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Bernhard Heisig - Brusberg Berlin

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Edition <strong>Brusberg</strong> <strong>Berlin</strong><br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

»Der Maler und sein Thema«<br />

Bilder auf Stein und Leinwand


Kabinettdruck 17


Elend der Zeit I


Kabinettdruck 17<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

»Der Maler und sein Thema«<br />

Bilder auf Stein und Leinwand<br />

im April 2001<br />

Edition <strong>Brusberg</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Galerie <strong>Brusberg</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Kurfürstendamm 213<br />

D-10719 <strong>Berlin</strong><br />

Telefon 030. 882 76 82/3<br />

Telefax 030. 881 53 89<br />

galerie@brusberg-berlin.de<br />

www.brusberg-berlin.de


<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

1925<br />

in Breslau geboren<br />

1941–42<br />

Studium der Gebrauchsgrafik<br />

an der Kunstgewerbeschule<br />

in Breslau<br />

1942–45<br />

freiwillige Kriegsteilnahme<br />

als Soldat und kurze sowjetische<br />

Kriegsgefangenschaft<br />

1949–51<br />

Studium an der Hochschule für<br />

Grafik und Buchkunst in Leipzig<br />

bei Max Schwimmer; Abbruch im<br />

Zuge der Formalismusdebatte<br />

1954<br />

Assistent an der Hochschule<br />

in Leipzig, dann Dozent für Grafik<br />

1961–64<br />

Professor und Rektor<br />

der Hochschule, abgesetzt nach<br />

dem V. Kongreß des Verbandes<br />

Bildender Künstler der DDR<br />

1972<br />

Aufnahme in die Akademie<br />

der Künste der DDR<br />

1976–87<br />

erneut Rektor der Hochschule<br />

in Leipzig<br />

1977<br />

Teilnahme an der documenta VI<br />

1980<br />

erste Einzelausstellung in der<br />

Bundesrepublik bei Michael Hertz<br />

in Bremen<br />

1982–84<br />

Beteiligung an der Ausstellungstournee<br />

Zeitvergleich, Malerei<br />

und Grafik aus der DDR in der<br />

Bundesrepublik<br />

1985<br />

Retrospektive im Museum der<br />

bildenden Künste in Leipzig<br />

1988<br />

Teilnahme an der Ausstellung<br />

Zeitvergleich ‘88 in <strong>Berlin</strong> (West)<br />

1989<br />

Retrospektive in <strong>Berlin</strong> (West),<br />

Bonn, München und <strong>Berlin</strong> (DDR)<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong> lebt und arbeitet<br />

seit 1993 im Land Brandenburg<br />

Einzelausstellungen<br />

bei <strong>Brusberg</strong><br />

Hannover, 1981/82<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

Bilder und Grafik<br />

<strong>Berlin</strong>, 1984<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

Bilder vom Menschen<br />

<strong>Berlin</strong>, 1995<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

Begegnung mit Bildern<br />

<strong>Berlin</strong>, 2001<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

Der Maler und sein Thema


»Der Maler und sein Thema«<br />

Öl auf Leinwand, 1977/79<br />

150 x 240 cm<br />

Lager-Nr. BE 7038<br />

Provenienz<br />

Galerie Michael Hertz, Bremen<br />

Privatsammlung, Argentinien<br />

4 5


Inhaltsverzeichnis<br />

Kerstin Decker<br />

Herbert Kreppel<br />

Adolf Dresen<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

»<strong>Heisig</strong>s ›Mutter Courage‹ oder<br />

Kleine Einführung ins Verhängnis«<br />

Seiten 7–9<br />

»Eine Chronik aus dem<br />

unendlichen Krieg«<br />

Seiten 31–34<br />

»Der Stein beginnt zu reden«<br />

Seiten 43–47<br />

1.<br />

»Der faschistische Alptraum«<br />

Seiten 11–18<br />

2.<br />

zu: Ludwig Renn<br />

»Krieg«<br />

Seiten 19–24<br />

3.<br />

zu: Theodor Fontane<br />

»Schach von Wuthenow«<br />

Seiten 25–28<br />

4.<br />

zu: Bertolt Brecht<br />

»Mutter Courage und ihre Kinder«<br />

Seiten 29–42<br />

Impressum<br />

und biographische Daten<br />

Seite 48


Abb.<br />

S. 5.<br />

Kerstin Decker<br />

<strong>Heisig</strong>s »Mutter Courage« oder<br />

Kleine Einführung ins Verhängnis<br />

Menschen, die sich irgendwann entschlossen<br />

haben, das Dasein vornehmlich unter ästhetischem<br />

Vorzeichen wahrzunehmen, nennt man<br />

Künstler. Es gibt auch Kritiker. Künstler und<br />

Kritiker erkennt man daran, daß sie besonders<br />

gern, lange und mit existentiellem Ernst über<br />

Dinge diskutieren, deren Hauptkennzeichen<br />

ihre grundsätzliche existentielle Irrelevanz ist.<br />

Die letzten zehn Jahre verbrachten sie etwa<br />

damit, sich öffentlich über die Frage zu unterhalten:<br />

Kann ein Maler, der schon in der DDR<br />

malte, modern sein? Kann, sagen wir, <strong>Bernhard</strong><br />

<strong>Heisig</strong> modern sein? Heute, im Angesicht<br />

der neuen »Mutter Courage«-Bilder, ja der<br />

ganzen Ausstellung »<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong>. Der<br />

