklärung, der ihr besonders<br />

abwegig vorkam.<br />

„<strong>Wie</strong> kommt ihr überhaupt darauf, dass eine andere<br />

Welt mit den Wetterumschwüngen irgendetwas zu tun hat?“,<br />

fragte sie daher und dachte selbst darüber nach.<br />

Eine kurze Recherche <strong>im</strong> Internet würde ihr zeigen, ob<br />

die Vermisstenstatistiken tatsächlich so drastisch<br />

angestiegen waren. Sowas blieb doch nicht unentdeckt.<br />

Dass Menschen verschwanden, konnte man nachweisen.<br />

Dass mehr Menschen als sonst nach den<br />

Wetterumschwüngen verschwanden ebenfalls. Doch wo<br />

diese Vermissten hin waren? Das war sicherlich schwerer zu<br />

43


prüfen. Dass sie dabei ausgerechnet in eine andere Welt<br />

verschwunden sein könnten, war jedoch nicht nur abwegig,<br />

sondern extrem weit hergeholt.<br />

Ben blinzelte zwischen den Fingern hervor, die noch<br />

<strong>im</strong>mer über seinem Gesicht lagen. Erst als er seine Hand<br />

herunternahm und sie in seine Hosentasche steckte, sprach<br />

er weiter. „Wir haben Tests durchgeführt. Es gibt Beweise.<br />

Wir sind fast so weit, dass wir die nächsten<br />

Wetterumschwünge und somit auch die nächsten<br />

verschwindenden Personen vorher lokalisieren können. Es<br />

gibt Daten, die auf die Quelle dieser Energien deuten. Diese<br />

Daten zeigen, dass es eine andere Welt ist.“<br />

Das waren doch <strong>alles</strong> keine Beweise! Kaja wollte diese<br />

Daten erst mit eigenen Augen sehen und selbst dann würde<br />

sie Ben sicher kein Wort glauben können. Doch ein anderer<br />

Teil von Bens Satz ließ Kaja eine andere Frage stellen. Sie<br />

wollte wissen, wer genau sie entführt hatte. „Wer ist wir?“<br />

„Oh, natürlich. Das weißt du noch nicht. Wir sind das<br />

Institut. Eine Handvoll Leute, die in diese andere Welt<br />

kommen will, um die Vermissten zurückzuholen.“<br />

Zurückholen?<br />

Sie wandte sich um und ging ganz langsam zu dem<br />

vergitterten Fenster. Draußen schien die Sonne wieder so<br />

gut sie konnte. Hellblau-weißer H<strong>im</strong>mel überragte die<br />

Baumkronen und das Institut so weit Kaja blicken konnte.<br />

Zurückholen.<br />

Es gab genau zwei Personen, die Kaja bis aufs Mark<br />

vermisste. So sehr, dass sie beinahe <strong>alles</strong> tun würde, um sie<br />

