Bernhard Heisig - Brusberg Berlin
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legen schließlich auf sie an und schießen sie<br />
herunter. Brecht selbst überschreibt die Szene:<br />
»Der Stein beginnt zu reden.« Das geschieht<br />
im äußersten Fall. Der tiefste Grund ist<br />
erreicht. Das Mädchen, Krüppel von Kind an,<br />
die ganz und gar Hilflose, ist nun gerade die,<br />
die anderen Hilfe bringt. Die ganz und gar<br />
Wehrlose wehrt sich und tut etwas wahrhaft<br />
Heldenhaftes. Wo nur noch geschrien werden<br />
kann, beginnt sie, die Stumme, zu schreien.<br />
Darin kulminiert sowohl Brechts Stück wie <strong>Heisig</strong>s<br />
Bilderfolge. Es vertritt da eine nicht ihre<br />
Interessen, ja handelt gegen ihr ureigenstes<br />
Interesse. Es kostet sie, und sie weiß es, das<br />
Leben, an dem sie trotz allem hängt. Brecht<br />
aber schreibt ihr letztlich einen Sieg zu, vielleicht<br />
den einzigen in diesem Stück: sie rettet<br />
die Kinder der Stadt Halle. Es ist Brechts<br />
schönste und tiefste Szene, die, bei der ich<br />
viele Zuschauer habe weinen sehen – was, wie<br />
gesagt, der Theorie widersprach. Es kommt<br />
aber wohl immer noch darauf an, worüber man<br />
weint, und das Stück ist da wahrscheinlich klüger<br />
als die Theorie, vielleicht klüger als der<br />
Autor. Das ist für ihn keine Schande, vielleicht<br />
macht gerade das den Dichter aus. Brecht<br />
schrieb einmal einen großen Essay über die<br />
»Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der<br />
Wahrheit« – die Schwierigkeit, die Wahrheit<br />
erst einmal zu entdecken, kommt darin gar<br />
nicht vor. Er hielt die Wahrheit über die Verhältnisse<br />
der Menschen für erkannt. Er hat sich<br />
geirrt, jede Wahrheit ist endlich. Mich interessiert<br />
heute weit weniger, was der Autor wußte,<br />
als was er nicht wußte. Nicht die endliche<br />
Wahrheit ist das Wichtige, sondern wie man<br />
sie immer neu findet. <strong>Heisig</strong> wollte nicht klüger<br />
sein als seine Bilder. Auch sein Bild der<br />
trommelnden Kattrin überschreitet die Grenzen<br />
der Malerei und zeigt, wie eine Lärm<br />
macht – doch ist es das gerade Gegenteil der<br />
anderen Lärmbilder <strong>Heisig</strong>s. Die Stumme hat<br />
jetzt sogar den Mund geöffnet, man hört sie<br />
fast in die Dimension vorstoßen, die ihr doch<br />
verschlossen ist, die der Sprache, und sie blickt<br />
dabei nahezu dem Betrachter ins Gesicht. Hier<br />
schlägt nicht nur eine Trommel, sondern ein<br />
Herz.<br />
Das letzte Bild der Folge zeigt wieder die Courage,<br />
nun allein ihren Planwagen ziehend, folgend<br />
den immer zerlumpteren Heeren »Nehmts<br />
mich mit!« Sie hat, wie Brecht betont, nichts<br />
begriffen – es kommt ihm allein darauf an, daß<br />
der Zuschauer begreift. Der kann jedoch durchaus<br />
mehr begreifen, als da gelehrt wird – und<br />
eben das ist es, worin Dichtung lebendig bleibt,<br />
auch über den Autor hinaus. Das gilt auch für<br />
Brecht. <strong>Heisig</strong>s Blick kann dazu helfen. Brechts<br />
»Mutter Courage« eröffnete nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg die vielleicht glänzendste Epoche des<br />
deutschen Theaters zuerst im Osten, dann auch<br />
im Westen. Es kommt auch auf das Theater an,<br />
diese Epoche nicht verloren zu geben.<br />
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Abb.<br />
S. 42