Maler und sein Thema« können wir das noch<br />

besser beantworten: Nein, niemals! Denn <strong>Heisig</strong><br />

ist ein Apokalyptiker. Apokalyptiker sind<br />

grundsätzlich unmodern. Schon Kassandra war<br />

entschieden unmodern. Gibt es eigentlich<br />

staatstragende Apokalyptiker?<br />

Die meisten Regierungen besitzen die Neigung,<br />

sich ihre Schwarzseher vom Hals zu schaffen.<br />

Die DDR ermahnte <strong>Heisig</strong> nur. Kassandra traf<br />

es da viel härter. Das wiederum, vermuten wir,<br />

liegt an der Sublimierung. Apokalyptiker, die<br />

nicht reden, sondern nur malen, haben es viel<br />

besser. Es sind verborgene Apokalyptiker. Verborgener<br />

Apokalyptiker – ist das nicht die<br />

Definition des Künstlers?<br />

Künstler, wir ahnten es längst, sind Untergeher<br />

mit Stil, ja mehr noch, mit gesellschaftlichem<br />

Taktgefühl. Die alttestamentarischen<br />

Propheten ließen das noch sehr vermissen.<br />

Man denke nur an Äußerungen Jeremijas’ wie<br />

»Habt ihr denn vergessen der Übeltaten eurer<br />

Väter und der Übeltaten der Könige Judas und<br />

der Übeltaten ihrer Fürsten und euerer Übeltaten<br />

und der Übeltaten, die eure Weiber im Lande<br />

Juda und auf den Gassen von Jerusalem<br />

begangen haben?« mitsamt der darauf aus-<br />

gesetzten Strafen. <strong>Heisig</strong>s Bilder formulieren<br />

das ähnlich gewalttätig und nur ungleich rücksichtsvoller.<br />

Auch der <strong>Heisig</strong>-Satz, seine Malerei sei Ausdruck<br />

einer eher »bedauernden Haltung« dem<br />

Dasein gegenüber, zeugt von außerordentlicher<br />

Höflichkeit. Propheten und Apokalyptiker<br />

sind sonst grundsätzlich unhöflich. Das spricht<br />

am meisten gegen die Schwarzseher als gesellschaftliche<br />

Gruppierung. Und daß sie so ungemein<br />

anstrengend sind. Und pathetisch. Ist<br />

<strong>Heisig</strong> etwa nicht pathetisch? Pathos ist auch<br />

unmodern. Dieses Alles-ist-Verloren-! oder<br />

Ich-habe-eine-Vision-! paßt einfach zu den<br />

wenigsten Gelegenheiten. Es fällt unangenehm<br />

auf bei Abendgesellschaften, stört bei der<br />

Arbeit, verdirbt den Urlaub, ja, es paßt nicht<br />

mal zum Frühstück. Trotzdem ist es erstaunlich,<br />

daß es nicht viel mehr Apokalyptiker gibt.<br />

Denn das Leben ist eine Unternehmung, die<br />

grundsätzlich schlecht ausgeht. Es ist die<br />

größte Widerlegung jeglichen Optimismus’.<br />

Künstler sind gewiß jene, die das nicht vergessen<br />

können. <strong>Heisig</strong>s Bildern sieht man dieses<br />

bedenkliche Ende an.<br />

Er hat sich einen Menschenmaler genannt.<br />

Aber es ist noch etwas anderes. <strong>Heisig</strong> malt<br />

Kreaturen, nein, anders, er malt die Kreatur in<br />

uns, bis dorthin, wo sie auf das Geistige trifft,<br />

wo sie Begierde wird, Wut, ja Mord, und er<br />

malt denselben Weg wieder zurück. Man steht<br />

vor den »Mutter Courage«-Figuren, vor Schweizerkas<br />

und Eilif, vor der blinden Tochter Kattrin<br />

und weiß es so deutlich wie lange nicht mehr.<br />

<strong>Heisig</strong> malt alle Schichten des Menschseins auf<br />

einmal. Er malt den Riß, der durch die Schöpfung<br />

geht. – Wahrscheinlich zeichnete er diesen<br />

Schöpfungsriß schon mitten in den Bundeskanzler<br />

Schmidt hinein. Der Bundeskanzler als<br />

Kreatur? Und sogar jener frühe »Brigadier«,<br />

für den die Partei ihn so belobigte, muß doch<br />

6 7


Kerstin Decker<br />

<strong>Heisig</strong>s »Mutter Courage...«<br />

»gezeichnet« gewesen sein. Oder es lag nur daran,<br />

daß realsozialistische Brigadiere einfach so<br />

wenig begabt waren zum Morbiden, zur Bild<br />

gewordenen Vergängnis. Kriegs-Barockfiguren<br />

sind da ungleich talentierter.<br />

Kreaturen mit Schöpfungsriß in der Mitte. Bestimmt<br />

haben sich die Genossen die allseits<br />

gebildete sozialistische Persönlichkeit anders<br />

vorgestellt. Optimismus ist manchmal eine<br />

besonders heimtückische Form der Dummheit.<br />

Jeder Apokalyptiker weiß das. Den Zurückhaltenderen<br />

– den Feineren auch? – genügte dieses<br />

Wissen. Wozu dem Staat etwas ins Gesicht sagen,<br />

was er ja doch nicht begreifen konnte? Bis zur<br />

Bewußtlosigkeit säkularisierte Menschen verstehen<br />

nicht mal mehr Schöpfungsrisse.<br />

Andererseits müssen Apokalyptiker gar nicht<br />

religiös sein. Jedenfalls nicht unmittelbar.<br />

Es reicht schon, daß sie Maler sind. Und man<br />

kann sich sehr wohl darüber streiten, wer zuerst<br />

da war – der Maler oder der Prophet. Ihr Gestus<br />

ist ja derselbe, dieses Ich-hab’s-gesehen-! <strong>Heisig</strong>s<br />

Bilder schreien das heraus. Immer wieder<br />

diesen einen Satz. Vielleicht sind allzeit auch<br />

nur jene unter den Sehern Propheten geworden,<br />

die nicht malen konnten. Was ist denn<br />

eine Vision? Ein Bild natürlich.<br />

Und nun muß man unterscheiden. Es gibt die<br />

großen und die kleinen <strong>Heisig</strong>-Verhängnisbilder.<br />

Auf den größeren wie dem »Maler und<br />

sein Thema« ist so ziemlich alles drauf, was<br />

<strong>Heisig</strong> »sieht«. Es sind jene gedrängten, ineinanderstürzenden<br />