irgendwie wiederzubekommen.<br />

An dem Tag, an dem sie ihre Eltern zum allerletzten Mal<br />

44


gesehen hatte, hatte ebenfalls so schönes Wetter wie jetzt<br />

geherrscht. An dem Tag, an dem sie angefangen und noch<br />

<strong>im</strong>mer nicht aufgehört hatte zu hoffen, dass sie sie eines<br />

Tages wiedersehen würde, obwohl ihr Verstand ihr sagte,<br />

dass sie endgültig weg sein mussten. Sie hätten sich doch<br />

sonst längst gemeldet.<br />

Doch was, wenn ihre Eltern ganz genau so<br />

verschwunden waren? Durch dieses merkwürdige<br />

Phänomen? Was, wenn Ben die Wahrheit sagte? Was, wenn<br />

es eine Möglichkeit gab, ihre Eltern wiederzusehen?<br />

Energisch schüttelte Kaja den Kopf über sich selbst. Ihr<br />

Haar flog umher. Erst wollte sie Ben kein Wort glauben und<br />

nun war sie dabei, sich Hoffnungen zu machen. Ihre Eltern<br />

waren vor drei Jahren ganz sicher nicht in eine andere Welt<br />

verschwunden. So ein Blödsinn. Außerdem war das Wetter<br />

damals schön gewesen. Die Vermissten jetzt verschwanden<br />

aber <strong>im</strong>mer bei Sturm.<br />

Doch für den abwegigen Fall, dass Ben die Wahrheit<br />

sagte, wollte sie da nicht vielleicht doch noch ein bisschen<br />

bleiben? Wollte sie dann die Chance, ihre Eltern<br />

wiederzubekommen, wirklich sang- und klanglos<br />

verstreichen lassen?<br />

Sie wandte sich schnaubend wieder Ben zu, der sie<br />

anscheinend bewegungslos beobachtet haben musste. Denn<br />

noch <strong>im</strong>mer stand er an derselben Stelle mit den Händen in<br />

seinen Hosentaschen. Bei was für Verrückten war sie nur<br />

gelandet? Und noch wichtiger, weshalb ausgerechnet sie?<br />

„Was habe ich überhaupt damit zu tun?“, stellte Kaja die<br />

wohl wichtigste Frage.<br />

„Aus irgendeinem Grund kannst du nicht in die andere<br />

45


Welt gezogen werden. Gestern ist jeder einzelne Passant um<br />

dich herum verschwunden, aber du bist geblieben. So<br />

jemand wie du ist natürlich extrem wertvoll für uns.“<br />

Ein Kichern brach sich aus Kajas Kehle. Wertvoll? <strong>Wie</strong><br />

das? Wenn sie nicht einmal in die andere Welt geholt werden<br />

konnte? „Aber wenn ich nicht in die andere Welt kann, wie<br />

soll ich euch dann von Nutzen sein?“<br />

Zum ersten Mal, seitdem sie Ben kennengelernt hatte,<br />

schlich sich so etwas wie ein ehrliches Lächeln in sein<br />

Gesicht. „Du kannst nicht geholt werden, weil wir denken,<br />

dass du es kontrollieren kannst. Wenn du also wirklich<br />

wolltest, könntest du springen. Und was noch viel wichtiger<br />

ist: Du könntest sogar zurückkommen.“<br />

Kaja schluckte. Bens Geschichte war von vorne bis<br />

hinten abgest<strong>im</strong>mt. In sich war <strong>alles</strong> sinnvoll, wenn man denn<br />

seinen abwegigen Theorien glauben wollte. Aber andere<br />

Welten? Das war so unglaublich weit hergeholt, dass es<br />

nicht st<strong>im</strong>men konnte. <strong>Wie</strong> etwas aus ihren Büchern. Nicht<br />

