Inhaltsverzeichnis Kerstin Decker Herbert Kreppel Adolf Dresen <strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong> »<strong>Heisig</strong>s ›Mutter Courage‹ oder Kleine Einführung ins Verhängnis« Seiten 7–9 »Eine Chronik aus dem unendlichen Krieg« Seiten 31–34 »Der Stein beginnt zu reden« Seiten 43–47 1. »Der faschistische Alptraum« Seiten 11–18 2. zu: Ludwig Renn »Krieg« Seiten 19–24 3. zu: Theodor Fontane »Schach von Wuthenow« Seiten 25–28 4. zu: Bertolt Brecht »Mutter Courage und ihre Kinder« Seiten 29–42 Impressum und biographische Daten Seite 48
Abb. S. 5. Kerstin Decker <strong>Heisig</strong>s »Mutter Courage« oder Kleine Einführung ins Verhängnis Menschen, die sich irgendwann entschlossen haben, das Dasein vornehmlich unter ästhetischem Vorzeichen wahrzunehmen, nennt man Künstler. Es gibt auch Kritiker. Künstler und Kritiker erkennt man daran, daß sie besonders gern, lange und mit existentiellem Ernst über Dinge diskutieren, deren Hauptkennzeichen ihre grundsätzliche existentielle Irrelevanz ist. Die letzten zehn Jahre verbrachten sie etwa damit, sich öffentlich über die Frage zu unterhalten: Kann ein Maler, der schon in der DDR malte, modern sein? Kann, sagen wir, <strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong> modern sein? Heute, im Angesicht der neuen »Mutter Courage«-Bilder, ja der ganzen Ausstellung »<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong>. Der Maler und sein Thema« können wir das noch besser beantworten: Nein, niemals! Denn <strong>Heisig</strong> ist ein Apokalyptiker. Apokalyptiker sind grundsätzlich unmodern. Schon Kassandra war entschieden unmodern. Gibt es eigentlich staatstragende Apokalyptiker? Die meisten Regierungen besitzen die Neigung, sich ihre Schwarzseher vom Hals zu schaffen. Die DDR ermahnte <strong>Heisig</strong> nur. Kassandra traf es da viel härter. Das wiederum, vermuten wir, liegt an der Sublimierung. Apokalyptiker, die nicht reden, sondern nur malen, haben es viel besser. Es sind verborgene Apokalyptiker. Verborgener Apokalyptiker – ist das nicht die Definition des Künstlers? Künstler, wir ahnten es längst, sind Untergeher mit Stil, ja mehr noch, mit gesellschaftlichem Taktgefühl. Die alttestamentarischen Propheten ließen das noch sehr vermissen. Man denke nur an Äußerungen Jeremijas’ wie »Habt ihr denn vergessen der Übeltaten eurer Väter und der Übeltaten der Könige Judas und der Übeltaten ihrer Fürsten und euerer Übeltaten und der Übeltaten, die eure Weiber im Lande Juda und auf den Gassen von Jerusalem begangen haben?« mitsamt der darauf aus- gesetzten Strafen. <strong>Heisig</strong>s Bilder formulieren das ähnlich gewalttätig und nur ungleich rücksichtsvoller. Auch der <strong>Heisig</strong>-Satz, seine Malerei sei Ausdruck einer eher »bedauernden Haltung« dem Dasein gegenüber, zeugt von außerordentlicher Höflichkeit. Propheten und Apokalyptiker sind sonst grundsätzlich unhöflich. Das spricht am meisten gegen die Schwarzseher als gesellschaftliche Gruppierung. Und daß sie so ungemein anstrengend sind. Und pathetisch. Ist <strong>Heisig</strong> etwa nicht pathetisch? Pathos ist auch unmodern. Dieses Alles-ist-Verloren-! oder Ich-habe-eine-Vision-! paßt einfach zu den wenigsten Gelegenheiten. Es fällt unangenehm auf bei Abendgesellschaften, stört bei der Arbeit, verdirbt den Urlaub, ja, es paßt nicht mal zum Frühstück. Trotzdem ist es erstaunlich, daß es nicht viel mehr Apokalyptiker gibt. Denn das Leben ist eine Unternehmung, die grundsätzlich schlecht ausgeht. Es ist die größte Widerlegung jeglichen Optimismus’. Künstler sind gewiß jene, die das nicht vergessen können. <strong>Heisig</strong>s Bildern sieht man dieses bedenkliche Ende an. Er hat sich einen Menschenmaler genannt. Aber es ist noch etwas anderes. <strong>Heisig</strong> malt Kreaturen, nein, anders, er malt die Kreatur in uns, bis dorthin, wo sie auf das Geistige trifft, wo sie Begierde wird, Wut, ja Mord, und er malt denselben Weg wieder zurück. Man steht vor den »Mutter Courage«-Figuren, vor Schweizerkas und Eilif, vor der blinden Tochter Kattrin und weiß es so deutlich wie lange nicht mehr. <strong>Heisig</strong> malt alle Schichten des Menschseins auf einmal. Er malt den Riß, der durch die Schöpfung geht. – Wahrscheinlich zeichnete er diesen Schöpfungsriß schon mitten in den Bundeskanzler Schmidt hinein. Der Bundeskanzler als Kreatur? Und sogar jener frühe »Brigadier«, für den die Partei ihn so belobigte, muß doch 6 7