assoziativen Wirklichkeitssplitter,<br />

großartig oft, Rätselbilder, enträtselnd<br />

zugleich. Und doch in ihrer Verwobenheit<br />

manchmal ungemein weltanschauungshaft.<br />

Pädagogisch sogar. Selbst diesen Zug zum<br />

Belehrenden teilt <strong>Heisig</strong> mit den großen<br />

Schwarzsehern. Waren die Apokalyptiker gar<br />

auch die ersten Pädagogen? Vielleicht wirken<br />

sie darum unmodern in unserer Gesellschaft<br />

der Schwererziehbaren. <strong>Heisig</strong>s leinwandgewordene<br />

Medienkritik mag einem fremd bleiben,<br />

weil sie doch ein Drauf-Blick ist.<br />

Mir sind <strong>Heisig</strong>s Menschen-Bilder am liebsten.<br />

Gerade die kleineren unter ihnen, deren Figuren<br />

dennoch jeden (Bild)-Rahmen zu sprengen<br />

scheinen wie jene der »Mutter Courage«-Lithografien.<br />

Und dabei müssen sie ohne dieses<br />

wunderbare <strong>Heisig</strong>-Gelb oder -Grün auskommen,<br />

diese verrücktgewordenen Expressionisten-Visionärsfarben.<br />

Nun gut, es gibt es doch,<br />

ein groteskes Kreuz-Balken-Gelb-Orange im<br />

einzigen Ölbild des Courage-Zyklus. »Warum,<br />

es ist ein Glaubenskrieg = gottgefällig« steht<br />

darunter. Was für ein Titel. Ist das etwa<br />

modern, gegenwärtig?<br />

Den Dreißigjährigen Krieg malen im Jahre<br />

2000. Dabei hatte <strong>Heisig</strong>s Leipziger Kollege<br />

Tübke gerade schwere Erfahrungen mit dem<br />

Bauernkrieg gemacht, den plötzlich auch keiner<br />

mehr so richtig zeitgemäß fand. Das größte<br />

Ölgemälde Deutschlands auf 1500 qm mit<br />

3000 handelnden Personen. Und allein das<br />

Jüngste Gericht ist vierzehn Meter hoch. Mag<br />

sein, <strong>Heisig</strong> hätte auch gern mal wie alle Apokalyptiker<br />

ein vierzehn Meter hohes Jüngstes<br />

Gericht gemalt. Erst daran läßt sich ermessen,<br />

wie sehr sich sein Dreißigjähriger Krieg doch<br />

von dem der Bauern bei Tübke unterscheidet.<br />

Er ist nur 60 cm hoch und oft ist eine Person<br />

ganz allein auf dem Bild. Aber so, daß man die<br />

Gesichter nicht mehr so schnell los wird. Vor<br />

allem das Kattrins nicht, der stummen Tochter<br />

der Mutter Courage. »Kattrin trommelt auf<br />

dem Dach«. Wir erkennen an der Trommlerin,<br />

der Warnerin mit den entsetzensoffenen<br />

Augen unschwer den Gestus des Propheten,<br />

des Sehers. Und in der »Verwundeten Kattrin«,<br />

der Stummen, die bei <strong>Heisig</strong> brüllt wie keine<br />

sonst, begegnet er wieder.<br />

Abb.<br />

S. 39<br />

Abb.<br />

S. 9,<br />

S. 41<br />

Abb.<br />

S. 41


Sehen Propheten und Apokalyptiker eigentlich<br />

abstrakt? Sieht Kattrin und mit ihr <strong>Heisig</strong> etwa<br />

Kreise und Quadrate? Nicht, daß das nicht ginge.<br />

Einer hat mal ein schwarzes Quadrat gesehen.<br />

Was für ein Menetekel! Aber es ist nicht einfach<br />

wiederholbar. Problematisch werden die Abstrakten<br />

immer dann, wenn sie anfangen, auch<br />

abstrakt zu denken und dieses für einzig wahrheitsfähig<br />

halten. Abstraktes Denken, das ist<br />

vielleicht die wesentlichste geistige Erfahrung<br />

aus der DDR, ist inhuman. Denn es begreift nur,<br />

was es längst schon weiß. Es ist unfähig, Erfahrungen<br />

zu machen. Der »ideologische Überbau«<br />

der DDR war nichts anderes als eine abstrakte<br />

Geschichtsmetaphysik. Darum war sie nicht zu<br />

korrigieren, nur zu stürzen.<br />

Nein, Apokalyptiker, wenn sie Künstler werden,<br />

sehen nicht abstrakt. Schon weil eine Zeitform<br />

für sie nicht existiert: Vergangenheit. Die natürliche<br />

Leidenschaft aller Apokalyptiker ist die<br />

Geschichte. Aber als Gegenwart. Ihr Blick voraus<br />

ist nicht ohne den Blick zurück. So erklärt sich,<br />

warum <strong>Heisig</strong> fast immer »Geschichte« malte.<br />

Daß er den Krieg auf seine Bilder bannte, und<br />

nun auch den Dreißigjährigen, als wäre er gestern<br />

zuende gegangen. Oder als wäre er nie<br />

zuende gegangen? Wo Geschichte ihre Last nicht<br />

einer abstrakten Fortschrittsidee übergibt, um<br />

sich gewichtslos zu machen, ist sie grauenhaft<br />

konkret.<br />

»Ich hab’s gesehen«. Der Ausdruck des Sehers<br />

und des Künstlers. Es ist derselbe auf Kattrins<br />

Gesicht wie auf <strong>Heisig</strong>s Bildern. Kattrin ist<br />

stumm. Vielleicht muß man stumm sein – nicht<br />

reden können auf die geläufige Weise –, um daran<br />

zum Künstler zu werden. Um anders sprechen<br />

zu lernen. Um anzufangen zu malen. Der Stumme<br />

ist der Zeuge par excellence. Erleidender, Erleidende<br />

wie Kattrin, aber immer irgendwie auch<br />

neben dem Geschehen und darüber hinaus.<br />

Solche Zeugenschaft definiert den Künstler.<br />

»Kattrin trommelt auf dem Dach«<br />

zu »Mutter Courage«<br />

Originallithografie, 2000<br />

auf Bütten 65,5 x 50 cm<br />

siehe Seite 41<br />

8 9


<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

»Ruhmeshalle«<br />

(Der Ruhm von gestern)<br />

Öl auf Leinwand, 1980<br />

100 x 80 cm<br />

Leihgabe: Privatsammlung, <strong>Berlin</strong>


»1.<br />

»Der faschistische Alptraum«<br />

»Der faschistische Alptraum«<br />

Kassette mit 25 Originallithografien, 1976<br />

wechselnde Formate auf 65 x 50 cm<br />

alle Blätter sind betitelt und signiert<br />

Auflage 30 Exemplare<br />

Lager-Nr. BE 4184<br />

10 11


»1.<br />

»Der faschistische Alptraum«<br />

Die Sirene


<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

Der faschistische Alptraum<br />

Der Zyklus umfaßte zunächst etwa 36 Lithografien.<br />

Anfangs wollte ich für eine Ausstellung<br />

nur zwei Steinzeichnungen machen und begann<br />

mit dem Blatt, das dann der Folge den Namen<br />

gab: »Der faschistische Alptraum«. Das zweite<br />

Blatt war das »Panzerwrack«. Nun kamen aber<br />

immer neue Einfälle. Auch konnte ich zwei oder<br />

drei ältere Kompositionen, die in der Nähe des<br />

Themas lagen, verwenden, und ich begann eine<br />

Blattfolge zu planen. Die bewegliche Technik der<br />

Lithografie kam dabei meinen Absichten entgegen,<br />

zumal ich in Horst Arloth einen Drucker<br />

fand, der auf jeden Versuch einging. Er druckte<br />

meine Lithografien schon seit Jahren, aber hier<br />

begann eine für meine Arbeit wichtige, neue<br />

Form der technischen Zusammenarbeit. Das<br />

führte freilich manchmal dazu, daß manche<br />

Blätter vordergründig auf das grafische Experiment<br />

abgestellt waren. Ich habe sie später<br />

wieder herausgenommen und dann die Folge<br />

auf 25 Lithografien beschränkt. Das Ganze ist<br />

nicht als »Anklage« gedacht. Dazu fühlte ich<br />

mich nicht berechtigt. Neben der Möglichkeit,<br />

einen Bildstoff grafisch formulieren zu können,<br />

wollte ich mir auch über eine Bewußtseinslage<br />

klar werden, in der ich mich damals und mit mir<br />

viele meiner Generation befanden. Die Folge ist<br />

hier vorerst abgeschlossen, aber der Stoff bietet<br />

sich immer wieder an, manchmal ganz versteckt.<br />

Er wird mich auch, solange ich arbeiten kann,<br />

beschäftigen.<br />

Der Zyklus wurde in den letzten 10 Jahren oft<br />

ausgestellt, in der DDR, in der BRD, in Polen,<br />

in der Sowjetunion, in Italien und Schweden.<br />

Als der Verlag der Kunst vor einem Jahr die<br />

Folge als Mappenwerk herausbringen wollte,<br />

fanden sich nahezu alle Steine wieder, und ich<br />

begann einige zu überarbeiten, um eine größere<br />

Geschlossenheit zu erzielen. Dabei habe ich<br />

zwar einige Ergänzungen geschafft, aber auch<br />

einiges verdorben. So habe ich dann lieber alles<br />

so gelassen, wie es damals konzipiert war.<br />

Juli 1976<br />

12 13


»1.<br />

»Der faschistische Alptraum«<br />

Heldische Zeiten Truppenbetreuung


»Der faschistische Alptraum«<br />

Öl auf Hartfaser, 1978<br />

60 x 80 cm<br />

Lager-Nr. BE 6717<br />

14 15


»1.<br />

»Der faschistische Alptraum«<br />

Straße mit Wartenden Christus fährt mit uns


»Der Verfilmte«<br />

(2. Fassung)<br />

Öl auf Leinwand, 1999<br />

120 x 100 cm<br />

Lager-Nr. BE 6858<br />

16 17


»1.<br />

»Der faschistische Alptraum«<br />

Unterm Hakenkreuz


2.<br />

zu: Ludwig Renn »Krieg«<br />

zu: Ludwig Renn »Krieg«<br />

Mappe mit 24 Originallithografien, 1976/79<br />

wechselnde Formate auf 48 x 36 cm<br />

alle Blätter sind signiert<br />

Auflage 80 Exemplare<br />

Lager-Nr. BE 2053<br />

18 19


2.<br />

zu: Ludwig Renn »Krieg«<br />

Blatt 3 Blatt 4 Blatt 5


»Der Kriegsfreiwillige«<br />

Öl auf Leinwand, 1984/88<br />

101 x 90 cm<br />

Leihgabe: Privatsammlung, <strong>Berlin</strong><br />

20 21


2.<br />

zu: Ludwig Renn »Krieg«<br />

Blatt 9 Blatt 11 Blatt 12


»Christus ist überall«<br />

(Christus fährt mit uns)<br />

Öl auf Leinwand, 1978/88/91<br />

120 x 120 cm<br />

Leihgabe: Sammlung der ehemaligen<br />

GrundkreditBank, <strong>Berlin</strong><br />

(<strong>Berlin</strong>er Volksbank)<br />

22 23


2.<br />

zu: Ludwig Renn »Krieg«<br />

Blatt 16 Blatt 17 Blatt 22


<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

zu: Theodor Fontane<br />

»Schach von Wuthenow«<br />

Erzählung aus der Zeit<br />

des Regiments Gensdarmes<br />

Suite mit 14 Originallithografien, 1998/99<br />

zu: Theodor Fontane »Schach von Wuthenow«<br />

und einer weiteren Originallithografie<br />

»Portrait Theodor Fontane«<br />

wechselnde Formate auf Zerkall-Bütten<br />

circa 51 x 40 cm<br />

33 numerierte Exemplare<br />

Editions-Nr. X 680<br />

beigelegt ist das Buch<br />

Theodor Fontane »Schach von Wuthenow«<br />

als Sonderdruck der Edition <strong>Brusberg</strong> <strong>Berlin</strong><br />

mit Reproduktionen nach den<br />

15 Originallithografien von <strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

Buchformat 28,5 x 23,3 cm<br />

»3.<br />

»zu: Theodor Fontane<br />

»Schach von Wuthenow«<br />

»Als ich den preußischen Selbstmord<br />

des Herrn von Schach begriffen hatte...«<br />

Lithografie auf Zerkall-Bütten, 1999<br />

28 x 43 cm<br />

Auflage 111 Exemplare<br />

signiert und numeriert<br />

Beilage zur Vorzugsausgabe<br />

des Buches<br />

Editions-Nr. X 687<br />

24 25


3.<br />

»zu: Theodor Fontane<br />

»Schach von Wuthenow«<br />

Frontispiz Blatt 1


»Als ich den preußischen Selbstmord<br />

des Herrn von Schach begriffen hatte...«<br />

(1. Fassung)<br />

Öl auf Leinwand, 1999<br />

77,5 x 94 cm<br />

Lager-Nr. BK 11915<br />

26 27


3.<br />

»zu: Theodor Fontane<br />

»Schach von Wuthenow«<br />

Blatt 4 Blatt 14


zu: Bertolt Brecht<br />

»Mutter Courage und ihre Kinder«<br />

Eine Chronik<br />

aus dem Dreißigjährigen Krieg<br />

Kassette mit 15 Originallithografien, 2000<br />

wechselnde Formate auf Zerkall-Bütten, 65,5 x 50 cm<br />

und 20 auf Umdruckpapier gezeichnete Lithografien<br />

wechselnde Formate auf Zerkall-Bütten, 33 x 25 cm<br />

Gesamtauflage 48 Exemplare, davon sind<br />

33 Exemplare für den Handel bestimmt und von<br />

1/33 bis 33/33 numeriert, alle Blätter sind signiert<br />

Editions-Nr. X 698<br />

4.<br />

zu: Bertolt Brecht<br />

»Mutter Courage und ihre Kinder«<br />

1.<br />

Der Wagen der Courage<br />

28 29


4.<br />

»zu: Bertolt Brecht<br />

»Mutter Courage...«<br />

6.<br />

Mutter Courage unterwegs mit ihrem Wagen


Abb.<br />

S. 40.<br />

Abb.<br />

S. 29.<br />

Herbert Kreppel<br />

Eine Chronik aus dem unendlichen Krieg<br />

Einige Eindrücke bei der Betrachtung von <strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong>s Lithographien zu Bertolt Brechts<br />

»Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg«<br />

Phase I<br />

Ein Gedankenspiel: betrachten, als würde man<br />

Bertolt Brechts Stück nicht kennen, wüßte<br />

auch nicht, wer Bertolt Brecht war. Oder ist.<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong>s Blätter studieren, als wären<br />

sie Spuren von Unbekanntem, von Archäologen<br />

gefunden.<br />

Bilder vom Kriege. Vergangenheit, offensichtlich.<br />

Von einer vergangenen Zeit: Planwagen,<br />

Topfhelme, Spieße, Schwerter, ein Zettel mit<br />

einem schwarzen Kreuz, eine Kanone, ein Gekreuzigter,<br />

eine Stall-Laterne. Eine Trommel.<br />

Bilder zum Sehen – und Hören: Wagenräder,<br />

Wispern, Keuchen, Marschtritte. Getrommel<br />

und Gepfeife. Gelächter (selten). Auch Fetzen<br />

von Tänzen. Schießen, Schreie der Wut, des<br />

Schmerzes, der Angst. Und immer wieder das<br />

Gequietsch und Geknarr des Wagens. Und da,<br />

ein Untertitel: »Der Wagen der Courage« und<br />

an dem Planwagen ein Brett, da steht »Courage«<br />

drauf und davor tanzt eine Frau in Kopftuch,<br />

schwerer loser Jacke, weitem dicken Rock<br />

und groben Stiefeln. Sie sagt (oder singt?),<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong> hat die Zeile darunter gekritzelt:<br />