die Realität. Bens Geschichte hörte sich an, als hätte er alle<br />

Fakten um eine völlig gestörte Idee herum aufgebaut, bis er<br />

sein Luftschloss fertiggestellt hatte. <strong>Wie</strong> diese<br />

Verschwörungstheoretiker, die die Fakten ihren Theorien<br />

anpassten und nicht umgekehrt.<br />

„Woher weißt du das überhaupt? Ich meine, dass ich<br />

dieses merkwürdige Phänomen gesehen habe und trotzdem<br />

zurückgeblieben bin.“<br />

„Ich habe dich doch genau dann mitgenommen. Genau<br />

nach dem Phänomen. Als ich mir sicher war, dass du nicht<br />

verschwinden wirst.“<br />

Kaja boxte Ben empört in den Arm. „Mitgenommen? Du<br />

46


hast mich entführt und eingesperrt! Allein deshalb sollte ich<br />

einfach gehen und nie wieder zurückkommen.“<br />

Bens Augen funkelten amüsiert und er schaute schnell<br />

weg, als ob er sich sonst nicht mehr zurückhalten könnte und<br />

dann loslachen würde. „<strong>Wie</strong>so bist du dann noch hier?“<br />

Kaja unterdrückte ein wütendes Schnauben. Dieser Idiot<br />

hatte den Finger genau an den wunden Punkt gelegt, den<br />

Kaja gerade versuchte zu ignorieren. Das war eine<br />

verdammt gute Frage. Wenn sie Ben doch so überhaupt<br />

nicht glauben wollte, weshalb saß sie hier noch herum und<br />

hörte ihm bei seinen wilden Theorien zu? Weil ein<br />

klitzekleiner Teil von dir hofft, dass sie wahr sind.<br />

Kaja strich fester als nötig ihre wilden Locken aus der<br />

Stirn und sagte nichts. Bevor die Stille sich zu lange<br />

ausbreiten konnte, fuhr Ben fort.<br />

„Du kannst nicht gehen, Kaja. Da sind Menschen, die du<br />

retten kannst! Du wirst nicht gehen.“<br />

<strong>Wie</strong>der musste Kaja bei diesen Worten schnauben. Es<br />

st<strong>im</strong>mte. Selbst wenn sie Ben noch nicht vollends glaubte,<br />

dieser Wetterumschwung, den sie miterlebt hatte, war schon<br />

verdammt merkwürdig gewesen. Und die Menschen waren<br />

wirklich plötzlich weg gewesen. Sie konnte jetzt hierbleiben,<br />

sich ein Bild machen und später <strong>im</strong>mer noch gehen und<br />

darüber lachen, dass sie zwei Verrückten geglaubt hatte.<br />

Oder sie konnte jetzt abhauen und niemals Antworten finden.<br />

Also gut, die Wahl fiel ihr erstaunlich leicht. Ihre<br />

verdammte Neugier hatte gewonnen. Und es war gar nicht<br />

so schwer für Ben gewesen. <strong>Wie</strong>so hatte er morgens nur so<br />

ein riesen Gehe<strong>im</strong>nis daraus gemacht?<br />

„Ich verstehe nicht, weshalb du mir das nicht bereits<br />

47


heute Morgen gesagt hast“, sagte Kaja und entsperrte<br />

gespannt ihr Handy. Sie konnte sich schon denken, was dort<br />

zu finden sein würde. Sie war einfach so nicht bei der Arbeit<br />

gewesen, ohne sich krank zu melden. Ausgerechnet an dem<br />

Tag, an dem sie wirklich gebraucht wurde. Das gab sicher<br />

noch jede Menge Ärger.<br />

Tatsächlich blinkten mehrere Nachrichten auf ihrem<br />

Handy. <strong>Wie</strong> zu erwarten waren dort auch einige verpasste<br />

Anrufe von ihrem Chef. Sie stöhnte. <strong>Wie</strong> sollte sie ihm<br />

erklären, weshalb sie nicht bei der Arbeit erschienen war?<br />

Ich wurde von ein paar Verrückten entführt. Aber <strong>alles</strong> gut,<br />

wir jagen einer anderen Welt nach. Sie kicherte, stockte<br />

jedoch abrupt als ihr Blick wieder zu Ben wanderte.<br />

Dieser ballte die Hände zu Fäusten und schaute mit<br />

wutverzerrtem Gesicht aus ihrem Fenster. „Das, Kaja, ist die<br />

einzige Frage, die ich dir wirklich nicht beantworten werde.“<br />

Irritiert packte sie ihr Handy wieder weg. Sie hatte ihre<br />

Frage selbst schon fast wieder vergessen, doch Bens<br />

merkwürdiges Verhalten schürte wieder ihre Neugier. „<strong>Wie</strong>so<br />

nicht?“<br />

„Zu deinem Schutz. Befehl von oben. Mach es dir nicht<br />

zu gemütlich. Sobald du uns glaubst, darfst du in ein anderes<br />

Z<strong>im</strong>mer ziehen und dein Training wird beginnen. Und nun iss<br />