»Ich laß mir den Krieg nicht von euch<br />

madig machen.« (Krieg ist für diese Frau also<br />

etwas Wahres – und Schönes und Gutes. Und<br />

da will sie keine üble Nachrede.)<br />

Dreimal ist die Frau mit dem Kopftuch auf<br />

ihrem Planwagen zu erkennen. Das erste Mal<br />

selbviert. Sie auf dem Bock, hält sich mit einer<br />

Hand am Wagendach fest. Neben ihr eine<br />

zweite, geduckte Frauensperson. An der Deichsel<br />

zwei Männer mit runden Hüten. Der Mond<br />

(oder eine winterliche Sonne) scheint hinter<br />

Silhouetten kahler Bäume, spiegelt sich in<br />

einer Pfütze. Der Wagen und die schlammige<br />

Straße teilen das Bild in einer steilen Diagonale<br />

von rechts oben nach links unten. So<br />

bekommt das Gespann Tempo und die Szene<br />

strahlt eine Art unheimlichen Optimismus aus.<br />

Da ist (und das gilt für die ganze Serie der<br />

Bilder): Bewegung. Nie Stillstand. Auch die<br />

Großaufnahmen sind immer Schnappschüsse,<br />

als seien heftige Gesten kurz »eingefroren«.<br />

Sprechende mitten im Satz vom Blitzlicht<br />

getroffen.<br />

Dann, über der Zeile »Mutter Courage unterwegs<br />

mit ihrem Wagen«: wieder schwindelnd<br />

steil schräg von oben gesehen. Obwohl der<br />

Winkel, in dem der Wagen von der Waagrechten<br />

wegzukippen scheint, der gleiche ist wie<br />

im ersten Bild, hat das Gefährt noch mehr<br />

Tempo. Da sind nur noch drei Menschen, zwei<br />

ziehen, offensichtlich angestrengter, vielleicht<br />

wollen sie schneller vorwärtskommen, vielleicht<br />

ist der Wagen auch schwerer. Auf dem<br />

Bock sitzt nur noch die Frau, die ganze Haltung<br />

sagt: »Chefin«. Sind die Ziehenden die<br />

zwei Männer wie zuvor oder zieht ein Mann<br />

und jene andere weibliche Figur, die geduckt<br />

auf dem Bock saß? Keine Sonne (kein Mond?),<br />

keine Bäume, keine spiegelnde Pfütze. Den<br />

Hintergrund füllt eine marschierende Soldatenkolonne,<br />

dicht an dicht. Keine Gesichter<br />

(schwarze Flecken an Stelle der Gesichter),<br />

ein Wald von Spießen, wie auf Stichen des<br />

Stefano della Bella oder des Callot. Darüber<br />

ein heller Himmel. Der Wagen fährt neben<br />

der Marschkolonne her, gehört dazu und doch<br />

wieder nicht. Sehr martialisch alles, kraftvoll.<br />

Die suggerierte Tonkulisse: Trommeln und<br />

Trompeten, vielleicht.<br />

30 31<br />

Abb.<br />

S. 30


Abb.<br />

S. 42.<br />

Abb.<br />

S. 38.<br />

Abb.<br />

S. 41.<br />

Herbert Kreppel<br />

Eine Chronik aus dem unendlichen Krieg<br />

Das dritte Wagenbild: die Frau, die als Courage<br />

tanzte, zieht allein. Tief gekrümmt, in rechtem<br />

Winkel beinahe. »... nehmts mich mit!« lautet<br />

der Satz, den <strong>Heisig</strong> unter das letzte Bild der<br />

Serie schreibt. Man hört eine brüchige Altweiberstimme.<br />

Aber fordernd, beinahe ein Befehl.<br />

Die Untertitel wären hilfreich beim Entschlüsseln<br />

der anderen Bilder. Sonderbare Namen<br />

(»Eilif«, »Schweizerkas«), Militärpersonal<br />

(»Werber«, »Feldhauptmann«, »Lagerhure«).<br />

Ein Koch, ein Einäugiger. Eine Frauensperson<br />

namens Kattrin. Sie trommelt. Schreit sie<br />

auch? In allen Bildern sind Entdeckungen zu<br />

machen. Wie ein Archäologe, der entzückt<br />

Bruchstücke zusammenpaßt.<br />

Auf drei Bildern das Kreuz: ein schwarzes, auf<br />

einem Zettel, ... und dann zweimal ein Golgathakreuz.<br />

Aber wie! Welch ein Fund des<br />

Malers! Von schräg hinten gesehen, der Gekreuzigte<br />

auf der abgewandten Seite. Deutlich<br />

nur sein rechter Arm ist zu sehen, schemenhaft<br />

der Oberkörper, die Dornenkrone. Ein<br />

brutaler Nagel oder Dübel ist so weit hineingeschlagen,<br />

daß er auf der Rückseite des Querbalkens<br />

lang hervorsteht. Auffallend die an<br />

die Rückseite des Kreuzes gelehnte Leiter.<br />

Wozu mag sie gedient haben? Um den zu Kreuzigenden<br />

hochzuhieven? Oder um, vielleicht,<br />

das INRI-Schild anzubringen?<br />

Im Vordergrund der Crucifixus-Bilder eine<br />

gespenstische Erscheinung, ein Soldat mit<br />

einem vorn merkwürdig gespaltenen Helm,<br />

einäugig, ein Totenkopf beinahe, dazu einmal<br />

ein wirklicher Totenkopf und der Kopf eines<br />

Schreienden, eine Unterschrift lautet: »Warum?<br />

Es ist ein Glaubenskrieg.«<br />

Zwei Bilder handeln von jener Kattrin. »Kattrin<br />

verwundet«, »Kattrin trommelt auf dem<br />

Dach«. Das Bild der Verwundeten zeigt einen<br />

schreienden Menschen, Stirn und ein Auge<br />

unter einem Verband, das freie Auge zugekniffen<br />

im Schmerz. Im Zentrum, förmlich aus dem<br />

Bild herausspringend, der Mund. Die Zähne.<br />

(Wo habe ich solche Schneidezähne schon einmal<br />

gesehen? Picassos Guernica, das schreiende<br />

Pferd.) <strong>Heisig</strong>s verwundete Kattrin ist wieder ein<br />

Bild, das Auge und Ohr attackiert. Der Schrei ist<br />

kein Munch’scher kosmischer Angstschrei, sondern<br />

sehr diesseitig, hemmungslos, schrill, überlaut.<br />

Ein Sirenengeheul. Von da an hängt der<br />

Schrei über der Betrachtung der Bilder.


Phase II<br />

Nun doch die Erinnerung zulassend, die Kenntnis<br />

des Stücks, dessen, was man über den<br />

Stückeschreiber zu wissen glaubt und in Aufführungen<br />

gesehen hat und auf den Photos der<br />

»Modellinszenierung« von Brecht und Erich<br />

Engel, 1949.<br />

Da ist das Photo der trommelnden Kattrin<br />

jener <strong>Berlin</strong>er Aufführung. Bei <strong>Heisig</strong> fällt die<br />

Leiter auf (auf dem Theaterphoto sieht man sie<br />

nicht). Sie steht im gleichen Winkel wie an<br />

<strong>Heisig</strong>s Golgatha-Kreuzen. Zufall? Ein großer<br />

Unterschied zwischen dem Ausdruck von<br />

Brechts Kattrin (Angelika Hurwicz) und <strong>Heisig</strong>s<br />

Kattrin: die Hurwicz trommelt verbissen, energisch,<br />

nahezu mit (boshaftem) Vergnügen, mit<br />

weit ausholendem Arm, auf die Trommel konzentriert.<br />

Die heisigsche in Panik, weit aufgerissene<br />

Augen, aufgerissener Mund (auch hier:<br />

als schrie die Stumme), die Schlegel nahe bei<br />

der Trommel. Kurze Bewegungen, hastigerer<br />

Rhythmus, Zeit- und Angstdruck.<br />

Brechts Hoffnung: Das Stück ist 1939 geschrieben,<br />

als der Stückeschreiber einen großen Krieg<br />

voraussah: er war nicht überzeugt, daß die Menschen<br />

»an und für sich« aus dem Unglück, daß<br />

sie seiner Ansicht nach betreffen mußte, etwas<br />

lernen würden. ... Wenn jedoch die Courage weiter<br />

nichts lernt – das Publikum kann, meiner<br />

Ansicht nach, dennoch etwas lernen, sie<br />

betrachtend.<br />

Brechts Sorge: daß seine Courage als eine von<br />

den Opfern gesehen werden könnte; nicht als<br />

eine, wenn auch kleine, von den Tätern; und es<br />

könnte sich so bei den Zuschauern ein (genetisch<br />

bedingtes?) Mitleid mit der Mutter vor<br />

ein (zu erlernendes) Durchschauen ihrer<br />

Berechnung drängen. Freilich ist Brecht an<br />

solchem Mißverständnis nicht unschuldig. Es<br />

ist nicht leicht zu entdecken, daß die Worte<br />

»Mutter« und »Courage« im Titel einander<br />

nicht schmücken sollen (sozusagen als:<br />

»Mama, die Tapfere«), sondern, da »Courage«<br />

hier »Kühnheit im Geschäftlichen« bedeutet<br />

(... ich bin durch das Geschützfeuer von Riga<br />

gefahrn mit fünfzig Brotlaib im Wagen. Sie<br />

waren schon angeschimmelt, es war höchste<br />

Zeit, ich hab keine Wahl gehabt. ... ), sind<br />

»Mutter« und »Courage« als Widerspruch zu<br />

lesen. Am Ende hat sie ihre Kinder verloren.<br />

Das Geschäftliche ist ihr geblieben, da hat sie<br />

»keine Wahl«.<br />

In einer sehr schönen Inszenierung von Richard<br />

Schechner, New York 1974, wurde gezeigt:<br />

als die Courage überzeugt sein mußte, daß<br />

ihre Tochter Kattrin tot war, deckte sie die Leiche<br />

nicht, wie Brechts Regieanweisung angibt,<br />

mit einer Blache zu. Sie zog sie aus. Splitterfasernackt.<br />

Es waren ja noch brauchbare Kleider,<br />

brauchbare Stiefel. Werte. Die konnte man<br />

doch nicht verkommen lassen. Dann ging Mutter<br />

Courage weiter und ließ die nackte tote<br />

Tochter liegen. Kein Wert mehr.<br />

Betrachtet man die fünfzehn großen Lithographien,<br />

so scheint zunächst, daß <strong>Bernhard</strong><br />

<strong>Heisig</strong> sich von Brechts Humor nicht hat anstecken<br />

lassen. Im Stücktext sind auch in<br />

schwärzesten Situationen Sätze zu finden, die<br />

zum Lachen reizen. Bei <strong>Heisig</strong>, scheinbar, nur<br />

das Erschreckende, bestenfalls ins Groteske<br />

distanziert. Dann aber, beim genaueren Blick<br />

auf die Serie der zwanzig Zeichnungen: da ist<br />

der Humor, <strong>Heisig</strong>s Humor dem brechtschen<br />

gar nicht so fern, Grazie, Leichtigkeit, Rhythmus.<br />

Keck und fröhlich feilschen die Courage<br />

und der Koch um den Kapaun, die Bewegungen<br />

sind tänzerisch und kokett, ums Geschäft<br />

scheint es weniger zu gehen; hübsch ist die<br />

Lagerhure, sexy wie junge Frauen in Goyas<br />

Caprichos, und die Courage lächelt dazu. Auf<br />

32 33


Abb.<br />

S. 2,<br />

S. 48.<br />

Herbert Kreppel<br />

Eine Chronik aus dem unendlichen Krieg<br />

einem späteren Blatt lacht die Lagerhure schallend.<br />

Die Raufereien sind Balgereien, der das<br />

Schwert ziehende junge Soldat ein drohender<br />

Bub. In den Kattrin-Zeichnungen freilich auch<br />

hier kein Spaß.<br />

An zwei dieser Zeichnungen bleibt der Blick<br />

wieder hängen. Sie sind nicht auf Situationen<br />

des Stücks bezogen, sondern vom Zeichner allgemeiner<br />

benannt: »Elend der Zeit I«, »Elend<br />

der Zeit II«. Ein Mensch (Frau oder Mann?), die<br />

Hände vors Gesicht schlagend. Diese Bilder sind<br />

tonlos. In »I« ist der Kopf ziemlich aufrecht,<br />

sind die Finger gespreizt, die Figur scheint durch<br />

die Verzweiflungsgeste hindurchzublinzeln; in<br />

»II« ist der Kopf etwas zur Seite gebeugt, die<br />

Finger liegen eng aneinander an. Da will jemand<br />

nichts mehr sehen. Die »Zeit«, deren<br />

Elend die Hände vor den Augen abwehren sollen,<br />

könnten jene dreißig Jahre im 17. Jahrhundert<br />

sein. Oder auch unsere Zeit. Oder<br />

»Zeit« überhaupt.<br />

Einen Schießkrieg haben wir bei uns seit mehr<br />

als fünfzig Jahren nicht gehabt. Freilich rückt er<br />

uns auch heute in flimmerndern Bildern ziemlich<br />

nah auf den Leib, wenn hinten weit in den<br />

Schluchten des Balkans (oder noch weiter entfernt)<br />

die Völker aufeinander schlagen. Die Menschen<br />

in <strong>Heisig</strong>s Bildern tragen vergangenes<br />

Kostüm, andeutungsweise. Darüber sieht man<br />

leicht hinweg, vergißt es wohl auch, nach einiger<br />

Zeit der Betrachtung. Was sich aber einbrennt<br />

ins Weiterimaginieren und ins Gedächtnis, ist<br />

der Ausdruck dieser Menschen: Augen, Münder.<br />

Haltungen. Wie sie einander packen. Auch<br />

belauern. Bedrohen. Ruinieren. Unaufhörlich.<br />

Dagegen, denke ich, schreit <strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong>s<br />

Kattrin an. Unaufhörlich.<br />

1.<br />

Der Wagen der Courage


4.<br />

»zu: Bertolt Brecht<br />

»Mutter Courage...«<br />

2.<br />

Der Werber und Eilif<br />

(K. 1, S. 13–19)<br />

3.<br />

»Ich stech euch nieder, Lumpen«<br />

(K. 1, S. 15, Z. 10–11)<br />

34 35


4.<br />

»zu: Bertolt Brecht<br />

»Mutter Courage...«<br />

4.<br />

Schweizerkas und Eilif<br />

(K. 1, S. 17)<br />

5.<br />

»...ein Kreuz steht auch über deinem Weg«<br />

(K. 1, S. 18, Z. 31–32)


7.<br />

Im Zelt des Feldhauptmanns<br />

(K. 2, S. 21–24)<br />

8.<br />

Mutter Courage und die Lagerhure Yvette<br />

(K. 3, S. 30–32, 37f.)<br />

36 37


4.<br />

»zu: Bertolt Brecht<br />

»Mutter Courage...«<br />

9.<br />

»Warum? Es ist ein Glaubenskrieg«<br />

(K. 3, S. 34, Z. 2)<br />

10.<br />

Der Einäugige<br />

(K. 3, S. 42, Z. 19–31; S. 49, Z. 23–24; S. 52, Z. 4–10)


»Warum, es ist ein Glaubenskrieg = gottgefällig«<br />

Öl auf Leinwand<br />

Zustand Ende Dezember 2000<br />

90 x 70 cm<br />

38 39


4.<br />

»zu: Bertolt Brecht<br />

»Mutter Courage...«<br />

11.<br />

»Kennst du ihn?«<br />

(K. 3, S. 53, Z. 7)<br />

13.<br />

»Ich laß mir den Krieg nicht von euch madig machen.«<br />

(K. 7, S. 73, Z. 8–9)


12.<br />

Kattrin verwundet<br />

(K. 6, S. 71, Z. 5–15)<br />

14.<br />

Kattrin trommelt auf dem Dach<br />

(K. 11, S. 98, Z. 15f, S. 101, Z. 20)<br />

40 41


4.<br />

»zu: Bertolt Brecht<br />

»Mutter Courage...«<br />

15.<br />

»..., nehmts mich mit.«<br />

(K. 12, S. 103, Z. 19)


Adolf Dresen<br />

Der Stein beginnt zu reden<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong>s Steinzeichnungen zu Brechts »Mutter Courage und ihre Kinder«<br />