zu Abend.“<br />

Er wedelte mit einer Hand zu Kajas Nachttisch. Sie<br />

drehte sich neugierig um. Dort stand ein Tablett mit ein paar<br />

Scheiben Brot und einem Salat. Wann bitteschön war das<br />

nun wieder aufgetaucht? Gerade als sie Ben dies fragen<br />

wollte, hörte sie, wie ihre Tür ins Schloss fiel. Sie wirbelte<br />

herum, zerrte am Türgriff, fand ihr Z<strong>im</strong>mer jedoch wieder<br />

48


verschlossen vor.<br />

<strong>Wie</strong> machte er das nur? Jede Faser in Kajas Körper<br />

sträubte sich dagegen, etwas auch nur annähernd<br />

Unnormales dahinter zu vermuten. Ganz sicher hatte Ben<br />

das Tablett reingetragen, als sie ihren Koffer inspiziert hatte.<br />

Ja! Das ergab Sinn. Sie war abgelenkt gewesen, hatte ihre<br />

Sachen betrachtet und nicht auf Ben geachtet. Der Kerl war<br />

lautlos wie eine Katze und bewegte sich so wenig, dass sie<br />

angenommen hatte, dass er neben ihr stehen geblieben war,<br />

obwohl er vor die Tür gegangen war.<br />

Zufrieden kramte Kaja eine saubere Hose und ein T-<br />

Shirt hervor, ehe sie die Dusche betrat.<br />

***<br />

Mit nassen Haaren und in einem frischen Pyjama saß Kaja<br />

auf ihrem Bett und hämmerte auf die Tasten ihres Laptops.<br />

Dieser dämliche Kerl. Ben hatte ihr zwar <strong>alles</strong> gebracht,<br />

wonach sie gebeten hatte und was er selbst vorgeschlagen<br />

hatte, aber eine Sache hatte er „vergessen“. Er hatte ihr kein<br />

WLAN-Passwort gegeben, weshalb Kaja ein paarmal<br />

versucht hatte, es zu erraten.<br />

Doch noch <strong>im</strong>mer leuchtete ihr die Anzeige entgegen.<br />

„Bitte Passwort eingeben.“ Also klappte Kaja den grauen<br />

Kasten wieder zu und holte ihr Handy hervor. Es blinkte und<br />

zeigte ihr an, dass fünf verpasste Anrufe von ihrem Chef von<br />

ihr ignoriert worden waren. Dieselbe Anzahl, die dort auch<br />

schon vor ein paar Stunden gestanden hatte, als Ben ihr das<br />

Handy in die Hand gedrückt hatte.<br />

Kaja wählte die Nummer ihrer Mailbox und hörte die<br />

erste hinterlassene Nachricht ab.<br />

49


„Hallo, Frau Tierny, hier ist Herr Ulrich. Beatrice ist vor<br />

einer Stunde zu mir ins Büro gekommen und hat mir erzählt,<br />

dass Sie heute noch nicht erschienen sind. Beatrice hat bei<br />

Ihnen zu Hause angerufen, doch dort hat niemand<br />

abgenommen. Ich weiß, wir haben in dieser Firma Gleitzeit,<br />

und Sie haben sicher noch einige Überstunden, die Sie<br />

abbauen wollen, aber wären Sie so nett, sich kurz bei mir zu<br />

melden? Nur damit wir uns sicher sein können, dass es<br />

Ihnen gut geht.“<br />

Kaja lächelte. Immerhin einem Menschen war<br />

aufgefallen, dass sie verschwunden ist. Beatrice, ihre rüstige<br />

Arbeitskollegin, die einen unfreundlichen Eindruck machte,<br />

jedoch ein Herz aus Gold hatte. Kaja hörte die nächste<br />

Nachricht ab.<br />

„Frau Tierny, es ist jetzt schon vier Uhr. Ich mache mir<br />

wirklich Sorgen. Beatrice hat bei Ihnen angerufen, und<br />

anscheinend gibt es ein Problem mit Ihrem Anschluss zu<br />

Hause. Ich denke ernsthaft darüber nach, ob ich nicht<br />

sicherheitshalber die Polizei verständigen soll.“<br />

Stirnrunzeln blickte Kaja wieder auf ihr Handy. Das war<br />

der letzte Anruf und auch die letzte Nachricht ihres Chefs<br />

gewesen. Hatte er denn nun die Polizei verständigt? Wurde<br />

etwa nach ihr gesucht?<br />

Seitdem die Vermisstenfälle so sehr angewachsen<br />

waren, gab es eine Seite der Polizei, in der alle Vermissten<br />

mit Datum und Bild gesammelt und der Öffentlichkeit zur<br />

Verfügung gestellt wurden. Kaja suchte <strong>im</strong> Browser ihres<br />

Handys nach ihrem Namen. Kaja Tierny war nicht auf dieser<br />

Seite zu sehen. Dafür konnte Kaja etwas anderes sofort<br />

feststellen. Am Tag ihrer Entführung schoss die Zahl der<br />

50


Meldungen ins unermessliche. Fester als nötig drückte Kaja<br />

auf den Knopf, der den Browser ihres Handys schloss. Zufall.<br />

Alles nur Zufall.<br />

Sie holte endlich das Tablett auf ihren Schoß und<br />

begann ihren Salat mit der Gabel aufzuspießen. Ihr Blick<br />

wanderte jedoch <strong>im</strong>mer wieder zurück zu ihrem Handy.<br />

Wenn die Sache mit den Vermisstenanzeigen und den<br />

Wetterumschwüngen st<strong>im</strong>mte, konnte an der anderen Welt<br />

auch etwas dran sein?<br />

Kaja stopfte sich die Gabel in den Mund, kaute wütend<br />

und seufzte dann. Na gut, sie konnte ja noch ein bisschen<br />

nach anderen Welten suchen und schauen, was das Internet<br />

darüber schrieb.<br />

51


Lieber Leser,<br />

wie du sicher merkst, hat Kajs Abenteuer gerade erst<br />

begonnen!<br />

Was erwartet Kaja <strong>alles</strong> <strong>im</strong> Institut?<br />

Welche Gehe<strong>im</strong>nisse verbirgt Ben? Wird Kaja etwa wirklich<br />

verrückt oder steckt da etwas anderes dahinter?<br />

Und die wohl wichtigste Frage: Verschwinden die Menschen<br />

wirklich in eine Parallelwelt?<br />

Das <strong>alles</strong> kannst du in <strong>Schicksal</strong> <strong>im</strong> <strong>Blut</strong> – Buch 1 lesen.<br />

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52


D ie Autorin<br />

Ina lebt mit ihrem Ehemann und ihren zwei Katzen in einem<br />

kleinen Ort in Norddeutschland. Ihr Geld verdient sie als<br />

Unternehmensberaterin, aber jeden freien Moment verbringt<br />

sie damit, möglichst viele Bücher – von Fantasy über Thriller<br />

bis hin zu Klassikern - zu verschlingen und selbst welche zu<br />

schreiben.<br />

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