Zuerst ist da der Stein des Lithographen, und<br />

er ist stumm. Die lithographische Technik,<br />

ursprünglich ein Reproduktionsverfahren, hat<br />

längst einen eigenen künstlerischen Wert bekommen,<br />

so daß sie heute, im Zeichen weit billigerer<br />

und besserer Reproduktionstechniken,<br />

allein noch für künstlerische Zwecke benutzt<br />

wird, von <strong>Heisig</strong> fast ausschließlich. Er bringt,<br />

indem er die Bilder aus ihm herausholt, buchstäblich<br />

den Stein zum Reden. Hier aber geht<br />

es noch um einen anderen Stein, der zu reden<br />

beginnt.<br />

Ich habe Brechts Aufführung der »Mutter Courage«<br />

Ende der 50er Jahre im <strong>Berlin</strong>er Ensemble<br />

viele Male gesehen. Es spielten die Weigel,<br />

Busch, Geschonnek, die Hurwicz, Schall, Schubert...<br />

Wenn die Aufführung gut war – das war<br />

nicht immer der Fall –, kamen mir die Tränen.<br />

Ich verbot sie mir damals, denn ich war Brechtianer<br />

und die Theorie des Epischen Theaters<br />

erlaubte keine Tränen. Da ging es vielmehr um<br />

Einsichten. Später empfand ich das als Lehrhaftigkeit,<br />

und es hat mir Brecht jahrelang<br />

entfremdet. »Was eine Aufführung von Mutter<br />

Courage«, heißt es in der »Theaterarbeit«<br />

des <strong>Berlin</strong>er Ensemble, »hauptsächlich zeigen<br />

sollte: Daß die Geschäfte in den Kriegen nicht<br />

von den kleinen Leuten gemacht werden...«<br />

Ja, dieses »zeigen«... Da wird man mit der<br />

Nase auf etwas gestoßen, da wird einem eine<br />

Wahrheit andemonstriert. Kann man sie nicht<br />

selbst entdecken? Ist die Entdeckung nicht das<br />

Beste an der Wahrheit? Brecht ist beinahe aus<br />

der Mode gekommen, vielleicht sogar das ganze<br />

Theater. Warum aber liefert <strong>Heisig</strong> dann, ohne<br />

aktuellen Anlaß, Illustrationen zu dem alten<br />

Stück? Er hat früher einmal, als die Aufführung<br />

des <strong>Berlin</strong>er Ensemble noch lief, 1965, eine<br />

Buchausgabe des Reclam-Verlages illustriert.<br />

Er illustrierte damals auch Grimmelshausens<br />

Buch von der »Landstörtzerin Courage«, das<br />

Brecht als Anregung benutzte, und Brechts<br />

»Dreigroschenroman«. Das war noch vor der<br />

Zeit, ehe er den Steindruck wirklich für sich<br />

entdeckte. Warum aber nimmt er jetzt, da die<br />

Courage von den Spielplänen verschwand,<br />

deren Thema wieder auf? Wegen des Themas<br />

»Krieg«? Leider ist es aktuell geblieben, im<br />

Kosovo-Krieg kämpften sogar schon wieder<br />

deutsche Soldaten, und die bösesten der<br />

Kriegsbilder <strong>Heisig</strong>s werden vermutlich noch<br />

übertroffen durch das, was da »Kollateralschäden«<br />

hieß.<br />

<strong>Heisig</strong>s angewidert-fasziniertes Interesse am<br />

Krieg erklärt sich aus seiner Biographie. Er saß<br />

als sehr junger Mann in einem deutschen Panzer,<br />

er war beteiligt an Hitlers Ardennenoffensive<br />

und am Kampf um die »Festung Breslau«,<br />

in dem seine Heimatstadt unterging, beinahe<br />

er selbst. Er überlebte den Krieg als Invalide.<br />

Der Krieg spielt in seinem graphischen und<br />

seinem malerischen Werk eine große Rolle,<br />

doch eine andere als man meinen sollte. <strong>Heisig</strong><br />

erscheint da nicht als Mahner oder Rufer,<br />

seine Bilder haben weder etwas Anklagendes<br />

noch etwas Belehrendes. Im Vorwort zu seinem<br />

Zyklus vom »Faschistischen Alptraum«<br />

sagt er: »Das Ganze ist nicht als Anklage gedacht.<br />

Dazu fühlte ich mich nicht berechtigt.«<br />

Damals in der DDR, als er den Zyklus zuerst<br />

veröffentlichte, war man zu dieser Anklage<br />

nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet,<br />

und insofern war <strong>Heisig</strong>s Mitteilung eine<br />

Art Verweigerung. Ihm fehlt jede Form der<br />

Selbstgerechtigkeit – eine Tugend, die heute<br />

besonders zählen sollte. Vor allem die Selbst-<br />

42 43


Abb.<br />

S. 5.<br />

Adolf Dresen<br />

Der Stein beginnt zu reden<br />

gerechtigkeit derer, die sich in die Rolle des<br />

Richters berufen fühlen, verhindert eine<br />

wirkliche Vereinigung der Deutschen, Selbstgerechtigkeit<br />

gegen die Ostdeutschen,<br />

Selbstgerechtigkeit auch gegen <strong>Heisig</strong>, den<br />

großen Maler auch in Zeiten der DDR. Sie<br />

scheint immer noch nicht begriffen, die alte<br />

Geschichte von der Ehebrecherin, die gesteinigt<br />

werden soll, und die Jesus rettet mit<br />

den Worten, wer selbst ohne Schuld sei, der<br />

solle den ersten Stein werfen. Bei uns fliegen<br />

immer noch die Steine, und es gäbe<br />

weiß Gott Wichtigeres, über das zu sprechen<br />

wäre. <strong>Heisig</strong> bestreitet nicht, die Macht der<br />

Massenmanipulation am eigenen Leib erfahren<br />

zu haben – und wer wollte das für sich<br />

leugnen? Der erliegt ihr vielleicht am gründlichsten.<br />

Aus vielen Bildern <strong>Heisig</strong>s röhrt,<br />

blökt, schreit, trompetet es auf den Betrachter<br />

ein; auf einem Ölbild von 1977/79, »Der<br />

Maler und sein Thema«, macht er das sogar<br />

zum Thema: er duckt sich unter dem Lärm<br />

einer brüllenden Öffentlichkeit, die ihn<br />

behämmert, bedröhnt, agitiert, propagiert,<br />

manipuliert... Da aber kommt etwas zustande<br />

wie ein Wink, alles erstarrt in der Stille,<br />

wird zum Bild, kein Ton dringt aus der Leinwand,<br />

man sieht nur noch die Fratze. Man<br />

empfindet es als Wohltat, daß das Medium<br />

stumm ist. Es kann das Lärmmachen darstellen,<br />

es selbst macht keinen Lärm. Es ist eine<br />

Grenzüberschreitung des Malers, er betritt<br />

eine ihm eigentlich unzugängliche Dimension.<br />

Man denkt an Beckmanns »Mann im<br />

Dunkeln« – einen Mann im Dunkeln kann<br />

man nicht malen, malen heißt immer beleuchten.<br />

Daher konnte Beckmann nur eine<br />

Plastik machen, es ist wohl seine einzige<br />

geblieben – <strong>Heisig</strong> hat sie in seinen Beckmann-Porträts<br />

zweimal mitgemalt. Wie der<br />

Mann sich da im Dunkeln vorwärts tastet, ist<br />

man versucht, selbst die Augen zu schließen<br />

und ihn auch nur zu ertasten. Auch im Dun-<br />

keln, mag die Bronzestatue besagen, kann<br />

man seinen Weg finden, man muß ihn dann<br />

eben in sich selber suchen – eine Plastik, von<br />

der ich gern eine Kopie hätte. In dem ganzen<br />

uns umgebenden Lärm, mag es umgekehrt bei<br />

<strong>Heisig</strong> heißen, hört man nichts, nichts, nichts,<br />

und deshalb muß man davor die Ohren verschließen.<br />

<strong>Heisig</strong> hat eine Abneigung gegen<br />

diese Art Lärm, ja gegen alles, was auch nur<br />

den Verdacht einer »Aussage« weckt. Vielleicht<br />

verdächtigt er sogar die Kunst, also sich selbst.<br />

Als er seine Mutter malte, eine, wie man so<br />

sagt, »einfache Frau« mit den abgearbeiteten<br />

Händen der Färberin, die sich für das Porträt<br />

sonntäglich anzog und nun dasitzt und am<br />

Maler vorbeiblickt mit dem schiefen Blick derer,<br />

denen das Leben oft falsche Ware unterschob,<br />

schrieb <strong>Heisig</strong> darunter: »Die Mutter mißtraut<br />

den Bildern«. Vielleicht mißtraut auch er den<br />

Bildern. Vielleicht muß er sie gerade deshalb<br />

machen. Und vielleicht wird er gerade deshalb<br />

mit ihnen nie fertig.<br />

Auch Brechts Stück beschreibt eine »einfache<br />

Frau«, kleine Geschäftsfrau, wie er sagt, um<br />

das antiquierte Wort »Marketenderin« zu vermeiden.<br />

Sie zieht mit ihrem Planwagen zwischen<br />

den wirren Fronten des Dreißigjährigen<br />

Krieges umher, an dem sie soviel zu verdienen<br />

hofft, daß sie ihre drei Kinder füttern kann –<br />

während sie sie zugleich, eins nach dem anderen,<br />

in eben diesem Krieg verliert. Brechts<br />

»Courage« mag <strong>Heisig</strong> an all die mutigen Frauen<br />

erinnert haben, die ihre Kinder durch den<br />

Zweiten Weltkrieg brachten, nicht zuletzt an<br />

die eigene Mutter, deren Züge ihm wohl hin<br />

und wieder auch bei seinen »Courage«-Bildern<br />

dazwischen kamen. Auch sie hatte ihren Mann<br />

1941 verloren, hatte den Untergang Breslaus<br />

miterlebt, wurde schließlich als Umsiedlerin<br />

mit ihrem Sohn in das fremde Mitteldeutschland<br />

verschlagen. Auch sie hat, um den Sohn<br />

in den harten Zeiten durchbringen zu können,


Abb.<br />

S. 29.<br />

Abb.<br />

S. 35.<br />

Abb.<br />

S. 36.<br />

den Mut der »Courage« beweisen müssen, vielleicht<br />

auch deren berechnende Kälte und Härte.<br />

Doch während Brecht die Haltungen seiner<br />

Figuren in seinem Stück nicht nur darstellt,<br />

sondern regelrecht ausstellt, fehlt <strong>Heisig</strong> jede<br />

demonstrative Geste. Einen Satz wie den, der<br />

in der »Theaterarbeit« des <strong>Berlin</strong>er Ensembles<br />

das Spiel der Hurwicz, Darstellerin der stummen<br />

Kattrin, beschreiben soll, könnte es bei<br />

<strong>Heisig</strong> nicht geben: »Die Schauspielerin hat,<br />

eine heroische Haltung zeigend, die besondere<br />

Art gezeigt, wie sie bei ihrer Figur zustande<br />

kommt...« <strong>Heisig</strong> hat Sinn nicht nur für<br />

Erzählendes, sondern auch für Theatralisches,<br />

er malt sich selbst mit Kasperpuppen, wie<br />

Beckmann inszeniert er seine Bilder. In<br />

Brechts Sinn zeigen aber kann etwas nur einer,<br />

der es besser weiß.<br />

<strong>Heisig</strong>s Bilder folgen der Handlung. Zuerst ist<br />

da, wie in der Aufführung, der Planwagen des<br />

Vorspiels, bespannt mit den Söhnen Eilif und<br />

Schweizerkas, oben mit der Maultrommel oder<br />

der Mundharmonika die stumme Tochter Kattrin<br />

und die singende Courage: »Ihr Hauptleut,<br />

laßt die Trommel ruhen...« Der kleine Trupp<br />

macht einen unternehmenden Eindruck –<br />

Brecht: »Auftrieb, Unternehmungslust, eine<br />

neue Zeit wird erwartet, neue Geschäfte kündigen<br />

sich an...«. Da stößt sie auf Werber für<br />

einen Feldzug in Polen, und sie halten sich an<br />

Eilif, der das Wagenziehen satt hat und die<br />

Reden von Ruhm und Eroberung gierig aufsaugt;<br />

um ihn zu bewahren, rückt die Mutter<br />

dem Werber sogar mit dem Messer zuleibe,<br />

doch auch der weniger wendige Schweizerkas<br />

scheint am Krieg Gefallen zu finden; da blufft<br />

die Mutter die Soldaten und ihre Kinder mit<br />

einer bösen Prophezeiung: sie würden alle im<br />

Krieg umkommen (ist das Schweizerkas, der da<br />

erschrickt? Ich erinnere mich, wie Heinz Schubert<br />

diese Szene spielte: dümmlich stolz, daß<br />

auch er würdig sei, in einem Krieg zu fallen,<br />

stolz auch auf die prophetische Gabe der Mutter);<br />

trotz aller Vorsicht brennt Eilif durch –<br />

und so muß die stumme Tochter sich nun mit<br />

ins Geschirr spannen. An einem anderen Kriegsschauplatz,<br />

die Courage feilscht mit dem Feldkoch<br />

eben um einen Kapaun, begegnet sie<br />

ihrem verlorenen Sohn wieder: er wird im Zelt<br />

des Feldhauptmanns wegen seiner Kühnheit<br />

eben ausgezeichnet; bei aller Freude benutzt<br />

sie das Ereignis doch, um den Preis hochzutreiben;<br />

ihr kühner Sohn singt und vollführt einen<br />

Säbeltanz. Einige Figuren spült der Krieg in die<br />

Nähe des Planwagens – die betrunkene Lagerhure<br />

Yvette erzählt der Courage von ihrem<br />

Leben bei der Armee; der Feldprediger erklärt<br />

dem Feldkoch angesichts der Gefahren, die<br />

dem Sohn Eilif im Krieg drohen: »In dem Krieg<br />

fallen ist eine Gnad und keine Ungelegenheit,<br />

warum? Es ist ein Glaubenskrieg... und also<br />

Gott wohlgefällig. <strong>Heisig</strong> hat dasselbe Motiv<br />

noch einmal in Öl gemalt – es ist ihm offenbar<br />

wichtig. Das Bild geht über Brecht hinaus, indem<br />

es den Gekreuzigten selber malt – wie<br />

in <strong>Heisig</strong>s anderen Kriegsbildern (etwa in »Christus<br />

fährt mit uns« von 1978–91). Es geht ihm<br />

um den Mißbrauch einer Ideologie. Es entspricht<br />

Brechts Meinung, daß es in diesem<br />

»Glaubenskrieg« nicht um den Glauben, sondern<br />

allein um Interessen geht, daß aber den<br />

kleinen Leuten, die für die Interessen anderer<br />

kämpfen sollen, etwas anderes eingeredet<br />

wird. Die haben die Wahrheit längst begriffen<br />

– so wirbt der Werber um Eilif mit den Worten:<br />

»Es ist gegen uns gesagt worden, daß es<br />

fromm zugeht im schwedischen Lager, aber das<br />

ist üble Nachred, damit man uns schadet.<br />

Gesungen wird nur am Sonntag, eine Stroph!<br />

Und nur, wenn einer eine Stimm hat.« Oder<br />

man hört die Courage philosophieren: »Wenn<br />

man die Großkopfigen reden hört, führens die<br />

Krieg nur aus Gottesfurcht und für alles, was<br />

gut und schön is. Aber wenn man genauer hinsieht,<br />

sinds nicht so blöd, sondern führen die<br />

44 45<br />

Abb.<br />

S. 37<br />

Abb.<br />

S. 37<br />

Abb.<br />

S. 38<br />

Abb.<br />

S. 39<br />

Abb.<br />

S. 23


Adolf Dresen<br />

Der Stein beginnt zu reden<br />

Krieg für Gewinn.« Sie setzt dann fort: »Und<br />

anders würden die kleinen Leut wie ich auch<br />

nicht mitmachen.« Die »Großkopfigen« können<br />

der Courage, was die Interessen betrifft,<br />

nichts vormachen – ihr Irrtum ist es nur, daß<br />

auch sie am Krieg verdienen könnte. <strong>Heisig</strong> ist<br />

eine Generation jünger. Er hat die durchschlagende<br />

Wirkung der Massenpropaganda und<br />

der Bewußtseinsindustrie am eigenen Leib<br />

erfahren. Er weiß, daß der »Glaube« durchaus<br />

geglaubt wird. Er hält sich nicht für klüger als<br />

es die Courage ist. Das Ideologische wird von<br />

den meisten der kleinen Leute immer weniger<br />

durchschaut, und das ist vielleicht das Problem<br />

unserer Zeit. Sich dem Gedröhn der Lautsprecher<br />

und dem Geratter der Rotationsmaschinen<br />

zu entziehen, wird immer schwieriger.<br />

Das Dickicht der Meinungen und Gegenmeinungen<br />

wird immer undurchdringlicher. Auch<br />

Brecht schwor einst auf eine Idee, die heute,<br />

nach dem Zusammenbruch des Ostblocks,<br />

ihren Kredit verloren hat. Was würde er heute<br />

sagen? Fände er auf dem Boden noch einen<br />

Stand, den er einmal für fest hielt?<br />

<strong>Heisig</strong> dagegen verwirklicht kein Konzept, er<br />

konstruiert nicht, er holt das Bild aus dem<br />

Stein heraus, wie er auch das Ölbild aus der<br />

Leinwand herausholt. Es bildet sich gewissermaßen<br />

selbst aus Flecken und Strichen, es<br />

kommt aus dem Chaos, und die Spur des Chaos<br />

haftet ihm noch an. Vielleicht kommt es nie<br />

ganz ans Licht, doch das schadet nicht – im<br />

Gegenteil. <strong>Heisig</strong> schmiert es einem nicht aufs<br />

Brot. Er beläßt einen nicht in der Passivität<br />

eines Konsumenten. Man muß selbst einiges<br />

in das Bild hineinsehen, manchmal vielleicht<br />

sogar das Wichtigste. Man muß es ergänzen,<br />

es gewissermaßen fertig malen. Da ist eine<br />

Beziehung zum Partner, die diesen an der<br />

Erzeugung selbst beteiligt, ihn zum Mitschöpfer<br />

macht – und darin vor allem liegt die Lust<br />

an der Kunst. Er hat keine Lehre bereit, er will<br />

höchstens hinaus auf ein Symbol, ein Zeichen,<br />

das in unserer kahlen Zeit so schwer zu haben<br />

ist und das er sich manchmal, wie Beckmann,<br />

aus älteren Zeiten borgt. Wie <strong>Heisig</strong> die Dinge<br />

nicht aus einem System von Ideen, sondern aus<br />

unbekanntem Urgrund holt, sieht man auch an<br />

seinen 20 auf Umdruckpapier gezeichneten<br />

Lithographien, Vorstudien zur »Courage«-Folge<br />

mit einem eigenen Wert, Porträts der grinsenden<br />

Courage, der Lagerhure Yvette, des betenden<br />

und fressenden Pastors; er zeichnet auch<br />

Szenen, die Brecht nicht schrieb, wie die Verwundung<br />

der Kattrin und die Hinrichtung Eilifs<br />

– alles Annäherungen, aber schließlich ist das<br />

Ganze eine Annäherung.<br />

Irgendwann werden die Evangelischen, mit<br />

denen Courage und ihr Anhang bisher marschierten,<br />

besiegt, und eine andere Fahne wird<br />

aufgezogen. Ein Einäugiger taucht auf und<br />

fahndet nach der Regimentskasse der Besiegten.<br />

Der ehrliche Schweizerkas, den die Mutter<br />

nicht aus dem Krieg heraushalten konnte, versteckt<br />

sie, wird aber erwischt, erschossen, der<br />

Mutter zwecks Identifikation vorgeführt – sie<br />

verleugnet ihn, und er wird auf den Schindanger<br />

geworfen. Vor Ingolstadt dann wird die<br />

stumme Kattrin, als sie für ihre Mutter Einkäufe<br />

erledigt, von einem Soldaten im Gesicht so<br />

verletzt und entstellt, daß sie, die Kinderliebe,<br />

für ihr Leben keinen Mann bekommen wird. Die<br />

Courage, die im Geschäft gerade etwas Glück<br />

hat, meint dennoch, der Krieg habe sein Gutes.<br />

Dann erwischt es auch ihren kühnen Sohn Eilif,<br />

auch er wird erschossen – sie erfährt es jedoch<br />

nicht und glaubt bis zuletzt, sie würde ihm<br />

wieder begegnen. Schließlich belagern die<br />

Truppen die Stadt Halle: sie soll im Schlaf<br />

überrumpelt werden, daher ist im Lager Stille<br />

nötig; als die stumme Kattrin hört, daß in der<br />

Stadt alles niedergemacht werden soll, auch<br />

die Kinder, klettert sie auf ein Dach und<br />

schlägt die Trommel; die Soldaten drohen,<br />

Abb.<br />

S. 38<br />

Abb.<br />

S. 40<br />

Abb.<br />

S. 41<br />

Abb.<br />

S. 40<br />

Abb.<br />

S. 41


legen schließlich auf sie an und schießen sie<br />

herunter. Brecht selbst überschreibt die Szene:<br />

»Der Stein beginnt zu reden.« Das geschieht<br />

im äußersten Fall. Der tiefste Grund ist<br />

erreicht. Das Mädchen, Krüppel von Kind an,<br />

die ganz und gar Hilflose, ist nun gerade die,<br />

die anderen Hilfe bringt. Die ganz und gar<br />

Wehrlose wehrt sich und tut etwas wahrhaft<br />

Heldenhaftes. Wo nur noch geschrien werden<br />

kann, beginnt sie, die Stumme, zu schreien.<br />

Darin kulminiert sowohl Brechts Stück wie <strong>Heisig</strong>s<br />

Bilderfolge. Es vertritt da eine nicht ihre<br />

Interessen, ja handelt gegen ihr ureigenstes<br />

Interesse. Es kostet sie, und sie weiß es, das<br />

Leben, an dem sie trotz allem hängt. Brecht<br />

aber schreibt ihr letztlich einen Sieg zu, vielleicht<br />

den einzigen in diesem Stück: sie rettet<br />

die Kinder der Stadt Halle. Es ist Brechts<br />

schönste und tiefste Szene, die, bei der ich<br />

viele Zuschauer habe weinen sehen – was, wie<br />

gesagt, der Theorie widersprach. Es kommt<br />

aber wohl immer noch darauf an, worüber man<br />

weint, und das Stück ist da wahrscheinlich klüger<br />

als die Theorie, vielleicht klüger als der<br />

Autor. Das ist für ihn keine Schande, vielleicht<br />

macht gerade das den Dichter aus. Brecht<br />

schrieb einmal einen großen Essay über die<br />

»Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der<br />

Wahrheit« – die Schwierigkeit, die Wahrheit<br />

erst einmal zu entdecken, kommt darin gar<br />

nicht vor. Er hielt die Wahrheit über die Verhältnisse<br />

der Menschen für erkannt. Er hat sich<br />

geirrt, jede Wahrheit ist endlich. Mich interessiert<br />

heute weit weniger, was der Autor wußte,<br />

als was er nicht wußte. Nicht die endliche<br />

Wahrheit ist das Wichtige, sondern wie man<br />

sie immer neu findet. <strong>Heisig</strong> wollte nicht klüger<br />

sein als seine Bilder. Auch sein Bild der<br />

trommelnden Kattrin überschreitet die Grenzen<br />

der Malerei und zeigt, wie eine Lärm<br />

macht – doch ist es das gerade Gegenteil der<br />

anderen Lärmbilder <strong>Heisig</strong>s. Die Stumme hat<br />

jetzt sogar den Mund geöffnet, man hört sie<br />

fast in die Dimension vorstoßen, die ihr doch<br />

verschlossen ist, die der Sprache, und sie blickt<br />

dabei nahezu dem Betrachter ins Gesicht. Hier<br />

schlägt nicht nur eine Trommel, sondern ein<br />

Herz.<br />

Das letzte Bild der Folge zeigt wieder die Courage,<br />

nun allein ihren Planwagen ziehend, folgend<br />

den immer zerlumpteren Heeren »Nehmts<br />

mich mit!« Sie hat, wie Brecht betont, nichts<br />

begriffen – es kommt ihm allein darauf an, daß<br />

der Zuschauer begreift. Der kann jedoch durchaus<br />

mehr begreifen, als da gelehrt wird – und<br />

eben das ist es, worin Dichtung lebendig bleibt,<br />

auch über den Autor hinaus. Das gilt auch für<br />

Brecht. <strong>Heisig</strong>s Blick kann dazu helfen. Brechts<br />

»Mutter Courage« eröffnete nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg die vielleicht glänzendste Epoche des<br />

deutschen Theaters zuerst im Osten, dann auch<br />

im Westen. Es kommt auch auf das Theater an,<br />

diese Epoche nicht verloren zu geben.<br />

46 47<br />

Abb.<br />

S. 42


Impressum<br />

Elend der Zeit II<br />

Kabinettdruck 17<br />

Edition <strong>Brusberg</strong> <strong>Berlin</strong> 2001<br />

aus Anlaß der Ausstellung<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Heisig</strong><br />

»Der Maler und sein Thema«<br />

Bilder auf Stein und Leinwand<br />

vom 3. Februar<br />

bis 21. April 2001<br />

Galerie <strong>Brusberg</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Kurfürstendamm 213<br />

D-10719 <strong>Berlin</strong><br />

Gestaltung<br />

gleis 7<br />

visuelle kommunikation<br />

Bernd Franck, Düsseldorf<br />

Reproduktionen<br />

Frenzel + Heinrichs, Hannover<br />

Druck<br />

Primedia Th. Schäfer GmbH,<br />

Hannover<br />

Werkfotografien<br />

Bernd Kuhnert, <strong>Berlin</strong><br />

Copyright<br />

Galerie <strong>Brusberg</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Auflage 2111 Exemplare<br />

davon sind 111 Exemplare<br />

numeriert<br />

Dieses Exemplar<br />

trägt die Nummer<br />

Kerstin Decker<br />

1962 geboren in Leipzig, lernte<br />

Verkäuferin, studierte Journalistik<br />

und Philosophie, promovierte,<br />

kehrte der akademischen Welt den<br />

Rücken und arbeitet seither als<br />

Reporterin, Kolumnistin, Filmund<br />

Theaterkritikerin, vor allem<br />

für den »Tagesspiegel«. Lebt in<br />

<strong>Berlin</strong>.<br />

Adolf Dresen<br />

1935 geboren in Eggesin. Studium<br />

der Germanistik in Leipzig; Regisseur<br />

in Magdeburg (1959–62),<br />

in Greifswald (1962–64) und am<br />

Deutschen Theater in <strong>Berlin</strong><br />

(1964–77), 1977–1981 am<br />

Burgtheater in Wien; 1981–85<br />

Schauspieldirektor der Städtischen<br />

Bühnen in Frankfurt a. M.;<br />

seit 1985 freischaffend, vor allem<br />

als Opernregisseur, u. a. Hamburger<br />

Staatsoper, Opernhaus<br />

Brüssel, Wiener Staatsoper;<br />

es erschien u. a.: Siegfrieds<br />

Vergessen: Kultur zwischen Konsens<br />

und Konflikt (<strong>Berlin</strong> 1992).<br />

Lebt in Leipzig und <strong>Berlin</strong>.<br />

Herbert Kreppel<br />

1934 geboren in Wien. Jura-Studium,<br />

zugleich Reinhardt-Seminar.<br />

Erstes Engagement am Theater in<br />

der Josefstadt, Wien; inszeniert<br />

danach u.a. in Heidelberg,<br />

Wiesbaden, Frankfurt, Stuttgart,<br />

Hannover (dort auch Schauspieldirektor),<br />

Hamburg, Basel, Wien,<br />

<strong>Berlin</strong>, München... Zahlreiche<br />

Übersetzungen und Stückbearbeitungen.<br />

Lebt in München.

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